Buddha ist böse und Baal ein Baby
Erschienen in: backstage: HÜBNER (01/2023)
Assoziationen: Charly Hübner
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1.
Wir entscheiden uns für Leichte Mädchen. Sie sind süß und rund. Zum Anbeißen. So, wie man es an etwas anrüchigen Orten erwartet. Im Areal von Fischhallen und Fast Food, das den Blick auf die Elbe versperrt, wirken sie doppelt fein. Hinter uns, ein paar Steintreppen hoch, der Stadtparkmüll, vor uns diese beton- und blechgraue Hafenhandelsstimmung, und da inmitten des Geruchs von Arbeit und Wasser, fast wie ein Teil einer Fabrikhalle oder eines Schiffsdecks, das „Schmidtchen“, eines der besten Cafés von Hamburg.
Die Kellnerin: „Sind Sie nicht so ein Schauspieler?“
Charly Hübner: „Hm.“
Die Kellnerin: „Und was machen Sie dann hier?“
Charly Hübner: „Auch Schauspieler müssen ja mal was essen.“
Pause. Sie ist überzeugt und nimmt unsere Bestellung auf: zwei Leichte Mädchen, diese sehr besonderen Himbeertörtchen.
2.
Wir reden hier und auch noch in einer anderen „Schmidtchen“-Filiale, in Othmarschen. Wir reden, noch zwei Leichte Mädchen bitte, in Hamburg, schlendern Wochen später um den Bokeler See, unweit von Wacken, wo Hübner dreht: Er spielt die Hauptrolle in einem Film über das legendäre Musikfestival, er ist in seinem Metal-Element. An einem weiteren Tag treffen wir uns in der Kulturfirma „stück-werke“, auf der Fleetinsel im Herzen Hamburgs. Hübner liest bei Regisseur und Produzent Wolfgang Stockmann Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl als Hörbuch ein, Uwe Johnsons großen Roman. Ungekürzt. Wie schon Das dritte Buch über Achim – das RedaktionsNetzwerk Deutschland schrieb: „Äußerste Präzision, dabei aber mit dem Sinn fürs leicht ironische Augenzwinkern, das überall in dem Roman mitschwingt, ein akustischer Hochgenuss.“
Hübner verdrängt Raum, nicht um seiner selbst willen, sondern wegen der Luft, in die seine Gestalten hineinwachsen mögen. Luft für alles Menschenmögliche, Raum, darin sich Licht fängt und Staub; Raum, in dem nichts erfunden wirkt am Spiel, auch wenn es reine Fantasie ist. Logisch, dass dieser Nordmensch eines Tages zu Johnson finden musste. Zu den Kieseln, die eine Welt körnig machen. Kiesel aus Sprache, auf der man mit festen Beinen steht, aber auf Messers Schneide. Jedes Komma ein Grat; wo man stocken möchte, ist die Melodie ganz nahe. Ich sehe Hübner hinterm Kabinenglas des Studios, er liest, von Wolfgang Stockmann glänzend unmerklich gelenkt. Er geht neugierig über Eis. Niemals drauflos. Das Eis ist dünn, die Haut dieser Sprache noch dünner. Im Hübner-Ton hat die Johnson-Gegend sich gleichsam gefunden.
3.
Er kann in seinem Spiel bravourös stutzig sein, brummig stupide oder liebenswert betriebsselig, er kann mit Leib und Seele nach der Welt greifen und seinen plebejischen Realitätssinn wie selbstverständlich mit dem Grotesken kurzschließen: Charly Hübner, Gastwirtssohn aus Feldberg-Carwitz, Jahrgang 1972. Theater hat er wie manisch gespielt, Frankfurt am Main, Zürich, Köln, Einsatz ist alles; Fernsehen schien ihn dann noch manischer zu machen. So mählich wie unaufhaltsam sind Filme zum Hauptrollengebiet geworden, Theater wurde infolgedessen zum mehr und mehr wählerischen Part dieser künstlerischen Biografie. Seit Jahren am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Er singt (mercy seat – winterreise, eine Séance zwischen Franz Schubert und Nick Cave, mit dem Ensemble Resonanz, Kalle Kalima, Carlos Bica und Max Andrzejewski). Er schreibt (Charly Hübner über Motörhead – oder warum ich James Last dankbar sein sollte, ein Buch in der Reihe KiWi-Musikbibliothek, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch). Er drehte den Dokumentarfilm Wildes Herzüber die Punkgruppe Feine Sahne Fischfilet. Und wenn dieses Buch erscheint, befindet sich sein erster Spielfilm Sophia, der Tod und ich, nach dem Roman von Thees Uhlmann, auf der Schluss-Strecke zum Kinostart.
Ein Unermüdlicher? Eher einer, der sich für die natürliche Ermüdbarkeit lohnendste Gelegenheiten sucht.
Wenn über die Magie in einer Schauspielergeneration zu urteilen ist – Hübner steht zuvorderst und belächelt den interpretatorischen Fleiß, den er rundum auslöst. Der Ton – im Gespräch, im Beruf – ist fest. Absichtslos ernst. Der Ton kennt sich aus. Er weiß mehr, als er sagt. Er stammt nicht vom Verwöhnten. Er stellt sich gern unbeholfener, als er ist, weil er sicher sein will, dass er nicht klüger tönt, als er sein kann.
Einen „Wuchtschauspieler“ nennt Peter Kümmel in der ZEIT diesen Komödianten, „der dem Geist des Hardrock, der genussvollen Selbstverbrennung, sein Künstlerleben verdankt“. Seine Kunst: Höhenflüge im Höllentief. Noch eine Schleife Verlorenheit, noch eine Prise Verzweiflung, noch einen Humpen Witz. Am liebsten spielt Hübner wohl an jenem Schnittpunkt, wo die Spannung zwischen Eingelöstem und Ersehntem am unerträglichsten ist. Jenseits all der Kulturtechniken, mit der wir einander abdämpfen und abrichten.
4.
In schöner Freiheit ist er begeistert, er geht in jedem unserer Gespräche durch die neuere deutsche Theatergeschichte wie durch eine jederzeit geöffnete Galerie; da hat einer gesehen und gelesen, hat Mengen gelesen und gesehen, hat Bilder vieler Aufführungen mitgenommen, nun hängen sie, dicht an dicht, an den Wänden seiner Erinnerungsräume. Er schaut zur Garde der Barden auf, bestaunt Kollegenschaft von gestern und heute so, wie andere einen Joint rauchen. Schwärmen ist schön: als sei es ihm, dem längst Erfolgreichen, nach wie vor ein Traum, unerreichbar: Schauspieler zu werden.
Der Schauspieler redet nicht drauflos, aber die Worte gehen nach vorn, haben Lust auf Angespitztes, ich erfahre die Biografie eines Denkens, wahrscheinlich ist seit seinem ersten eigenen Buch der Sinn wacher geworden für die Beziehungen zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort. Noch sein Sprudeln weiß, es wird verschriftlicht, und ein Gespräch darf aufreizend springen, umkehren, galoppieren, stehen bleiben, ins Seitwärts weichen, ist keine (Auto-)Biografie, die auf Festschreibung aus ist; wir treffen uns in einer Werkstatt, in der probiert wird; Unterhaltung besteht auf ihrem Recht aufs Vorläufige, aufs Fragment, auf das, was morgen schon korrigiert werden könnte.
Wiederkehrend in den Gesprächen der Satz: Ja, darüber sprechen wir oft auch zu Hause. Der Beruf als Lebensstoff. Die Profession als Dauerzustand, der ins Private reicht. So entsteht Quicklebendigkeit in dem, was man tut. Und miteinander austauscht. Hübner ist verheiratet mit Lina Beckmann. Eine große Schauspielerin, die auf sehr eigene Weise nach Bitterstoffen im Fleisch von Komödien sucht, nach dem Witz in allem, was zum Weinen ist. Bleib bei mir, sagte sie ganz leise und stark und einfach in die Kamera einer TV-Talkshow, urplötzlich gefragt nach der größten Bitte an ihren Mann.
5.
Auf Anhieb vom Aufklärer Winckelmann auf Hübner hinzudenken, scheint unangemessen. Und doch … Als ich vor Jahren für ein Buch Gespräche mit dem Schauspieler Klaus Löwitsch führte, schrieb mir der Filmregisseur Egon Günther, und es ist einer der schönsten Texte über Schauspieler: „… wie Winckelmann glaube ich, dass der Erschütterung, die von geglückten griechischen Statuen ausgeht und empfunden wird, jene ‚edle Einfalt und stille Größe‘, aller guten Darstellung zugrunde liegt, und dass es den antiken Bildhauern um diesen einzigen, gewissermaßen zusammenfassenden Augenblick innerhalb von Bewegung ging – in dem alles in Balance, deshalb gut, schön und wahr ist. Vielleicht ist Spiel nichts anderes als die Suche nach Balance, Suche nach diesem einzigen Moment irrelevanter Länge, und Suche ist die Hauptsache, Verfehlung lässlich und sie ist also die wahre Eigenart des Lebens, das seine schäbigen Störungen schickt.“
Darum geht es: um Selbsterkenntnis, die der Körper ausspricht, darum also, da zu sein in jenem Maß, das einem gebührt. Inmitten dieser überall grassierenden ordinären Überprüfbarkeit der Dinge auf ihre Verwertbarkeit. Auf betörende Weise löst dieser Spieler Hübner sein Befinden in Bewegung auf, in sehr gemessen wirkende Bewegungen des ganz gewöhnlichen Stehens und Gehens, aber plötzlich oder ganz selbstredend sind es Bewegungen des Herzens. Das Herz kann stehen, und du denkst nicht an den Tod, es ist Leben.
Wo andere ihre Lebensgefühle performen, da latscht und lungert, da leibt und seelt er Existenz herbei. Er ist gern gärtnerisch fürs Unverblümte. Sein Körper ist gemacht fürs stämmig Offensichtliche, aber wir erahnen das Verborgene. Einige seiner Gestalten zündeln am Klischee: sogenannte einfache Menschen. Plötzlich die Erleuchtung: Einfache Menschen erzählen die kompliziertesten Verhältnisse. Etwa der Karl Schmidt im Film Magical Mystery von Arne Feldhusen, nach Sven Regener. Berührendes Porträt eines Einfältigen. Ein zarter Stier. Langhaarige Kraft eines Schwachen. Dessen Eingliederung in die Gesellschaft im Klartext bedeutet, wie Hübner selber sagt, „ihm eine Diele in die Seele einziehen, da soll er gefälligst drauf stehen – wo er doch endlich tänzeln möchte“.
Er ist ein Schauspieler, der keinem Autor und keinem Regisseur eine Lehre erlaubt, die aus seinen Figuren zu ziehen wäre. Ein Ambivalenzen-Artist: König und Kumpel, Prunkperson und Prolet, Banker und Bauer, Bulle und Bastard. Ein Luftgeist mit Schwergewicht. Er versucht nicht leichtfertig den Himmel und kann doch mit seinem Gesicht aus allen Wolken fallen. Er liebt die Breitseite, da ist viel Platz für die Kehrseite. Er kann auch sie spielen, die gallerten, galligen, schwammigen, abgefederten Typen, die eisig ihren großen, erfolgreichen Schnitt machen; das freilich können viele, er aber vermag das Entscheidende zu zeigen: dass der große, erfolgreiche Schnitt ein Schnitt durch die Seelenhauptschlagader ist. Die Regisseurin Karin Beier sagt: „Charly ist wahnsinnig geerdet, das merkt man sofort. Man merkt, dass er keinen verquasten Kopf zwischen sich und dem hat, was er tut.“
6.
Sein Kommissar Alexander Bukow im Polizeiruf 110 schrieb Fernsehgeschichte. Weil man diesen liebenswerten Undurchsichtigen, diesen Hartwie Weichgesottenen sah – und weitersah. Denn da schlug sich, im Anhauch, aus Rostock ein Bogen ins Ruchlose einer ganz anderen Welt. Einer Welt von Filmen vielleicht französischen Zuschnitts, alter Krimischule, in deren Geschichten jedes Herz ein blutendes wird, sobald man ihm zu nahekommt. Gewiss, nicht so unerreichbar genial wie das Muster von Melville oder Malle: Eine Zigarette drückt sich glühend in die Haut der Nacht, die schreit vor Schmerz ein Chanson, und von den Autoscheiben rinnt weiter und wieder das Regenwasser. Aber dennoch war der klassische Gangsterfilm gleichsam zu einem Abstecher nach Ostdeutschland aufgebrochen. Denn auch das biedere Rostock hat Vorhänge, mit denen sich die nackte Wahrheit vor den Zugriffen jener ordnenden, langweilig dominanten Ethik schützt, die mit ihren Sirenen Tatorte umheult. Während der Mörder geduldig darauf wartet, ein Mythos zu werden. Er ist es immer schon. Die Geschichten um Hübners Kommissar erzählten, wie der Ehrenkodex zwischen Polizisten und Gangstern sehr verschwommene Austauschgeschäfte betreibt.
7.
Charly Hübner in bislang zwei Inszenierungen von Frank Castorf, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg: wie Buddha und Baal; Buddha ist böse und Baal ein Baby. Manchmal herrlich maßlos im Verrat am Feinen. Und manchmal bietet der Darsteller stur eine irritierende Eindeutigkeit an, wie frohlockend festgeschraubt – aber kein Felsbrocken ändert seinen Standpunkt, nur weil wir Lust auf eine andere Aussicht haben.
Der haarige Affe von Eugene O’Neill und Der Geheimagent von Joseph Conrad. Es ist, als säße das Leben am Tisch und fräße mit Appetit seine eigenen Herzstücke. Hübner erzählt Amokläufe des Begehrens, spielt abgekämpfte Selbstausgräber, die das Grauen in sich entdecken. Spielen heißt, man treibt einander unzählige Philosophie-Nadeln ins Fleisch, bis das Fleisch aufhört, sich gegen die Wunden zu wehren. Des Schauspielers Tapsigkeit ist wie jener seidene Faden, daran ein Leben hängt, ein Faden, der so gern der Anfang einer Zündschnur wäre.
Seine räudigsten Rollen haben Fühlung zu den Rissen der Welt. Die Finsternis, das ist ein Leben, wo es zum Schwersten wird, sich in die Stimmgabel des Seins einzuschwingen und seinen eigenen Ton zu erwischen. Solchem Ton ist Charly Hübner auf der Spur.