III. Texte aus Probenprozessen II: Pluralisierung von Autor*innenschaft
Die Verlängerten
Sozialisierung von Autorschaft im Theater
von Kai van Eikels
Erschienen in: Recherchen 155: TogetherText – Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater (12/2020)
I. Autorschaft und Zusammenarbeit: Das alte Modell mit seinen Folgen
Das Performative hat im Theater seinen Ort traditionellerweise dort, wo ein Text, den ein*e Dramatiker*in verfasst hat, zur Aufführung gebracht wird von einem Ensemble aus Schauspieler*innen mithilfe von Personen, die Regie, Dramaturgie, Bühnenbild, Kostüme, Licht, Sound usw. übernehmen. Diese Tradition geht auf die Literarisierung des Theaters im späteren 18. Jahrhundert zurück: Das Schreiben des Stückes gilt seither als schöpferischer Akt, als Urhebung eines künstlerischen Gebildes, das als solches, als Text, für sich bestehen kann. Wie bei Romanen, Kurzprosa oder Gedichten gäbe es auch eine Performativität des Textes zu entdecken, die sich in der Lektüre zuträgt, und auch diejenigen, die eine Aufführung erarbeiten, sind zunächst Lesende. Den Theaterleuten obliegt es dann jedoch, diesen Text in Performance zu überführen, und dazu muss man ihn erst einmal aus seiner literarischen Selbständigkeit herausholen, eine Reihe subtiler oder auch recht brachialer Profanierungen mit ihm vollziehen, bis die Satzmasse zum Material für eine Theateraufführung taugt. Selbst die ›textgetreuste‹ Inszenierung (was immer diese Abonnentenvokabel besagt) muss die Performativität des Textes, wie sie im Lesen zur Wirkung kommt und sich der reflexiven Lektüre erschließt, verdrängen, aus dem Feld drängen und ein anderes Performatives an deren Stelle setzen.
Die Körper der Performer*innen können den Text nicht lesen – oder sie sollen ihn nicht lesen können, denn in den Theaterarbeitsverhältnissen findet eine Auseinandersetzung mit der unverhältnismäßigen Autorität statt, die dem oder der Unterzeichnenden des Textes aus der gegenseitigen Verstärkung dreier Identitäten erwächst: der juridischen Identität des Urhebers (rechtliche Fiktion eines geistigen Eigentums1); der poetischen Identität des Verfassers (Fiktion einer Konvergenz zwischen der technischen Integrität des Werkes als nicht-kontingenter Zusammenhang seiner Teile und einer persönlichen, historisch-sozialen, biografisch verifizierbaren Lebens-Integrität); und der ästhetischen Identität des Wiedergängers (Rückkehr des ›toten Autors‹ als Gespenst in all dem, was mich aus dem Text anblickt wie ein Gesicht oder anspricht wie eine Stimme, die nicht bündig einem Erzähler oder einer dramatischen Figur zuzuordnen ist2 Ob im arbeitsteilig-kooperativen Fluss, ob in Reibungen, Krisen, Infragestellungen von Macht und Kompetenz, Debatten, kollektiven Aushandlungen oder Basta-Gesten, entthront der Probenprozess fortwährend den Autor. Eben weil ›der Autor‹ des Stückes etwas anderes ist als die biologische Entität seines Namens – weil er zugleich mehr und weniger ist als ein weiterer Körper: ein verkörpertes Übermaß an Zuständigkeit von der entnervenden Beweglichkeit eines Igels, den kein Hase überholt, der immerzu »Ich bin schon da« ruft –, muss ein ums andere Mal jemand aus dem Produktionsteam auf dem symbolisch-imaginären Herrschersessel Platz nehmen, um deutlich zu machen, dass der Platz tatsächlich leer ist. Und frei von Stacheln.3
Wie wir aus Klagen wissen, verletzt manche lebenden Autor*innen die Gewalt, die das Theater ihren Texten antut, zutiefst. Sie rennen wutschnaubend aus der Premiere oder schon der Konzeptionsprobe, ziehen Aufführungsgenehmigungen zurück, prozessieren, schimpfen in Interviews über die Missachtung, die Unfähigkeit oder den Unwillen, das von ihnen Geschriebene ernst zu nehmen. Andere tun sich erst gar keine Inszenierungen an, ertragen das Resultat gleichmütig, reagieren reserviert interessiert. Einige immerhin verstehen es, ein Genießen aus der Enteignung des Textes zu ziehen, diese als Entfremdung zu affirmieren, die auch literarisches Schreiben einem gesellschaftlich-ökonomischen Tausch aussetzt und so durchsetzt, dass es von einem metaphysisch imprägnierten dichterischen Schöpfungsakt zu Arbeitstätigkeit wird. So begrüßte Heiner Müller etwa die sekundengenauen Zeitvorgaben für zu sprechende Textfragmente, die er von Robert Wilson erhielt. Müllers Textpraxis – auch in jenen Stücken, die er als Werke eigener Geltung veröffentlichte – steht exemplarisch für den Wunsch des Autors, seinerseits den Platz zu verlassen, an dem eine Fiktion seiner Souveränität jeglichem realen Wirken vorausgeht. Müller bejahte die industrielle Matrix des Produzierens, zu der Staats- und Stadttheater in institutioneller Abkehr vom Handwerk halbwegs fortgeschritten war, weil das System der Teilarbeit hilft, kraft Zuteilung, d. h. durch äußerliche Bestimmung des Anteils am Prozess, einen endlichen, festen, den anderen substanzgleichen Körper zu konstruieren. Der Geist des Textes hält Einzug in die Fabrik, um sich dort zu allgemeinen Bedingungen beschäftigen zu lassen.
Das Theater antizipiert sich daher als Theatermaschine. Im strategischen Pakt mit dem, was beim industriellen Produzieren die Entfremdung vom handwerklichen Spezialismus abkoppelt und sie verallgemeinert, versuchte Müller der bürgerlichen Institution des Schauspielhauses, die man in DDR wie BRD subventionswürdig fand, eine proletarische Redeterminierung des Schreibens abzugewinnen. Während Bertolt Brecht in seinen Lehrstück-Experimenten mit Kurt Weill, Paul Hindemith und Hanns Eisler gerade die Spezialkompetenz des »Stückschreibers« und »Musikschreibers« als Beitrag zur Verfertigung von Übungen für Viele stark machte, ging es Müller darum, das falsche Allgemeine, die Universalität des Autor-Subjekts als Sprachrohr der Menschheit, abzustreifen vermittels der Gewalt eines einstweilen richtigeren Allgemeinen, das alle Tätigkeiten gleichermaßen auf ihr Entsprechen zur Fremdbestimmung entkleidet. Die Differenz zwischen Brecht und Müller zeigt zwei moderne Abzweigungen auf dem Weg aus einem bürgerlichen Konzept von Autorschaft, das Textproduktion mithilfe des geistigen Eigentums im Privaten einschließt und das Kollektive auf die Übermittlung des Produktes an die Öffentlichkeit beschränkt.4 Im Umgang mit Text auf Sichthöhe des gerade Machbaren, wie seine Auffassung vom Kommunismus überhaupt eine pragmatische war, suchte Brecht den Mystifizierungen von Autor-Subjektivität durch einen kollektiven Realismus von nützlicher Arbeit mit politisch-pädagogischem Mehrwert zu entkommen. Arbeitsteilung ist dabei die Grundlage für Zusammenarbeit, gerade auch für solche, die Nicht-Profis als Spielende und Singende involviert (»bei der aufführung des ›badener lehrstücks‹ hielten sich der stückschreiber und der musikschreiber auf der bühne auf und griffen dauernd ein«5). Müller hingegen interessierte der Effekt der Kollektivität auf sein eigenes Schreiben weit mehr als die konkreten Optionen des Zusammen. Die Fragmentierung des Selbst durch Einverständnis in entfremdete Arbeit gerät ihm im Text selbst zum Spektakel,6 weshalb die Stücke sich radikal lesen, mit dem eso-kapitalistischen Design-Theater Wilsons aber letztlich glücklicher kollaborierten als mit demokratisch kollektiven künstlerischen Arbeitsformen.7
Softere, das Bürgerliche eher modernisierende als im Namen der Moderne bekämpfende Ansätze, Autorschaft innerhalb einer Zusammenarbeit zu relokalisieren, findet man mittlerweile häufiger im Theaterbetrieb. Im Bestreben, harmonische oder halbwegs zuverlässig produktiv gespannte Text-Aufführungs-Beziehungen zu erhalten, etablieren Hochschulen und Häuser Routinen ›szenischen Schreibens‹, die Arbeit am Text und Erarbeitung der Aufführung mehr oder weniger parallel verfolgen. Egalitär kollektive Arbeitsweisen in der freien Szene praktizieren das ja bereits seit den neunziger Jahren, und die Popularität einiger dieser Gruppen hat mit gehöriger Verspätung die Staats- und Stadttheater darauf aufmerksam gemacht (beziehungsweise daran erinnert, dass in den Siebzigern und frühen Achtzigern auch an einigen städtischen Bühnen Experimente mit einer offener demokratisch organisierten Stückentwicklung stattfanden, denen es indes nicht gelang, den Status quo der Institution zu verändern). Organisatorisches Knowhow, das vom postfordistischen Teamwork gelernt hat, fügt dabei das Kooperative in eine Zeitlichkeit, die es dem Geschriebenen verwehrt, jemals ganz Text zu werden. Die Bewertungsdynamiken der work performance egalisieren die unterschiedlichen Eingaben in den gemeinsamen Prozess gemäß dem Prinzip des Generell-Vorbehaltlichen: Was immer jemand beiträgt, wird gewesen sein, was die Reaktionen der anderen daraus zu ziehen vermögen.8 Das hält das Literarische im Modus des Skripts zurück und legt andererseits nahe, Geskriptetes im Feedback auf dessen Gespieltwerden zu entwickeln. Schreiben sieht sich ebenso als Reagieren bestimmt wie Regie, Dramaturgie, ein mal mehr, mal weniger improvisierendes Schauspiel und die Gestaltung von Raum, Kostümen, Requisiten, Licht und Sound. Im optimalen Fall verhalten die Schreibenden sich wie Mitglieder des Ensembles, als Texteur*innen oder Texturg*innen.9
Ulf Schmidt drängte 2013 mit dem Vorschlag, einen Writers’ Room einzurichten und Theaterstücke ähnlich zu verfertigen wie Serien für Pay-TV oder Streaming-Dienste, auf Annäherung des Theaters an die entschiedener industrielle Filmproduktion.10 Das Format der Serie führte dazu, auch die Instanz aus screenwriter und director, die dem klassischen Kino noch eine Rückbesinnung auf bürgerliche Autorschaft eingepflanzt hatte, aufzugeben zugunsten flexibler Aufteilung der Zuständigkeiten, wechselseitiger Ergänzung, Abstimmung gemeinsam und allein zurückgelegter Ausdenkstrecken sowie Personalrotation.11 Die erhofft lange, zum Zeitpunkt der Konzeption oft noch gar nicht absehbare Laufzeit der Serie entzieht das Produkt der subjektiven Kontrolle. Für eine Welt, in der viele Zuschauer*innen unterschiedlicher Herkunft, Bildung und Erwartungshaltung imaginativ viel Zeit verbringen können, kommt es darauf an, sie multiperspektivisch zusammenzusetzen. Das Serien-Universum ist nicht die andeutende Ausfaltung einer einzigen Idee, sondern plural-synthetisch, eine offene Ansammlung von infrastrukturellen, figurativen, narrativen, affektiven und ästhetischen Aspekten, die geschrieben werden wie Programmcodes mit Hinweisen für zukünftige Generationen von Programmierer*innen. Text meint dann auch beim Drehbuch nicht mehr nur den quasi magischen Vorgang schreibender Verfügung über fiktionale Realität (ein hingeschriebener Satz zeitigt in einer materiell kommenden oder von einer Einbildung aufgerufenen Zukunft Wahrscheinlichkeitseffekte). Der Text dient zugleich zur Aushandlung eines kollektiv bewohn-, bespiel- und verwaltbaren Vorstellungszeitraumes; er führt sein Gebrauchshandbuch, seine Versionsliste, die Protokolle der Debatten, die Entscheidungen ergeben haben, mit sich.
In Angelegenheiten des Theatertextes hieße eine solche Pluralisierung, das fragmentierte, verweigerte oder wider besseres Wissen doch noch einmal geschriebene Drama durch Episoden zu ersetzen. Man verabschiedet die Form, die seit der antiken Tragödie durch schicksalhafte Intervention eines Außerzeitlichen in den Zeitverlauf entsteht und an der sich die Moderne negativ abarbeitet – jedoch nicht für die ›postdramatischen‹ Spiele ironisch-reflexiver Selbstunterbrechung, sondern für diverse, nach Belieben und Gelegenheit kollektive Synchronisierungen mit einem Weitergehen. Schreiben produziert Text für ein Theater, das von der Dauer dieses Weitergehens zweierlei lernt: Erstens, dass Zeit für Leute unterschiedlich vergeht, mit zwar umgreifend normierten Temporalhorizonten, aber nur ab und an einander flüchtig schneidenden Erlebenslinien, und die wenigsten Leben um große, ein Volk, eine Nation oder gar die Menschheit rüttelnde Ereignisse gefügt sind. Die meisten Leute haben eine sehr entfernte, mittelbare Beziehung zum großen Ereignis, und ihre Treue ist im Zweifel eher die zu dieser Mittelbarkeit (eben das macht sie zu Leuten). Zweitens, dass etwas, das in einer Serie geschieht, stets im Hinblick auf die Möglichkeit erdacht werden sollte, die Gegenwart des Erdenkens zu überdauern. Die Frage »Was wird aus ihr?« stellt sich bezüglich der Figur einer Serie in einem anderen Sinne als im Drama, denn die Zukunft der Serienproduktion stellt erst noch heraus, was überhaupt Konsequenzen gehabt haben wird. Die Serienerzählung steht dem Leben der Leute darin nahe, dass in der jeweiligen Gegenwart des Handelns oder Unterlassens niemand dessen Folgenreichtum oder -armut kennt.12
Ob Serie oder einzelnes Stück, Schreiben für ein Theater, das sich auf schicksalloses Weitergehen einlässt, gleicht einem Forschungsprozess, insofern es die Ergebnisse seiner Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Zustand der Sprache in eine experimentelle Objektivierung investieren muss, um zu ermitteln, was sie für die Welt ausmachen, welche relevanten Unterschiede die gefundenen, für richtig befundenen sprachlichen Wendungen materiell machen.13 Die Spiegelung des Selbstverständnisses in dem von Forschung könnte langfristig die wirksamste Abweichung vom Status quo bürgerlichen Literatentums ergeben, denn sie koppelt die Theatertexteffekte von der selbstgenügsamen, als autonom durchs Gesellschaftliche geboxten Fiktion ab – und zwar nicht etwa dadurch, dass die Schreibenden zu erfinden aufhören, sondern mittels der ethisch-politisch belangbaren Prüfungen körperlicher Konsequenzen, denen Aufführen das Erfundene unterzieht. Einige der vehementesten Theaterdebatten der letzten Jahre betrafen die marks on bodies, wie künstlerische Entscheidungen über Verkörperung von Texten sie hinterließen, vom Blackfacing bis zu den Versehrungen, die Frauen als Material männlicher Regie erlitten. Die kritisierten Theatermacher*innen bewiesen mit Pauschalapologetik im Namen einer »Freiheit der Kunst«, wie wenig sie bereit waren, der körperlichen Wirklichkeit ihrer Arbeit einen Status zuzugestehen, der nicht der souveränen Herrschaft des Werks (und der vom Werk zu seiner Vertretung Ermächtigten) unterstand.14 Als dehne die strukturale Schließung des Werk-Textes sich selbstverständlich auf die Aufführung samt allen Beteiligten aus, wurden schon historische Informationen zu einer Verkettung verwendeter Zeichen mit Realitäten außerhalb der fiktional angerichteten als Zumutung empfunden. Hier weist die Zeit des Weitergehens dem Theatertext einen zugänglicheren Ort an: Wo kollektive Arbeitsweisen das Schwebende, die ästhetische Qualität des Textgewebes, von der trivialisierten Romantik eines bombastischen Augenblicks befreien, dessen Integrationsgewalt Verbindungen zur Vor- und Nachwelt kappt, dürfen die Körper eigene Anamnesen ins Theater mitbringen und daraus mitnehmen. Die Aufführung ist nicht mehr ein vom Politischen ins Ästhetische übertragener Ausnahmezustand; sie testet Text auf dessen mattering, und die Testreihen tragen sich ein in ein Spektrum performativer Wirklichkeitsermittlungsverfahren, deren Kriterien ästhetische und ethisch-politische Bezüge in provisorischer Moderiertheit oder im Widerstreit zeigen.
II. Autorschaft in Zusammenarbeit: Ein neues Modell
Ich möchte noch einen anderen performativen Zugang zum Theatertext vorschlagen, der sich ebenfalls in eine Zeitlichkeit des Weitergehens einlässt beziehungsweise sich aus dieser Zeitlichkeit ergibt: Fürs-Theater-Schreiben sozialisieren in einer Perspektive, für die der Text nicht das kommende Werk darstellt und ihn zu schreiben nicht die Initiierung eines schöpferischen Projektes verlangt, sondern Schreiben immer schon die Weiterführung eines Schreibens meint. Eine Schreibweise, einen Stil und seine Weltverarbeitungsmodalitäten sozialisieren. Was ich damit im Sinn habe, setzt Schreiben einer Dynamik aus, deren together eine von arbeitsteiligem Kooperieren verschiedene Kollektivität impliziert. In Begriffen des Ökonomen Edward Wakefield aus dem 19. Jahrhundert könnte man sagen, dass es sich eher um simple cooperation als um complex cooperation handelt.15 Alle Beteiligten arbeiten am Selben, und indem es unentwegt in fremde Hände gelangt, unterliegt das Text-Selbe Veränderungen ähnlich einem schweren, aber weichen Gegenstand, den eine Anzahl Tragender über unebenes Gelände bugsiert.
Die mediale Infrastruktur für diese Zusammenarbeit entspräche ungefähr der eines Wikipedia-Artikels. Anstelle des Writers’ Room, wo diejenigen, die eine institutionelle Instanz für das Projekt engagiert hat, sich regelmäßig versammeln, verfertigt den Text ein to whom it may concern-Kollektiv von defaultmäßig Einzelnen, die aus ihren jeweils eigenen Motiven mitschreiben, wann und in welchem Umfang es ihnen gefällt. Statt neue Autorschaften auszubilden, geht es darum, leidlich guten alten Theaterautor*innen ein Weiterschreiben zu besorgen – wobei ›gut‹ einfach heißt: geschätzt von hinreichend Vielen, um in verteilt-kollektiver Schreibtätigkeit weitere Stücke zustande zu bringen. Die Kriterien des Guten sind ebenso vorbehaltlos zu sozialisieren wie das Schreiben selbst. Wir können davon ausgehen, dass beispielweise die Supplementierung von Thomas Bernhards Œuvre jede Menge Mitwirkende findet. Heiner Müllers Hamletmaschine wird quasi automatisch eine Serie von Versionen ihrer selbst herstellen. Noch spätere Texte Becketts könnten die Reduktion von Handlung und Situation, die sein Spätwerk auszeichnet, noch weiter ins Extrem treiben, und womöglich sehen wir in einem Sequel von Waiting for Godot den Titelhelden unverhofft kommen, nachdem Vladimir und Estragon es aufgegeben haben zu warten (oder erfahren in einem Prequel, wie es zu der glücklosen Verabredung kam). Entwicklungen wie jüngst im Zusammenhang mit der Verleihung des Nobelpreises dürften einen Handke mit dem Titel Selbstbeschimpfung produzieren, in dem ein zu Unrecht Geehrter sich für seine Genozidleugnung geißelt. Und dem Heer der Elfriede Jelinek-Stücke mag es dank Rekrutierung hunderter frischer Texteinspeiser*innen schließlich gelingen, die elende Realität so aggressiv von allen Seiten zu bedrängen, dass sie an einer entscheidenden Stelle nachgibt.
Der Vorschlag geht aus von der Beobachtung, dass die Qualität guter Theaterautor*innen der vergangenen, hier und da noch sich gegenwärtig hinziehenden Epoche in einem Sprech besteht. Nicht Welt packende Fabeln, Zusammensetzungen von Handlungen zu einer logisch überzeugenden, suggestiv mitreißenden, signifikant gebrochenen oder bestürzend abgründig selbstreflexiven Handlungs-Form machen ihren Beitrag zur Genealogie des Theatertextes aus, sondern ein Stil, ein Wie des Sprechens, aus dem auch Haltungen, Krümmungen, Gesten, Formen der Bewegung und des Erstarrens hervorgehen (und in das wiederum performances früherer Stücke eingegangen sind, denn diese Autor*innen gehören zu denen, die ins Theater gehen, um zu sehen, was das Theater aus ihren Drucksachen macht – mitunter unterhalten sie zu bestimmten Regisseur*innen und Schauspieler*innen stimulierende Arbeitsbeziehungen). Mein Vorschlag sieht es darauf ab, so einen Stil wirklich als Beitrag zu würdigen, nicht lediglich als persönliche Errungenschaft, die unveräußerliche Eigenschaft bleibt. Er nimmt Gabriel Tardes Empfehlung, sich mit der sozialen Pervasivität von Formen zu befassen,16 als organisatorischen Auftrag: Sorgen wir dafür, dass das Wie, das Wissen um Einsehbarkeit und Bewirkbarkeit, das jemand einer Sprache abgewinnen konnte, gesellschaftlich zirkuliert! Schaffen wir Voraussetzungen für Partizipation an diesem Wie!
Das zieht einen Typ von Theatertext, in dem es der Sprache vergönnt ist, ein Stück weit ihr Eigenleben zu führen, einem Typ von Theatertext vor, dessen Poetik Sprache funktionalisiert als psychologisch plausible Personenrede oder atmosphärisches Werkzeug. Es hält die well-made plays des angloamerikanischen Theaters, die nett übersetzt an Bühnen weltweit kurz erfolgreich sind, ehe sie in Hollywood-Drehbüchern münden, für anachronistisch (oder schlicht doof). Es besteht darauf, dass es so gut wie keine zeitgemäßen Dramen des späteren 20. Jahrhunderts gibt, wenn Drama von dran, handeln, kommen soll. Das Handeln hat seit den sechziger Jahren in der Performance Art ein besseres Live-Format. Müller, Bernhard, Jelinek, Botho Strauß, Peter Handke, Werner Schwab, Einar Schleef oder auch Jean-Marie Koltès und Sarah Kane – diejenigen, die ihr literarisches Ringen mit einer widerspenstigen Gegenwart ganz oder zu einem Teil dem traditionellen Sprechtheater gewidmet haben und damit einem größeren Publikum bekannt geworden sind, hinterlassen uns einen episodisch in Gestalt gebrachten, wesentlich extensiven Text mit charakteristischem Ton. Was die Leute kennen, was ihnen körperlich in Erinnerung bleibt, was Text-Theater für das kollektive Gedächtnis letztlich ausgemacht haben wird, ist die rhetorische Signatur dieses Tons: der Müller-Sound, der Bernhard-Sound, der Jelinek-Sound … Und verdanken diese Autor*innen ihre Popularität nicht der Imitierbarkeit ihrer Satzproduktion, dem beflügelnden Gefühl des ›Das könnte ich jetzt auch so schreiben‹ nach einer Weile Lesen oder Hören im Theater, weitaus mehr als der Großartigkeit einzelner Stücke? Autorschaft in Zusammenarbeit, wie ich sie hier verstehe, unternimmt es, dieses Gefühl zu bewahrheiten. Angetrieben von einer Lust, wie Heiner Müller, wie Thomas Bernhard, wie Elfriede Jelinek zu schreiben, in der Ernst und Parodie, Ironisierung des Originals und Solidarisierung mit dessen eigner Ironie unauflöslich vermischt sind, macht das kollektive Unterfangen sich daran, den Text von Heiner Müller, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek weiterzuschreiben. Eine prozessuale Seriosität nimmt (und hebt) die Parodistik in sich auf.
›Weiter‹ heißt dabei, mit der Zeit zu gehen, aktuelle Themen aufzugreifen, Figuren in der Gischt des jeweiligen Weltgeschehens wahrzunehmen, noch mehr historische Personen ins Boot zu holen oder die Schemen aus dem Keller des Existenziellen um einige Exemplare zu erweitern, deren Gemeinheit, Verschrobenheit, Witz, Zartgefühl, Tiefsinn, Verzweiflung, Leere dem oder der verlängerten Autor*in Ehre gemacht hätte. Das meiste Was ergibt sich eh aus dem Wie (wie ja schon die Autor*innen selbst ihrem Stil den Löwenanteil inhaltlicher Wendungen entnahmen); den Rest fügen Phantasie, Nachrichten, der Weltsicht genehme Theoriebücher und die soziopoetischen Zufälle des Interagierens hinzu. Wie bei Wikipedia wäre früher oder später zu überlegen, wie viel Struktur das Verfahren braucht, um Ergebnisse zu liefern, mit denen die Mehrheit der Beteiligten glücklich sein kann – und wie wenig es haben darf, um eine demokratische Euphorie nicht schon im Keim zu ersticken (denn warum volkseigene Autorschaft, wenn eine kleine Gruppe selbsternannter Andenken-Verwalter mit ihren Administratorenrechten die Anerkennung oligopolisiert).17 Der politisch-ästhetische Erfolg ermisst sich wesentlich daran, inwiefern das, was dabei herauskommt, dem Versprechen einer Sozialisierung entspricht: Gelingt es, die Schreibweise Heiner Müllers, Thomas Bernhards, Elfriede Jelineks usw. zu einem common zu machen? Und von diesen commons ausgehend womöglich auch ein Schreiben zu verändern, das sich virtuell ein leeres Blatt hinlegt, um woanders mit dem Weitermachen zu beginnen?
Mithilfe einiger Tricks muss eine solche Praxis des Weiterschreibens den Angriffen des Urheberrechts ausweichen oder ihm massiv dreist trotzen. Ob die Autor*innen biologisch schon gestorben sind oder noch leben, sollte keine Rolle spielen. Schreiben ist, wie Derrida treffend gesagt hat, stets testamentarisch, der Autor für eine Lektüre immer schon tot, da die Schrift nur lesbar wird im affirmativen Bezug zur Abwesenheit des Schreibenden, zum Schweigen seiner lebendigen Stimme und dessen, was die an Gedanken verlautbaren könnte. Das Weiterschreiben missachtet die institutionelle Verschaltung von Werkverzeichnis und Biografie, Literaturtext und Lebenstext; es setzt sich hinweg über die kanonisierende Schließung eines Schriftkorpus, die dem zu Lebzeiten Veröffentlichten nur Texte aus dem persönlichen Nachlass hinzufügen will. Und schiebt die Verlängerung in den Rest Zeit, der ein ihrer für wert Befundener am Leben bleibt, hinein. Die Qualität vieler Autor*innen lässt schon vor dem körperlichen Exitus nach, und sie haben Grund zur Freude und Erleichterung, wenn andere rechtzeitig übernehmen. Wer noch den Mut, die Klugheit und Raffinesse aufbringt, sich mit den populären Fortschreibungen seiner Arbeit auseinanderzusetzen, profitiert für die eigene Schaffenscoda.
Andere werden zweifellos so protestieren, wie sie es auch gegen Aufführungen ihrer Stücke tun. Doch wenngleich die Kränkung sich für das Künstlerego identisch anfühlen mag, ergibt es einen anderen sozialen und ästhetischen Sinn, dass Zusammenarbeit bereits ins Schreiben interveniert, statt erst ein vollendetes Werk zu zerfleddern, und dass die Dynamik des Aufeinander-Eingehens und -Einwirkens das Neigungsgeflecht irgendwelcher Partizipierender widerspiegelt und keine definierte Teamdisziplin. Theater sucht seit längerem Anschluss an die populären Bewegungen, die sich über Online-Plattformen organisieren. Wie alle staatsbürgerlichen Interessen an etwas, das vom Prinzip her nicht wie ein Staat funktioniert, hätte die Befassung der Theaterleute mit den digital crowds gern wie gesetzlich verbürgt das Populäre ohne den Populismus, die politische Kraft der Menge ohne den Shitstorm-Mob, den besonnen-höflichen Umgang aus spontaner Einsicht ohne das Zwanghafte, als das Erziehung Sitten eindrillt. Vor allem aber bleibt es ein grundsätzliches Problem, die theatertypische Kollektivität der zum Publikum Versammelten zur zeiträumlich dispersen Vernetzung in Beziehung zu setzen. Als das Hamburger Thalia Theater 2011 offerierte, einen Teil des Spielplans per ›Publikumsentscheid‹ zu ermitteln, nahm die Theaterleitung offenbar an, das Verhalten der online Teilnehmenden werde dem des Publikums im Saal entsprechen. Tatsächlich stimmten die so angesprochenen Leute aber nicht jede*r hübsch für sich ab, wie die Zuschauer*innen während der Vorstellung ihre ästhetischen Geschmacksurteile fällen. Ambitionierte Hobby-Dramatiker*innen mobilisierten ihre persönlichen Support-Netzwerke, um eigene Stücke an die Spitze zu voten; Konkurrenzhaus Kampnagel manipulierte die Wahl mit dem scherzhaften Vorschlag, den einstigen Thalia-Erfolg Black Rider wiederaufzulegen; es gewann Friedrich Dürrenmatts Frühwerk Die Ehe des Herrn Mississippi. Das Resultat repräsentierte weder die Originalität individueller Einfälle noch einen statistischen Mehrheitsgeschmack, sondern die Diskrepanz zwischen Meinungsbildung im Internet und einem Theaterpublikum, das sich folgsam zum Kollektivsingular fügt, wo es zum vorgesehenen Zeitpunkt Beifall spendet und den Applaus mit ein paar Bravo- oder Buhrufen garniert.18
Es wäre aussichtsreicher, die Leute am Schreiben von Theatertexten zu beteiligen als an deren Auswahl. Denn die Aufgabe, Text zu verfassen, ruft sie als allein oder zu mehreren übers Display Gebeugte in die Vereinzelung einer Reihe von Sätzen. The Sentence is a Lonely Place lautet der Titel eines Vortrags von Gary Lutz.19 Die Einsamkeit, in die das Literarische die Sprache zieht, entspringt einer Differenz zur Kommunikation, die unabhängig von der Zahl der tippenden, diktierenden, mit dem Stift zu Papier bringenden Körper die Materialität des Hingeschriebenen heimsucht. Dass sie das tut, ist Erbe bürgerlicher Kultur: ein nicht wegwischbarer Restunterschied zwischen Text und texting, an dem konventionell die Wertschätzung von Literatur hängt (und den selbst ein Experiment wie Ivo Dimchevs Facebook Theatre eher operationalisiert als beseitigt20). Den Status des Textes dem texting zu opfern, aktiv darauf hinzuwirken, dass das Bewusstsein des Unterschieds literarischer und kommunikativer Sprache verkümmert wie heute schon bei Vielen das des Unterschieds zwischen Substantiv und Adjektiv, könnte durchaus die Anstrengung lohnen. Bei dem, was ich hier Autorschaft in Zusammenarbeit nenne, liefert das überkommene Prestige des Literarischen jedoch eine wichtige Motivation zur Teilnahme. Die Atmosphäre gerät deshalb am besten so bürgerlich, so feuilletonistisch parfümiert wie möglich: Große Namen, große Gesten, das durch Smalltalk-Anekdoten aufgeblasene Bild künstlerischer Exzentrizität, ja selbst die Rechthaber-Figur des public intellectual, der eine vulgäre Ansicht mit rhetorischer Gekonntheit ausstaffiert – alles zweckmäßig als Einsatz für ein Prozedere, dessen Resultat kaum die ursprünglichen Beweggründe der Mitwirkenden abbildet, vielmehr eine eigene Dynamik des Aufeinander-Reagierens entfaltet. Einmal eröffnet, werden die TogetherText-Baustellen das Schreiben rasch von individuellen Motiven zu kollektiven Konsequenzen durchreichen. Die poetische Verfassung dessen, was so entsteht, wird von indirekten Effekten bestimmt sein.
Und darin, dass sie Theatertext-Produktion dem Indirekten überantwortet, der mittelbaren Beziehung, den Vervielfältigungen an der Position des/der Dritten die Erzeugung anvertraut, entschlüpft diese Zusammenarbeit womöglich glücklich der Ordnung von Verdopplungen, die Theaterarbeit in der Ära selbstherrlicher Subjekt-Autorschaft beherrschte: Verdopplung des Autors durch den Regisseur, Verdopplung der Schrift durch den Körper, Verdopplung des Körpers in der Darstellung, Verdopplung eines Individuums in dem Beispiel für ›den Menschen‹, das es zu geben beansprucht (und im Gegenzug: Auseinanderdividieren jeder kollektiven Situation in Paare, Dialogbeziehungen, einfältige Dialektiken). Der Gebrauch von Video, Internet-Live-Schaltungen und online-basierten Tools, den wir seit zwanzig Jahren in technophilen Inszenierungen erleben, zeigt, wie wenig das Einschalten neuerer Medien allein es vermag, die Frontalität des Theaters in etwas umzubiegen oder aufzufächern, das sich Menschen als jenen Übernächsten zuwendet, die sie einander in dem Maße werden, wie ihr Umgang das verhandelte Zusammenhängen in die einstigen Domänen der verpflichtenden Begegnung hineinträgt. Die Projektionen und Screens multiplizieren meist bloß die Rampe, bauen sie raumzeitlich aus.21 So eingesetzt helfen sie praktisch nichts bei dem, was kapitalismuskritische, postkoloniale, queerfeministische, ökologisch-‚ ›post-humane‹ Politiken an Ästhetik herantragen – ein Verlangen nach der Entwicklung von »new relational modes«,22 von alternativen Modi, in denen menschliche und nichtmenschliche agents sich aufeinander beziehen, miteinander, nebeneinander, bisweilen ohne einander ihr Dasein in dieser Welt navigieren.
Die Szene des Theaters übersetzt das fortschrittsinformierteste Thema zurück in den Moment, da Aischylos den zweiten Schauspieler eingeführt hatte und alle meinten, dass der Kosmos damit nun vollständig repräsentiert sei: ein Chor und zwei einzelne Menschen. Bis heute sind die Dritten im Theater Adjektive, Qualifizierungsstatisterie. Es überwindet diese Disposition gewiss nicht schlagartig, wenn lauter Dritte den Theatertext produzieren, aber je länger sie es tun und je versierter ihr Zusammenwirken wird, desto größer die Chance, dass die Wirklichkeit ihres kollektiven Arbeitens sich auch der Konstruktion des Theaterstücks, seinen Figurenkonstellationen und dem Erwachsen der Figuren aus den Konstellationen mitteilt. Eines Tages, wer weiß, treten mehrere Personen auf und tragen etwas zu mehreren. Sie sprechen, wie sie tragen. Es ist immer noch der Müller-Ton, der Bernhard-Ton, der Jelinek-Ton, aber diesem Ton ist das Frontale, zwischen Ich, Du und Wir zu einer Direktmodellwelt Aufgestellte entwichen. Die Personen reden lateral zusammen, eine der andren halbwegs zur Seite, einen Schritt voraus, ein, zwei Schritte dahinter. Man ahnt an ihrem Ensemblespiel, dass die Luft und das Licht Medien sind, etwas Materielles zwischen ihnen, das die akustischen und visuellen Signale ihrer Körper diffraktiv streut, und dass diese Signale auch einen gemeinten Empfänger nur wie irgendjemand anderen erreichen, der sich gerade in der Nähe aufhält. Das Ensemble hält schließlich Einzug ins Spiel. Nachdem es lange bloß Ressource war, der Pool, aus dem man die Solos, Paar- und Chornummern besetzt, hat es sich zur Form der Theateraufführung gemausert.
Einige dieser Stücke werden gut zum Aufführen geeignet sein. Ob und wann man ein Stück aufführt, schaltet sich als Entscheidung einer weiteren dritten Partei in den Prozess ein, der wahrscheinlich weiterläuft. Wie ein Wikipedia-Artikel ist so ein Theatertext nie definitiv fertig, obwohl er einen Zustand erreichen kann, der nur noch wenige kleine Änderungen anregt, während jemand radikalere Varianten lieber als neue Stücke anlegt. Die Erarbeitung einer Aufführung verlängert die Genese des Textes lediglich an einem Punkt, dem schon deswegen keine besondere Bestimmungsmacht über die Zeit des Werdens zufällt, weil niemand ein Amt bekleidet, das diese Zeit mit allgemeinverbindlichen Zäsuren versieht. Die Theater sind Nutznießer der Texte. Was machen sie daraus? Wer das bisherige institutionelle Selbstverständnis der Schauspielhäuser in die Zukunft projiziert, erblickt den Intendanten, wie er einer jungen, frisch von der Uni kommenden Dramaturgieassistentin süffisant großzügig die Studiobühne für einen demokratischen Jelinek überlässt, denn er weiß, dass die Jelinek-Fans, von denen etliche mitgeschrieben haben, zwei, drei Abende den kleinen Saal füllen. Eine Woche Proben, minimale technische Betreuung, schmales Ausstattungs-Budget und die verzichtbarsten unter den Schauspieler*innen müssen genügen, um das Projekt zu realisieren. Während dieses Andere, das außerhalb seines Hauses aufgetaucht ist, nur als Zugeständnis an den Trend in den Spielplan darf, wartet er auf das häusliche Neue … Doch es könnte auch das Regime der älteren Herren, ja die chefmäßige Intendanz überhaupt, längst der Vergangenheit angehören, wenn die Autorschaft in Zusammenarbeit dereinst Fahrt aufnimmt. Und damit ein Realitätssinn für Veränderung im Theater einkehren, ein Wissen darum, dass die alten Visionen vom Neuen daran hindern, den stattfindenden Wandel auf seine Differenzierbarkeit hin zu prüfen. Das ist heute abzusehen: So sie loskommen wollen von einer patriarchalen, mit demokratischer Freiheit und Gleichheit unvereinbaren Souveränität,23 müssen die Theater ihre eigene Sozialisierung in Angriff nehmen. Da gehört ein Schub Selbstabschaffung dazu, und die betrifft auch die dramaturgische Autorität, die institutionell eingenommene Herrenrolle gegenüber dem Text, durch die Theater seine Dienerschaft am Literarischen zu kompensieren pflegt. Dem verkorksten Hamburger Mitbestimmungsexperiment lag die richtige Einsicht oder Intuition zugrunde, dass man am Theater versuchen sollte, das Erstellen der Spieltexte ›der Gesellschaft‹ zu überlassen, weil das Konzept des Autors, der als exemplarisches Subjekt die vielen Singularitäten in seiner Stimme versammelt, angesichts der Herausforderungen an Repräsentation nach dem Platzen der westeuropäischbürgerlichen Universalitätsblase versagt und auch der Dramaturg als beflissener Wegstreicher und Hinzufüger es nicht mehr richtet. Die Frage, wie das geschehen kann – in welchen konkreten Verteilungen kommunizierender agents partizipatorische Praktiken ›die Gesellschaft‹ zum Vorschein bringen –, bleibt wichtig. Das Gedankenexperiment dieses Essays gibt darauf eine Antwort, die den am Thalia Theater gemachten Fehlern für die Gelegenheit dankt, aus ihnen zu lernen, und die ebenfalls ins Ungefähre zielt.
1Vgl. zu Genese und ästhetisch-ökonomischen Implikationen des Urhebertums u. a. Netzwerk Kunst + Arbeit: art works. Ästhetik des Postfordismus, Berlin 2015, S. 55 – 82.
2Dieser gespenstische, wiederkehrende Autor antwortet meinem Begehren nach dem Persönlichen, wie Roland Barthes – der in seiner strukturalistischen Phase den ›Tod des Autors‹ ausrief – später in Le Plaisir du texte hinzufügte: »im Text begehre ich den Autor. Ich brauche seine Gestalt […], so wie er meine Gestalt braucht« (Barthes, Roland: Die Lust am Text, übersetzt aus dem Franz. von Traugott König, Frankfurt a. M. 1974).
3Dadurch, dass der Platz des Herrschers strukturell leer ist, definiert Claude Lefort in seinem institutionalistischen Ansatz das Demokratische – vgl. ders.: L’invention démocratique. Les limites de la domination totalitaire, Paris 1981.
4Dieses Schema akzeptiert und verlängert auch ›Kunstvermittlung‹, wie sie mittlerweile als Studienfach angeboten und als professionelle Disziplin entwickelt wird: Die Vermittlung kommt, wenn die Kunst schon da ist; bestenfalls ist sie an ihrer Präsentation und Zusammenstellung für Veranstaltungen mitwirkend beteiligt. Was hieße es, Kunst ausgehend von Vermittlung zu machen? Was hieße das anderes als die Beschneidung der Freiheit von Autor-Subjekten?
5Brecht, Bertolt: »Zur Theorie des Lehrstücks«, in: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg, Frankfurt a. M. 1972, D 37/1, S. 253. Zur ethisch-politischen Bedeutung von Arbeitsteilung vgl. auch van Eikels, Kai: »Sich entbehrlich machen. Subjektivität und Arbeitsteilung«, in: Gelhard, Andreas/Alkemeyer, Thomas/Ricken, Norbert (Hrsg.): Techniken der Subjektivierung, Paderborn 2013, S. 229 – 246.
6Siehe beispielsweise die bedeutungsschwer Alternativen für Realisierungskonstellationen auflistende, an den Differenzen zwischen den Alternativen letztlich desinteressierte »Anmerkungen zu Mauser«, in: Müller, Heiner: Werke IV: Die Stücke 2, Frankfurt a. M. 2001, S. 259 – 260.
7Eine sozialistische Ästhetik für einen Text Müllers fand, vielleicht als einziger, Frank Castorf in seiner Inszenierung von Der Bau 1986 für das Theater Karl-Marx-Stadt. Das Stück thematisiert gerade die (Un-)Teilbarkeit von Nichtarbeit.
8Vgl. dazu ausführlicher van Eikels, Kai: «Collective Virtuosity, Co-Competition, Attention Economy. Postfordismus und der Wert des Improvisierens«, in: Bormann, Hans-Friedrich/Brandstetter, Gabriele/Matzke, Annemarie (Hrsg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren: Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld 2010, S. 125 – 160.
9Wobei es nicht ausbleibt, dass auch hier der Anspruch des Autor-Subjekts die kollektive Textproduktion heimsucht und ein Gruppenmitglied gekränkt dagegen aufbegehrt, dass der eigene Textbeitrag von den anderen als Material behandelt und ohne Rücksicht auf das Singuläre seiner Form umgearbeitet wird. Eben der Materialstatus von Text in seiner relativen Indifferenz gegen poetische Form scheint die wechselseitige Bearbeitbarkeit zu gewährleisten.
10Schmidt, Ulf: »Raus aus der Krabbelstube, rein in die Theater: Warum Autoren am Theater nicht mehr gebraucht, Schreiber aber dringend benötigt werden«, https://www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=8712:stueckemarkt-und-autoren&option=com_content&Itemid=84 [abgerufen am 6. Juli 2020].
11Um die neoliberale Auslieferung der Text-Dienstleister*innen an die Eigentümer*innen der Produktionsmittel einzudämmen, empfahl Schmidt die Festanstellung mehrerer Schreibender an einem Theater (vgl. ebd.).
12Vgl. dazu auch van Eikels, Kai: »Theater und Serie #1: Von der Gegenwart einholen lassen«, https://kunstdeskollektiven.wordpress.com/2014/04/01/theater-und-serie-1-von-der-gegenwart-einholen-lassen [abgerufen am 6. Juli 2020].
13Experimentelle Objektivierung verstanden im Sinne von Karen Barads Forderung, gerade eine radikal konstruktivistische Forschung, die sich der weltkonstituierenden Effekte ihrer Beobachtungsunterscheidungen bewusst ist, brauche »objectivity [as] a matter of accountability to marks on bodies« – es müssen Markierungen auf Körpern hinterlassen werden, über die man Rechenschaft ablegen kann (Barad, Karen: Meeting The Universe Halfway: Quantum Mechanics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007, S. 340).
14Zur Souveränitätsproblematik des Theaters vgl. ausführlicher van Eikels, Kai: »Betriebshellsichtigkeit. Zur Souveränität des Theaters«, in: Merkur Nr. 835, Dezember 2018, S. 43 – 49; sowie ders.: »Alltag als Partner. Das relativ unverbindliche Theater von Takuya Murakawa«, in: Paragrana Bd. 26, Heft 2: »Kunst und Alltag«, hrsg. v. Julius Heinicke, Joy Kristin Kalu und Matthias Warstat, Berlin 2017, S. 179 – 198.
15Unter simple cooperation versteht Wakefield eine Zusammenarbeit ohne Aufteilung von Zuständigkeiten, beispielsweise die spontane Koordination der Körperbewegungen beim gemeinsamen Tragen, während complex cooperation auf Arbeitsteilung beruht. Vgl. Wakefield, Edward: Notes to A. Smith »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations«, London 1835, S. 29; zu simple und complex cooperation in künstlerischer Arbeit vgl. van Eikels, Kai: »Zustände ohne Zuständigkeiten. Synchronisierung, Kooperation, kollektiver rhythmos bei Koki Tanaka«, in: Linsenmeier, Maximilian/Seibel, Sven (Hrsg.): Gruppieren, Interferieren, Zirkulieren. Zur Ökologie künstlerischer Praktiken in Medienkulturen der Gegenwart, Bielefeld 2019, S. 37 – 68.
16Vgl. Tarde, Gabriel: Die Gesetze der Nachahmung, aus dem Franz. von Jadja Wolf, Frankfurt a. M. 2003.
17Geld dagegen wäre besser nicht tantiemenbezogen, sondern über ein Grundeinkommen zu verteilen – unter Umständen auch eines, das man für künstlerische Aktivitäten in Anspruch nehmen kann, ohne sich als professionelle*r Künstler*in ausweisen zu müssen. Sofern eine Volkswirtschaft überhaupt in der Lage ist, über das Bestehen in der Krise hinaus Geld für Kulturförderung aufzubringen, warum nicht all denjenigen, die sich dazu berufen fühlen, ein ›künstlerisches Jahr‹ ermöglichen?
18Vgl. dazu das Interview des Intendanten Joachim Lux, der von einem »Lobbyismus der Einzelnen« spricht: Lux, Joachim: »Spielplan-Abstimmung war ›Lobbyismus von Einzelnen‹«, https://www.deutschlandfunkkultur.de/spiel-plan-abstimmung-war-lobbyismus-von-einzelnen.954.de.html?dram:article_id=243354 – sowie van Eikels, Kai: »Warum die Gleichung Publikum = Volk die Gegenwart verfehlt und was uns jetzt erwartet außer Lobbyismus«, https://kunstdeskollektiven.files.wordpress.com/2012/05/kve-hh_grako-vortrag.pdf [alle abgerufen am 6. Juli 2020].
19Vgl. Gary, Lutz: »The Sentence is a Lonely Place«, https://de.scribd.com/doc/221932447/Gary-Lutz-The-Sentence-is-a-Lonely-Place [abgerufen am 6. Juli 2020].
20Während Aufführungen von Facebook Theatre können Leute, die mit Dimchev bei Facebook befreundet sind, zu einem Post von ihm in den Kommentaren Sätze schreiben, die er und seine Ko-Performer*innen dann live auf der Bühne sprechen oder singen (http://ivodimchev.com/fb%20theatre.htm [abgerufen am 6. Juli 2020]).
21Zur Entwicklung der Relationalitäten auf dem Theater trug die Projektion am ehesten dort bei, wo sie die Einschachtelung des Bühnenraums um eine Dimension erhöhte wie oft bei Frank Castorf. Vgl. dazu Roselt, Jens: »Die ›Fünfte Wand‹: Medialität im Theater am Beispiel von Frank Castorfs Dostojewski-Inszenierungen«, in: Roesner, David/Wartemann, Geesche/Wortmann, Volker (Hrsg.): Szenische Orte – Mediale Räume, Stuttgart 2005, S. 109 – 127.
22So eine Formulierung Foucaults, die Leo Bersani häufig zitiert, beispielsweise in »Sociality and Sexuality«, in: ders.: Is the Rectum a Grave? And Other Essays, Chicago IL 2009, S. 102 – 119, hier: S. 102. Vgl. dazu auch van Eikels, Kai: »Draußen sein (Love How You Can Pee On Anything)«, https://kunstdeskollektiven.wordpress.com/2016/06/25/draussen-sein-love-how-you-can-pee-on-anything-1 [abgerufen am 6. Juli 2020].
23Zur Unvereinbarkeit von Souveränität und Freiheit vgl. Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Übungen in politischem Denken, München 2000, S. 206 – 207.