4. Mimesis
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Kritik des Theaters (04/2013)
»Wenn der Weise auf den Mond deutet, schauen die Narren auf die Fingerspitze.«
Chinesisches Sprichwort
Die postmodernen Einwände gegen die Arbeit der Mimesis lauten im Kern ihrer zahlreichen Variationen: Die Theatralisierungen laufen spätestens seit der Moderne den Möglichkeiten des Theaters den Rang ab. Die Auflösung von Handlungen in performative Aufführungen findet ihre ästhetische Vollendung in der Befreiung von Referenzen auf die Realität und der Erfindung komplexer Spiele der Selbstreferenz. Und schließlich übersteigen die Erschütterungen der Realität, die die Massenmedien sekündlich übermitteln, das kathartische Potenzial des Theaters. Stattdessen werden die vorbegrifflichen und vordiskursiven Eigenschaften aller Mimesis betont, »denn das Mimetische ist gerade das, was mit Hilfe eines begrifflichen Instrumentariums nicht zu bestimmen ist.«106 So wird die Mimesis von einer künstlerischen Befähigung zu einer Denkbewegung des Unabschließbaren, die im Theoriegebäude der Dekonstruktion eine wesentliche Funktion erfüllen soll. Mimesis wird wie Différance und Dekonstruktion zu einem Begriff, der seine eigene Begrifflichkeit negieren und dazu verhelfen soll, die »elements of non-intended signification«107 zu reformulieren.
Bei der Rückkehr eines solchermaßen postmodernen Begriffs von Mimesis in die künstlerische Praxis sind die Anteile der Darstellung und der Nachahmung verloren gegangen. Der Umbau der Mimesis zu einem Hilfsmittel der Dekonstruktion und sein Re-Import in die Kunst...