Der Realismus ist tot
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Lob des Realismus – Die Debatte (09/2017)
Realistische Kunst stand zu allen Zeiten quer zu den Kollaborationen von Ästhetik und Macht. Die Kunst war immer dann realistisch, wenn sie wie in der Tragödie die Grenzen ritueller Gesellschaften zeigte oder wie im bürgerlichen Trauerspiel die Opfer feudaler Ruhmsucht. Mit dem Beginn der Moderne hat der soziale Realismus die Ausgebeuteten auf die Bühne gestellt und einem bürgerlichen Publikum vorgeführt, das sich lieber an sich selbst leiden gesehen hätte. In unserer Zeit könnte ein zeitgemäßer Realismus den Umbau der Welt zum Marktplatz oder des Menschen zum Unternehmer seines eigenen Lebens kritisieren. Doch heute ist der Realismus tot.
Spricht man heute von Realismus, ist damit in der Regel eine kommerzielle Technik gemeint, bei der die Kunstbetrachtung zum Konsum wird, der ein möglichst rauschhaftes und folgenloses Erlebnis verschafft. Realismus meint heute fast immer Hollywoodfilme oder den Unterhaltungsroman.
Realismus als ästhetische Kategorie hat hiermit wenig gemein, da durch ihn eine dialektische Bewegung ins Kunstwerk gebracht wird. Dialektik zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine doppelte Unterscheidung trifft. Es gibt den Widerspruch, und es gibt das Gemeinsame, das den Widerspruch begründet und durch ihn auseinandertritt. Anspruchsvoll wird diese Denkbewegung dadurch, dass in ihr erkennbar wird, inwiefern sich das Gemeinsame und der Widerspruch gegenseitig bedingen....