Wider Textprimat und Reinheitsideal
von Rainer Simon
Erschienen in: Recherchen 101: Labor oder Fließband? – Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern (02/2013)
Die Kombination verschiedener Kompositionen, Texte und Musikformen begreift David Moss als die leichteste Übung für traditionelle Opernbetriebe. Allein der Zeitmangel könne die freien Collageverfahren, die eigentlich seit dem Bestehen der Oper zu deren genuinen Techniken gehörten, erschweren. Ein gut bemessenes Zeitkontingent stellt freilich eine notwendige, mit Sicherheit aber keine hinreichende Bedingung für einen freien Werkumgang an Opernhäusern dar. Die Äußerungen der anderen Befragten lassen darauf schließen, dass die freien Collageverfahren nicht nur am Zeitmangel sondern vor allem an gewissen traditionellen Vorstellungen und Überzeugungen von Musiktheater scheitern. Diese lassen sich auf die Nenner „Textprimat“ und „Reinheitsideal“ bringen. Auf das „Textprimat“ bin ich bereits im ersten Kapitel eingegangen.7 Das „Reinheitsideal“ ließe sich in einer Paraphrase von Barrie Koskys Äußerungen derart beschreiben, dass sich die kontinentaleuropäischen Kulturen der weltweiten Vermischungspraxis unterschiedlicher Musik- und Kunststile zugunsten von reinen Formen widersetze. Sowohl das „Textprimat“ als auch das „Reinheitsideal“ wirken effektiv an allen möglichen Produktionsschnittstellen von traditionellen Opernbetrieben. Sie nur als kleines Hindernis für einen freien Werkumgang zu begreifen, hielte ich für euphemistisch.
Zuvorderst schlagen sich Textprimat und Reinheitsideal in den programmatischen Vorstellungen der Künstlerischen Leitungen und somit in der Konzeption traditioneller Spielpläne nieder. Für gewöhnlich nimmt die traditionelle Programmierung ihren Ausgang bei der Auswahl...