Auftritt
Lichthof Theater Hamburg: Das Experiment mit dem Ego
„Kill dein Ego“ – Künstlerische Leitung Volker Bürger, Ron Zimmering, Musikalische Leitung Thomas Posth, Video Tobias Haupt, Ausstattung Letycia Rossi
Assoziationen: Hamburg Theaterkritiken Ron Zimmering Volker Bürger LICHTHOF Theater
Stellen Sie sich vor, Sie bekommen zu Beginn eines Theaterabends ein Leinensäckchen mit 12 Euro. Ungefähr das Geld, das ihr Ticket gekostet hat. Dazu verspricht eine sympathische weibliche Stimme aus dem Lautsprecher, dass Sie dieses Geld und alles, was Sie sich an diesem Abend erarbeiten, behalten können. Was würden Sie tun? Fair spielen? Oder zocken? Geizen oder spendieren? Bedenken Sie: Alle anderen werden sehen, ob Sie reich oder arm sind. Ob Sie ein Egoist oder ein Altruist sind. Die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst inszenieren Volker Bürger und Ron Zimmering als soziales Experiment im Lichthof Theater in Hamburg. In ihrem an die Spieltheorie angelehnten Konzept wird der:die Zuschauer:in selbst zur Spielenden. Der interaktive Abend fragt: Was ist überhaupt gerecht? Er will sein Publikum fühlen lassen, wie vielschichtig die Frage nach der Umverteilung von Geld in einer Gesellschaft ist. Er vermeidet Grenzen noch radikaler auszureizen und unbequem für das Publikum zu werden. Unterhält aber umso besser.
Die bestuhlte Spielfläche ist beleuchtet, sonst ist der Theaterraum dunkel. Die Tür schließt sich hinter dem schwarzen Samtvorhang. Mein Blick kreuzt andere Augenpaare. Ein bisschen unheimlich, gar nichts zu wissen, was einen erwartet, denke ich, während ich Stuhl Nummer 26 suche. „An der Kasse haben Sie sich unterschieden, doch in diesem Raum sind alle gleich“, erklärt die Computerstimme. Wir sitzen uns zu zweit gegenüber. Erste Lektion: Geld. Es ist unmöglich, sich hinter den Fragen zu verstecken: Wer von Ihnen spendet mehr im Jahr? Wer wohnt in der größeren Wohnung? Schnell wird klar, dass nicht Ehrlichkeit zu Reichtum führt. Die Entscheidungen trifft die Stimme nach ihren eigenen Regeln. Mal gewinnt der mit der größeren Wohnung, mal die mit der größeren Schuhgröße. Wer bankrott ist, fliegt raus und kann vom Spielrand aus weiterzusehen. Ohne Moos nix los, ganz wie im echten Leben. Als die Kassenwärtin bei einer Spielerin nachhakt, ob sie denn überhaupt noch Geld besitzt und somit mitspielen darf, wird es auf einmal sehr still im Theaterraum. Die Teilnehmer:innen schielen peinlich berührt zur Seite, froh nicht selbst pleite zu sein.
„Wenn Sie kein Geld haben, suchen Sie sich doch einen Job an der Bar“. Zwei Scheinwerfer spotten eine Reihe Getränke. Die Bar ist eröffnet! Ich will meine durch mich verarmte Mitspielerin M. auf einen Drink einladen, plötzlich verdoppelt sich der Preis. Vier Euro für ein Bier? Ich ziehe mein Angebot zurück, so flüssig bin ich nun auch nicht. Mein Gewissen straft mich. Ich fühle mich als Egoist. Nächste Aufgabe: Wir sollen ein Geheimnis preisgeben und uns mit einem Kompliment berühren. Das Geheimnis meiner Spielpartnerin ist heiß, ich wahre Diskretion.Nach dem Debakel mit den Drinks will ich zumindest loyal bleiben. Mein Kompliment lässt sie erröten. Doch die Stimme entscheidet, dass ich gewinne. M. muss das Spiel verlassen. Niemand hat gesagt, dass das Leben fair ist.
Inzwischen sind wir nicht mehr alle gleich. Einige wiegen volle Münz - Säckchen in den Händen, andere haben leere Taschen. Eine Umverteilung der sich im Spiel befindenden 436 Euro soll die Balance wieder herstellen. Wer wie viel vom Kuchen bekommt, sollen wir nun selbst entscheiden. Ein Mikrofon wird von der Decke herabgelassen. Jede:r kann sich äußern. Die Person, die das Geld am meisten braucht, soll es mitnehmen, schlägt jemand vor. Keiner erhebt ernsthaft Anspruch. Nur eine Klimaaktivistin würde es nehmen. Für den Protest.
Nächste Lektion: Gerechtigkeit soll eine ordentlich gewählte Regierungsform bringen. Wir wählen keine Oligarchie und auch keinen Ältestenrat, sondern landen im Stuhlkreis und ... in der Demokratie. Eine Uhr tickt laut. Wir haben vier Minuten Zeit, um zu einer selbstbestimmten Lösung zu kommen. Wir diskutieren! Nicht wirklich. Wir scheitern! Ratlose Minuten vergehen. Was sollen wir tun? Steckt in dieser Starre der Wunsch nach Führung? Nach den Anweisungen der freundlichen Computerstimme? Ich stoße meinen Nachbarn an. Er zuckt gleichgültig mit den Schultern. Wer mehr als sechs Euro besitzt, soll sie zurück in die Kasse legen, sonst wird das Produktionsteam persönlich auf den Kosten sitzen bleiben. Metallisches Klirren - viele legen ihre Münzen in die Kasse zurück. Mehr resigniert als überzeugt. Die gescheiterte Demokratie ist eine große Enttäuschung und den Kampf für eine gerechte Umverteilung will auch hier keiner wirklich kämpfen.
Die Verknüpfung mit dem musikalischen Akt der Inszenierung bleibt rein assoziativ und vage jedem selbst überlassen. Die spielerisch gewonnenen Erkenntnisse der Zuschauer über das Ich und das Wir verpuffen ungenutzt in den orchestralen Klängen. „Schon die Neandertaler kamen abends zusammen, um ihren harten Tag zu verarbeiten“, erzählt der Musikerarzt Eckhardt Altenmüller. Dann schauen wir ins Orchester, dem ältesten Kommunikationssystem der Menschheit. Die acht Musiker:innen des Treppenhausorchesters vernichten den Glauben an ewige Harmonie in der Musik. Sie sprechen von der Rolle ihres Instruments („die erste. Geige macht böse gesagt ein bisschen Show“), den lieben Klischees („Bratscher sind die Geiger, die es nicht geschafft haben“), Neid („über die Jahre entsteht im Orchester Frust und Wut“) und wie viel sie in dieser Produktion verdienen („alle gleich!!!“ ). Dann unterbricht der Hornist die probenden Kollege:innen mit größter Selbstverständlichkeit. Er möchte sich vor seinem Solo bitte einmal einspielen und braucht dazu komplette Ruhe. Danke! „Ab und zu brauchen wir ein Ego und ich glaube auch, dass wir mit unserem Ego manchmal großartiges bewirken können“, sagt der Arzt. Dann spielen die Instrumentalist:innen den 1. Satz des Orktett von Schubert und alle Anstrengungen des menschlichen Egos lösen sich in den Klängen der Musik auf.
Erschienen am 30.12.2022