Wer hat damals meine Rolle gespielt?
von Milo Rau
Erschienen in: Die Enthüllung des Realen – Milo Rau und das International Institute of Political Murder (11/2013)
Wie alles mit mir losgegangen ist, weiß keiner, am wenigsten natürlich ich selber. Meine Eltern erzählen Geschichten (entweder haltlose Propaganda oder üble Nachrede), die Fotografien zeigen durchaus charmante, aber von der eigenen Erfahrung völlig unabhängige Szenen. Meine Kinderfotos: Das alles ist passiert, als ich woanders war, man kann Kinder so wenig fotografieren wie die Irokesen. War ich jemals ein Jahr alt? Habe ich jemals auf den Schultern meines Vaters gesessen? Habe ich tatsächlich an der Brust meiner Mutter gelegen? Wer hat damals meine Rolle gespielt?
Aber von Anfang an erinnere ich mich an die Bücher und an die Dinge, zusammenhangslos, ich erinnere mich an eine ständige Übersteigerung des Ich, an eine Art Heroismus der Erfahrung. Alles war hautnah, von Kollektivkräften durchzogen, von schmeichelhaften Drohungen und bitteren Versprechungen umstellt – eine futuristische Zeit. Mit sieben, acht Jahren war ich der reine Held einer zukünftigen Geschichte, ich war Existenzialist voll und ganz.
Meine Mutter wurde nervös: Ihr Sohn hatte nur zurückgebliebene Kameraden, kräftige, treue und unbeschwerte Kinder, deren Eltern zu allem Übel auch noch rechtsradikal waren. Aber was sollte ich machen? Die intelligenten, sanften, bebrillten, nah am Wasser gebauten Kinder, die die Freunde meiner Eltern mitbrachten, ärgerten mich, sie drosselten das Tempo,...