3.2. Vertigo und Vertiko
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
In diesem Zusammenhang ist noch einmal die »vertiginöse Attraktion« des Barock von Interesse, vor der Benjamin im Brief über Cysarz warnt und die man auch als das »bezeichnende Schwindelgefühl, in das der Anblick ihrer (der barocken Epoche, S.K.) in Widersprüchen kreisenden Geistigkeit versetzt« übersetzen könnte, das am Schluss der »Erkenntniskritischen Vorrede« erwähnt wird (UdT 237). Denn mit dem »Vertigo« öffnet sich eine ganze Serie von Figuren und Begriffen, die für den Barock entscheidend sind. Ist »Vertigo« zunächst der medizinische Ausdruck für das Schwindelgefühl und die Gleichgewichtsstörung, jenen Moment also, in dem der sichere Standpunkt verloren geht, so bezeichnet er zugleich die Höhenangst, die auch der unglückliche Souverän auf der Spitze einer vertikalen Gesellschaftsordnung empfinden dürfte, bevor er in die Tiefe hinabstürzt. Nicht umsonst wird »Vertigo« einige Jahre nach Benjamin zum filmischen Fachausdruck für jene Kamerafahrt, die Alfred Hitchcock zum ersten Mal in seinem gleichnamigen Film benutzte: Es handelt sich um einen optischen, schwindelerregenden Effekt, bei dem die Kamera einerseits vom gefilmten Objekt wegfährt und andererseits während dieser Fahrt an das Objekt heranzoomt – die filmtechnische Version jener Doppelbewegung von Entzug und Anhäufung also, die, wie wir gesehen haben, am Beginn jedweder Barockdiagnose steht. Gleichzeitig ist »Vertigo« auch der Ausdruck für...