Theater der Zeit

4.4.2 Zur Erzeugung von Zugehörigkeit oder der Sehnsucht nach ihr

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: SIGNA

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Zuschauer*innen lernen als fiktionalisierte Gäste an den »Tagen des Zustroms« die Lebenswelt der Gemeinschaft der Himmelfahrer kennen, indem sie für die Dauer von sechs Stunden an ihrem fiktiven Alltag beteiligt werden. Durch ihre aktive Teilnahme am Aufführungsund damit auch am innerfiktionalen Ritualgeschehen und dem damit verbundenen Befolgen ausgegebener Handlungsanweisungen und -skripte haben die Zuschauer*innen – so die These – an Prozessen kollektiver Subjektivierung teil und werden von ebendieser zugleich selbst erfasst, sodass sie zum Gegenstand selbstreflexiver Auseinandersetzung werden kann.

Eine sanfte Form kollektiver Subjektivierung findet bereits auf der in Kapitel 4.4.1 beschriebenen außerfiktionalen Ebene der Aufführung, genauer auf der gemeinsamen Busfahrt zum Benjamin-Franklin-Village-Gelände, statt. Das Publikum trifft sich zum Zeitpunkt des terminierten Aufführungsbeginns vor dem Nationaltheater Mannheim an einer extra eingerichteten Busstation. Dort holt ein vom Theater gecharterter Busshuttle die sechzig Zuschauer*innen zu einer gut zwanzig Minuten dauernden Fahrt ins Mannheimer Käfertal ab. Die Fahrt ist noch nicht Teil der fiktiven Narration, aber doch auch schon Teil der Aufführung. Im Bus lassen sich erste Gespräche mit anderen Zuschauer*innen führen, hauptsächlich darüber, ob man das erste Mal bei SIGNA zu Gast ist oder nicht. Die Atmosphäre changiert zwischen vorfreudiger Klassenfahrtstimmung und Anspannung angesichts des Nicht-Wissens, wo es hingeht und was uns erwartet. Anders als in anderen SIGNA-Arbeiten sind hier alle Zuschauer*innen vor Betreten des Spielortes bereits miteinander versammelt und erleben sich (zumindest kurz) als Gruppe. Während man bei anderen SIGNA-Produktionen die Spielorte stets selbst aufsucht, wird man bei Das Heuvolk dieser Möglichkeit beraubt. Damit gerät man als Zuschauer*innen-Gruppe in die durchaus unangenehme Situation, der Aufführung ein Stück weit kollektiv ausgeliefert zu sein – zumal die Option, die Aufführung vorzeitig zu verlassen, aufgrund der Abgelegenheit und des notwendigen organisatorischen Aufwands für jede*n Einzelne*n geradezu verbaut oder zumindest in hohem Maß verkompliziert wird.

Auch auf der innerfiktionalen Ebene geht das Framing der Akteursgruppen mit einer kollektiven Subjektivierung einher. Auf der einen Seite sind die Himmelfahrer, die innerhalb der Gemeinde noch mal hierarchisiert sind, und auf der anderen Seite sind wir, das titelgebende »Heuvolk«. Während der Aufführung erfolgt mehrfach seitens der Himmelfahrer die im Hollingschen Sinne »theatrale Interpellation«, die uns Zuschauer*innen in die Subjektposition versetzt, Heuvolk und damit innerdiegetisch eine »gefährdete« Spezies angesichts des nahenden Weltendes (»Ihr werdet brennen!«) zu sein. Gleichzeitig wird suggeriert, dass sich unter uns sowohl erhoffte »Auserwählte« als auch potentielle Feinde befänden:

Jake hat von euch geträumt und uns gesagt, dass einige von euch bei uns bleiben werden und mit in die neue Welt kommen. Aber er hat uns auch gewarnt, dass es unter euch Feinde gibt […]. Ob ihr das eine seid oder das andere seid, können wir noch nicht wissen und ihr selber auch nicht. […] Heute Nacht werden wir wissen, wer ihr seid.209

Auf diese Weise werden wir gerade zu Beginn deutlich als noch nicht zu ihrer Gemeinschaft zugehörig markiert und der Besuch wandelt sich in eine Form von Prüfung, an dessen Ende sich herausstellen wird, ob wir dazugehören werden oder nicht. Im Verlauf unseres Besuchs wird diese klare Trennung von Himmelfahrern versus Heuvolk deshalb auch nach und nach aufgelockert, nicht zuletzt, weil wir an ihren Ritualen teilnehmen. In allen Schreinen wird stets darauf hingewiesen, dass wir unter Beobachtung der Trickster ständen. Auch gibt es überall gerahmte Fotografien von Jake, der auf diese Weise von den Himmelfahrern als anwesend und über die Ereignisse wachend erzählt wird. Auch den Räumen kommt so eine das Kollektiv subjektivierende Kraft zu: Akteur*innen – Himmelfahrer wie Heuvolk – werden unter den Augen der Trickster und Jakes zu Subjekten im Wortsinne, die den vorgegebenen Regeln und Routinen der Gemeinschaft unterworfen sind. Im Gegensatz zu anderen SIGNA-Arbeiten ist das Publikum hauptsächlich mit der Teilnahme an den Ritualen beschäftigt, wodurch sich kaum die Gelegenheit zu längeren Gesprächen ergibt. Ergo geht es ganz im Sinne der innerdiegetischen Logik auch viel weniger darum, einander wirklich kennenzulernen. Was man kennenlernt, ist die Struktur des religiösen Kollektivs, kaum aber die Geschichten einzelner Individuen dahinter – schon gar nicht bei nur einem einzigen Besuch. Für Zuschauer*innen wird der Aufführungsbesuch zu einem Kennenlern- und Aushandlungsprozess. Aufgrund der Dominanz des Ritualgeschehens in den verschiedenen Schreinen werden sie von der Gemeinschaft förmlich in Beschlag genommen.

1. In der Schule der Himmelfahrer beten wir zum vollkommenen Jake. Wir halten uns an den Händen, raunen die Zeilen wie bei einem Vaterunser. Ich bin skeptisch, frage mich, wie Jake es geschafft hat, jeden Einzelnen von seinen Theorien zu überzeugen. Wulf Wolcott, ein Bruder mit Verkäuferlächeln, erklärt mir, dass Jake immer so elegant, so verdammt erfrischend elegant war. Kurz darauf finde ich mich in einer Vertrauensübung wieder, plötzlich schreie ich mit den anderen im Chor »Ja, ich vertraue Jake!«. Von einem Hocker auf der Gebetsbank aus lasse ich mich rückwärts fallen, Himmelfahrer und verunsicherte Besucher fangen mich auf. […] Kurz darauf stehe ich im Flur und schlage Brennnesseln auf den Unterarm. Es ziept und brennt. Aber immerhin habe ich die Prüfung bestanden. Und dann gackere ich wie ein Huhn, weil Signa Köstler in ihrer Rolle als Dianne Walcott im durchsichtigen rosa Spitzenkleid das verlangt. Es sei notwendig, damit die Erdkerngöttin Fever Lady sich manifestieren kann. […] Wenig später krümmt sich Dianne vor Schmerzen, windet sich in den Seilen, die von der Decke hängen. Sie kreischt, stürzt vom Bett auf mich zu, ich weiche zurück, bis ich nicht mehr weiter kann. »Du darfst sie nicht berühren«, erinnere ich mich an die Worte eines schüchternen Himmelfahrers. Ich weiß auch nicht, warum ich auf ihn höre […] (Röben, 2017).

2. Da liegt eine junge Frau mit entblößtem Unterkörper in einer schmuddeligen, engen Kammer. Nur ein Waschlappen klemmt zwischen ihren Beinen. Um das Bett herum knien Besucher*innen. Auf ihrem Bauch sind vier gefüllte Schnapsgläser abgestellt. »Die müsst ihr jetzt trinken. Und dann Euren Mund-Inhalt in den Bauchnabel der Göttinnen-Hülle spucken«, sagt ein Mann mit beschwörender Stimme. Und das Seltsame: Alle Zuschauer befolgen die Anweisung […] (Kohlmann, 2017).

3. Da gab es einen Moment – das war nach einer Vorstellung –, da saß der eine, wahrscheinlich einer der ganz wenigen, die beim Ritual mitgemacht haben, aus Wien, neben mir im Taxi nach dem Ritual, als wir in die Stadt zurückgefahren sind, und er hat geheult. Er hat einfach geheult und gefragt: »Warum habe ich das gemacht? Ich weiß es doch, ich weiß es doch …«, so ungefähr. Da hatte ich wirklich das Gefühl, der hat nicht verstanden, warum er sich trotzdem hat erwischen lassen, obwohl er die Mechanismen kannte. Das war ein ganz enger Moment irgendwie, wo ich dachte: krass. Er hat nicht ganz genau gesagt, was ihn da so bewegt hat, aber ich hatte das Gefühl, er hat sich über sich selbst geärgert: Warum ist er da reingefallen, warum hat er das mitgemacht, er kennt doch die Mechanismen, und trotzdem!210

4. Mit einem liturgischen Gesang lullt die Gemeinde die Neuankömmlinge ein: »Himmelsschiff, wir kommen« singen die Erleuchteten in Endlosschleife, ein süßlich-leierndes Mantra, das sich in den Kopf frisst, noch ehe man dessen Bedeutung kennt […] (Müller, 2017).

Diese Miniaturen bezeugen nicht nur Situationen handlungsanweisungsbezogener Vereinnahmung, sondern sie verweisen auch auf drei weitere Dimensionen kollektiver Subjektivierung: Erstens kommt das zuschauerseitige Befolgen zuweilen hanebüchener Handlungsanweisungen (wie »Gackern wie ein Huhn« oder die Bauchnabel-Schnaps-Weihe) einer gewissen Infantilisierung gleich (vgl. Miniaturen 1 und 2); zweitens kann es je nach affektiver Disposition der Zuschauer*innen zu Szenen kommen, in denen diese situativ zu etwas gedrängt werden, das sie im Anschluss bereuen oder zu hinterfragen beginnen (vgl. Miniatur 3); zu Szenen also, die mit der Unterwerfungsbereitschaft von Zuschauer*innen ›spielen‹. Und drittens wirkt kollektive Subjektivierung auf der Ebene der Synchronisierung von Körpern z. B. durch das regelmäßige gemeinsame Durchführen einer kollektiven Schweigeminute für den verstorbenen Jake, durch gemeinsame Bewegungen im Raum (insbesondere bei den Ritualen im Raum des »Peacock« oder »Cowboy«) und durch vielfaches gemeinsames Singen (vgl. Miniatur 4).

Wie auch schon bei SIGNAs Söhne & Söhne wird ein Mit-Tun und Befolgen von Handlungsanweisungen seitens der Zuschauer*innen in Das Heuvolk zum zentralen Gegenstand der Zuschauer*innen-Erfahrung und damit potentiell auch zum Gegenstand der Selbstreflexion. Und zwar deshalb, weil ihr Mit-Tun auf der Ebene der Aufführung immer auch ein performatives Mit-Hervorbringen der Wirklichkeitssimulation ist. Und diese repräsentiert bei Söhne & Söhne wie auch bei Das Heuvolk eine sektenähnliche Gemeinschaftsstruktur, zu deren innerfiktionaler Logik gerade die Manipulation von Menschen gehört. Diesbezüglich zeigen die Berichte der Zuschauer*innen eine signifikante Ambivalenz auf. Denn trotz spürbarer Wertschätzung der Tatsache, dass Momente situativer Vereinnahmung sie zur Selbstreflexion anregten, lässt sich doch auch ein deutliches Unbehagen gegenüber dieser Form der Publikumsinvolvierung nicht von der Hand weisen.

5. Zuerst gehst du noch davon aus, du hättest alles im Griff, plötzlich aber merkst du: Die haben dich im Griff, und du wehrst dich nicht, weil du vielleicht Orientierung in einer immer chaotischeren Welt suchst oder in deinem Hang zur individualistischen Isolation so weit gegangen bist, dass da wieder dieser Hunger nach Gemeinschaft ist, nach einer Kirche, einem Glauben oder auch nur einer Gruppe, deren Bindungsstoff die Denunziation von Fremden ist. […] Spannend wird es, wenn der Gast und potenzielle Himmelfahrer eine konträre Position bezieht. Er macht dann die Erfahrung, dass in dieser eschatologisch hochgerüsteten Gemeinschaft auf keinen Fall aggressiv missioniert wird. Im Gegenteil: Droht es kontrovers zu werden, schmiegt die Sanftmütige sich an dein Bein und liebkost deine Finger, du weißt aber nicht so recht, ob aus ihrem Gesicht in der nächsten Sekunde nicht doch Charles Manson grinst […] (Berger, 2017).

Im »Mitmachtheater« à la SIGNA – wie immersives Theater von Zuschauer*innen in Interviews immer wieder bezeichnet wird – wird das Mitmachen selbst auffällig, wenn es innerdiegetisch instrumentalisiert wird. Wenn das Mit-Tun der Gäste, das nicht zuletzt das Gelingen der Aufführung sicherstellt, auf der Aufführungsebene etwas anderes bedeutet als auf der Ebene der Wirklichkeitssimulation, die auf einem fiktionalisierten Mikrokosmos basiert, wird es potentiell selbst zum Gegenstand ästhetischer Erfahrung (vgl. Wihstutz, 2013). D. h., es braucht im Fall von Das Heuvolk, das eine sektenähnliche Gemeinschaft porträtiert, die zuschauerseitige Erfahrung von handlungsanweisungsbezogenem Vereinnahmt-Werden, um auf diese Weise auf die eigenen affektiven Dispositionen zum Sich-Vereinnahmen-Lassen aufmerksam gemacht zu werden und sie dadurch zum Gegenstand der Selbstreflexion werden zu lassen. Interviewte SIGNA-Zuschauer*innen beschreiben diese mitunter dilemmatische Konstellation wie folgt:

Ich glaube, das ist eines der Dinge, die SIGNA häufig machen, dass sie einen dazu bringen, Dinge zu machen, die man eigentlich gar nicht machen möchte, wenn man länger darüber nachdenkt. Dinge, die abgedreht oder gemein oder total schwachsinnig sind, oder man redet plötzlich über Dinge, über die man gar nicht sprechen möchte (HP 2017).

Ich war hin- und hergerissen zwischen aufstehen und sagen »holla Leute, was lassen wir uns hier eigentlich gefallen?« und der Gefahr, rausgeschmissen zu werden. Ich wollte es aber miterleben, deshalb bin ich nicht aufgestanden. […] Nachher zu Hause, dachte ich: Oh, hättest du nicht doch schneller Kritik üben sollen? […] Ja, ein paar Tage später, als das noch in mir rumging, dachte ich: du bist ganz schön leicht verführbar (BE-H 2016).

Also ich habe sofort gewusst, jetzt muss ich folgen, und war sofort damit beschäftigt, mich zu fragen, wie ich mich hier richtig verhalte, damit mir nichts passiert. Ich musste mich sofort in diese Gesellschaft einfügen. Ich habe auch sofort meinen Namen gesagt, einen anderen zu sagen, hätte ich mich gar nicht getraut. Ich war sofort brav, ich war sofort gezähmt. […] Und allein das finde ich schon so spannend, dass man wirklich bereits nach kürzester Zeit bereit ist, sich unterzuordnen (EW 2017).

Das ist für mich einer der roten Fäden gewesen, immer abzuwägen, bleibe ich jetzt bei mir, oder unterwerfe ich mich ihnen, gehe ich mit oder nicht. […] Es hieß dann, wir sollten uns den Nachtsöhnen zu Füßen legen. Da habe ich mir gedacht, oh, das ist ja nun alles Spiel und Theater, aber das mach ich nicht mal als Spiel mit (LZ 2016).

[D]a habe ich gedacht: bloß nicht nachfragen, sondern schön mitspielen. Das ist ja das Gefährliche an dieser Aufführung, dass man da einfach mitspielt. So könnte man auch den Faschismus wieder einführen. Das fand ich eigentlich interessant, was man da mit sich machen lässt (TD 2016).

Es offenbart sich hier deutlich, dass das Mitmachen oder Mitspielen selbst, die Art und Weise, wie man sich auf Situationen einlässt, wie man sie pariert oder sich unterordnet, zum Gegenstand selbstreflexiver Aushandlung seitens der Zuschauer*innen wird. Relevanz beziehen solche Situationen aus der Tatsache, dass die affektiven Dynamiken dieser sozialen Handlungen sowohl die Aufführungsebene als auch die Ebene der fiktiven Lebenswelt, in die man eintaucht, betreffen. Befragt man Zuschauer*innen nach der Motivation, warum sie während SIGNA-Aufführungen mitunter bereit sind, etwas zu tun, das sie im außertheatralen Kontext nicht tun würden, dann gibt es zwei dominante Antwortstrategien: Die eine begründet ein Mit-Tun von Dingen über internalisierte Konventionen und Erwartungshaltungen bezüglich einer noch nicht so stark habitualisierten Form des »Mitmachtheaters«. Das beinhaltet, dass Zuschauer*innen sich für das Gelingen der Aufführung mitverantwortlich fühlen, sich deshalb fügen und damit das Risiko in Kauf nehmen, sich unwohl zu fühlen.211 Die andere argumentiert, dass es gerade der eröffnete Handlungsspielraum solcher Theaterformen sei, der es möglich mache, Dinge auszuprobieren, die man sonst nicht tun würde, um genau über diese Situationen etwas Neues zu erleben oder über sich selbst erfahren zu können.

Insbesondere Zuschauer*innen, die die letztgenannte Antwortstrategie wählten, verbinden mit SIGNA-Aufführungsbesuchen häufig den expliziten Wunsch, intensive Selbst- oder »Grenzerfahrungen« zu machen. Mit dieser Bezeichnung wird markiert, dass es gerade das Verwischen der Grenze von sozial-relationaler Realität der Aufführung und Wirklichkeit der miteinander hervorgerbachten Fiktion ist, das als lustvoll und/oder bereichernd erfahren wird.212 Eine Szene, in der diese beiden Ebenen noch mal symptomatisch zusammenfallen, ist die Abschlusszeremonie in der Kapelle.

6. Erneut bin ich total beeindruckt von dieser Stimmung – wie wir im sanften Dunkel der einbrechenden Nacht unter dem Licht des Mondscheins nach dem Passieren der am Eingang der Kapelle Spalier stehenden Himmelfahrer nach und nach den Ort der Abschlusszeremonie betreten. Innen ist es erleuchtet, alles ist komplett in Weiß gehalten. An der Stelle des Altars stehen die in weißen Anzügen gekleideten männlichen Himmelfahrer in Position. Die Kapelle ist von ihrer Bestuhlung komplett befreit worden, rechts und links gibt es lediglich zwei tiefe Podeste, auf denen wir Zuschauer*innen Platz nehmen sollen. Ein Himmelfahrer begleitet mich zum Platz und deckt mich sofort mit einem weißen Tuch zu – ich soll darauf achten, dass stets nur mein Gesicht freibleibt. Nach und nach füllt sich die Kapelle mit weiteren Zuschauer*innen. Weibliche Himmelfahrer treten in den Innenraum und beginnen sich offen mit einer Schale Wasser zu waschen und umzukleiden – bis auch sie alle komplett in weiß gekleidet in Brautkleidern und Schleier beginnen, sich gemeinsam im Kreis zu bewegen und gemeinsam zu singen: »Himmelsschiff – wir kommen.«

In der Vorbereitung auf die Zeremonie, die im letztbesuchten Schrein erfolgte, wurde uns gesagt, dass wir vortreten sollten, »wenn wir es spüren«, uns ausziehen und mittanzen sollten. Und so staune ich nicht schlecht, als ich der zwei jungen Zuschauerinnen gewahr werde, die sich aus der Lakenlandschaft befreien, in den Raum treten und sich ohne Umschweife zu entkleiden beginnen. Sofort nehmen sich Himmelfahrer ihrer an, bringen ihnen eine Waschschale und ein frisches weißes Laken – und ja, sie umjubeln sie förmlich, begrüßen sie herzlich in ihrer Gemeinschaft, deren Teil sie mit dieser Aktion geworden sind. Zwei weitere Zuschauerinnen folgen und tun es ihnen nach. Die Gesänge sind unterdessen zweistimmig geworden: »Neue Welt, du bist nicht mehr fern!«, singen nun die einen – »Himmelsschiff – wir kommen« die anderen (rhythmisch versetzt) weiter. Dazu wird der Rhythmus der Trommeln immer lauter, einzelne Himmelfahrer tanzen sich regelrecht in Ekstase. Wir anderen bleiben buchstäblich außen vor, bleiben Zuschauer*innen, denen eine aktive Teilnahme verwehrt bleibt. Am Ende fallen sie alle erschöpft zu Boden und liegen ganz nah beieinander. Wiederum sind es die männlichen Himmelfahrer, die nach und nach auf uns zukommen. Mit bewusst traurigem Blick nähert sich mir Rosario, markiert mit seinem Finger mein Gesicht und fordert mich mit einer Geste auf, die Kapelle zu verlassen. Etwas melancholisch verabschiede ich mich also von diesem magischen Ort und der Aufführung und kehre mit den anderen zum Bus zurück. Auf dem Weg frage ich mich, was wohl mit den Zuschauer*innen passiert, die nun Mitglieder der Gemeinschaft sind – geht die Aufführung für sie noch weiter?213

7. Das Finale des Abends findet dann in einer Kapelle statt, wer vom Heuvolk zu den Himmelfahrern übertreten will, kann das hier tun. Indem man sich auszieht, reinigt und weiße Kleider anzieht. Erstaunlicherweise funktioniert das – einige Zuschauer ziehen sich aus und werden Himmelfahrer. Das will ich auch, denkt der Rezensent, einfach aufgehen in dieser weißen Menge aus schönen, tanzenden und singenden Menschen […](Stender, 2017).

8. Bei meinem ersten Besuch war es erst mal Glück, denn neben mir saß C. Ich habe ganz lange gezögert, war mir total unsicher. Dann habe ich irgendwann nach links geguckt, C. guckte nach rechts und wir haben uns beide in die Augen geguckt und dann dachten wir: »Scheiß drauf, komm!« Und dann sind wir zusammen aufgestanden, und es hat mir wahnsinnig geholfen, dass wir eine Mini-Gemeinschaft von zwei waren. Sonst hätte ich vielleicht den Mut nicht gehabt, vor allem, weil ich es tatsächlich ein bisschen seltsam fand am ersten Abend, dass es nur Frauen waren, die aufstanden, und da hatte ich ein bisschen Sorge, dass das blöd wäre, wenn man sich als Mann mit den ganzen nackten Frauen da hinstellt. Das fühlte sich für mich irgendwie doof an. Aber ich gebe zu: Am ersten Abend wollte ich auch wissen, bleibt man da oder nicht? […] Ich war schon neugierig, wollte tatsächlich Teil der Gemeinschaft werden, Teil einer Spielgemeinschaft werden, also es ist nicht, dass ich glaube, dass diese Sekte real ist, aber es gibt die Signa-Sekte, die sehr real ist, so wie sie zusammen agieren und da ein bisschen heranzurücken, darüber mehr zu erfahren, das war schon klar ein Impuls für mich, sonst würde ich es ja auch nicht so oft gucken. […] Am Ende war es, glaube ich, wirklich das, was es ja auch sein soll: ein Impuls, der nicht rational zu erklären ist, und insofern war es vielleicht wirklich ein Zeichen, einfach so ein Bauchgefühl, das sagt: »Komm scheiß drauf, ist jetzt egal, was hier ist, für mich fühlt es sich gerade einfach richtig an.« […]

Der erste Abend war eigentlich eine halbe Premierenfeier, gefühlt war es einfach eine unglaubliche Energie. Der Wodka kreiste, also man hatte wirklich das Gefühl, sie machen einen im wahrsten Sinne des Wortes betrunken. […] Ja, das fand komplett in der Kirche statt. Man geht nicht mehr zurück. Sie feiern dich ab, man kann es nicht anders sagen. An dem ersten Abend hatte ich das Gefühl, überall sind Menschen, du wirst umarmt, es gibt Nähe. Sie fragen dich nach deinem Namen, du wirst vorne auf diese Empore, auf diese kleine Bühne gestellt und alle rufen deinen Namen. Du wirst gefragt, von wem du dich verabschieden möchtest, und sie geben dir dann auch die Ruhe, […] alle aufzuzählen, von denen du dich verabschieden willst, immer geschützt nur mit dem Vornamen. […] Und dann wird zusammen gesungen, zusammen gesessen und irgendwann kommt dann der Moment, wo sie dir sagen, ja, aber ihr seid ja noch nicht so weit, ihr seid jetzt auf dem Weg, aber ihr müsst da jetzt erst mal wieder raus in die Welt. […] Du bist zwar jetzt Himmelfahrer, du bist Teil der Gemeinde, aber du hast deinen Namen noch nicht geändert, du hast dich von deinen Freunden noch nicht verabschiedet, du hast dich von deinen irdischen Dingen noch nicht getrennt. Das sind halt die drei Sachen, die zu erledigen sind, bevor du endgültiger Teil der Gemeinschaft werden und bleiben kannst. […]

Am zweiten Abend hat niemand das Zeichen gesehen, das war total spannend, am ersten Abend selbst so gefeiert zu werden und am zweiten Abend dann der totale kalte Entzug, ohne diese Orgie rauszugehen, nur nach draußen gebracht zu werden und noch mit im Bus zurückzufahren […]. An einen anderen Abend, da haben nur zwei das Zeichen gesehen, waren schon in der Mitte und haben sich ausgezogen gehabt, als ich in die Kirche gekommen bin. Also die hatten gar nicht mehr das Ritual abgewartet, hatten sich offenbar sehr früh entschieden, dass sie das Zeichen sehen wollen, und dadurch gab es ganz verschiedene Situationen. Aber die Feier selber, das ist, wie erklär ich das …, das ist ein unglaubliches Miteinander, ein unglaubliches … Du wirst eingebunden, du wirst gerufen, du wirst Teil von einer Gemeinschaft, sie lassen dich fliegen … und da war ich total geflasht.214

Dominant für die Wahrnehmung dieser Abschlusszeremonie ist neben dem weißen Raum der Kapelle vor allem der Gesang. Mit den zwei Stimmen »Himmelsschiff – wir kommen« und »Neue Welt – du bist nicht mehr fern« und dem klaren, einfachen Rhythmus ist das Lied ungemein eingängig und vermag, Körper besonders schnell und nachhaltig zu affizieren. Das Lied wird im Loop über die gesamte Dauer der etwa dreißigminütigen Abschlussszene gesungen. Es beginnt leise und wird zum Höhepunkt der Szene, dann, wenn sich die ersten Zuschauer*innen mit ihrem Hervortreten in den Raum für eine Mitgliedschaft bei den Himmelfahrern entscheiden, immer lauter und, ja, aggressiver; als würde es über die Lautstärke den Grad der erreichten Trance der Himmelfahrer widerspiegeln. An dieser Szenenbeschreibung wird deutlich, wie die Involvierung der Zuschauer*innen ins szenische Geschehen und die Diegese nicht nur handlungsanweisungsbezogen, sondern dezidiert auch soundbezogen wirkt und Effekte der Vereinnahmung zeitigt. In diesem finalen Abschlussritual wird die Zugehörigkeit der Himmelfahrer untereinander machtvoll über eine klanglich-rhythmische wie auch körperliche Ebene ausgestellt. Der Gruppenkörper der Himmelfahrer erscheint als finale Manifestierung jener kollektiven Subjektivierung, die Jake im Zeichen des Glaubens bei seinem Gefolge in Gang gesetzt hat. Und von dieser tanzenden und singenden Gruppe kann für Zuschauer*innen eine affektive Resonanz ausgehen, die einen nicht nur zuschauen, sondern auch mittanzen lassen möchte – und zwar ganz unabhängig davon, dass sie innerfiktional eine Gemeinschaft repräsentieren, deren Werte und Normen man eigentlich nicht teilt, zu der man eigentlich nicht gehören möchte (vgl. Miniatur 8). Als Zuschauer*innen dieser Abschlusszeremonie bezeugen wir die Affizierung derjenigen, die bereit sind, sich diesem letzten Ritual körperlich hinzugeben, bezeugen ihre letzte handlungsanweisungsbezogene Vereinnahmung, die sich als eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit zeigt, als Wunsch, an diesem kollektiven Ritual teilzuhaben.

Während die meisten Rituale in den Schreinen in kleinen Gruppen stattfinden, entfaltet die Abschlusszeremonie jene gemeinhin mit Ritualen verbundene kollektivierende und gemeinschaftsstiftende Kraft (vgl. Roselt, 2014, S. 129) – allerdings nicht für alle. Da man mit der aktiven Teilnahme am Abschlussritual auf innerfiktionaler Ebene anzeigt, Jakes Weisung vernommen zu haben, wechselt man aus der Gemeinschaft der Zuschauer*innen (oder des Heuvolks) als »Auserwählte*r« in die Gemeinschaft der Himmelfahrer. Sie nehmen die Neumitglieder überschwänglich und euphorisch auf und erzeugen damit potentiell noch bei weiteren Zuschauer*innen den Wunsch, sich ihnen auch anzuschließen, auch Teil dieser sozialen Erfahrung des ästhetisch gerahmten, kollektiven Rituals zu werden. In der letzten Miniatur wird besonders deutlich, wie vom Erleben der Szene eine Sehnsucht nach Gemeinschaft getriggert wurde, die den Zuschauer unterstützt durch seine Begleitung dazu brachte, sich auch zu trauen und den Schritt aus der Publikumsmenge hinaus und in die Runde der Himmelfahrer hinein zu wagen.

Die Gemeinschaft der Himmelfahrer operiert innerfiktional mit einem »Regime der Zugehörigkeit« (Pfaff-Szarnecka, 2012, S. 32), das an formale Mitgliedschaft, klare Regeln von Ein- und Ausschluss sowie diverse, das Kollektiv subjektivierende Praktiken gebunden ist. Und dieses Regime setzt sich auch in der Struktur der Abschlusszeremonie durch und zwar vermittels der Tatsache, dass es noch eine Art Fortsetzung gibt, an der konsequenterweise nur diejenigen partizipieren können, die sich für eine Mitgliedschaft entschieden haben, während alle anderen begleitet von vorwurfsvollen Blicken der Kapelle verwiesen werden (vgl. Miniaturen 6 und 8).

Die letzte Miniatur macht deutlich, dass die Teilnahme am Abschlussritual nicht primär der Fiktionslogik folgte, sondern dass es gleichsam das Kollektiv SIGNA selbst war, das eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft zu triggern vermochte. Nichtsdestotrotz bezeugt die Teilnahme an dem Ritual, welche immerhin voraussetzt, sich vor allen Anwesenden zu entkleiden und reinigen zu lassen, eine gewisse affektive Disposition, die situativ den Ausschlag gab, sich auf eine solche Situation einzulassen. Wenn es nicht die repräsentierte Sekte war, so war es, wie Miniatur 8 explizit formuliert, die Faszination für die SIGNA-»Sekte«, die den Ausschlag gab. Auch dafür bedarf es allerdings einer gewissen Verführbarkeit, durch das, was das Kollektiv ausstrahlt im Modus der Resonanz und Anziehung, affiziert zu werden. Was in die Konstellation der Abschlusszeremonie mit hineinspielt, ist also eine Dimension jenseits der Fiktion, die aber thematisch anschlussfähig für das im Heuvolk verhandelte Sektenthema und der Selbstbefragung der eigenen Verführbarkeit bleibt.

SIGNA steht für eine spezifische Arbeits- und Produktionsweise, die umfasst, dass das Ensemble, das für eine Produktion gecastet ist, für die Dauer der Proben- und Aufführungszeit auch zusammenwohnt, gemeinsam lebt, feiert – und auch liebt. Aus Gesprächen mit einigen Perfomer*innen weiß ich, dass diese Arbeitsweise für viele der Grund ist, warum sie überhaupt bei einer SIGNA-Produktion dabei sein wollen. Und es ist stets so, dass ein Ensemble sowohl SIGNA-Veteran*innen als auch SIGNA-Newbies, die zumeist in einem Hospitanten-Verhältnis angestellt sind, zusammenbringt. Nicht immer funktioniert ein Ensemble gleich gut, wenn es derart eng miteinander lebt und arbeitet. Im Fall von Das Heuvolk, so berichtete mir Signa Köstler in einem Interview, gestaltete es sich allerdings geradezu perfekt. Ich würde nun behaupten wollen, dass die Tatsache, dass es im Heuvolk-Ensemble ein derart gutes Gruppen- und Zusammengehörigkeitsgefühl gab, sich auf affektiver Ebene auf Zuschauer*innen und vor allem auf ihre Wahrnehmung der fiktionalisierten Gemeinschaft zu übertragen vermochte. Dies beinhaltet, dass das Miteinander-Sein des Kollektivs durch das gespielte Miteinander-Sein der fiktiven Sekte auf der Wahrnehmungsebene der Wirklichkeitssimulation gleichsam hindurchwirkte und dass die Sympathie, die Faszination und auch Bewunderung für SIGNA am Ende ausschlaggebend dafür waren, dass sich 120 von 1.200 Zuschauer*innen – also immerhin ein Zehntel – entschieden, aktiv am Abschlussritual teilzunehmen. Dies wurde im Anschluss mit einer Art Nachspiel, in dem Fiktion und Wirklichkeit noch stärker verschmolzen sind, belohnt und gefeiert (vgl. Miniatur 8).215

Auch Mehrfachbesucher*innen von Das Heuvolk werden zum einen belohnt, insofern ihnen innerfiktional als Neumitglied der Himmelfahrer bestimmte Sonderbehandlungen zukommen, zum anderen werden sie aber auch entsprechend der Fiktionslogik in die Mangel genommen: »Das ist wie Zuckerbrot und Peitsche, was sie da ausleben: Mal wirst du gelobt, mal wirst du wahnsinnig kritisiert, mal wirst du rund gemacht, mal wird dir in jedem Raum vorgeworfen, du seist nicht weit genug und du müsstest jetzt echt mal Gas gebe (AK 2017).« Aus eigener Erfahrung wie auch aus den Interviews mit Zuschauer*innen weiß ich, dass sich durch die Mehrfachbesuche, vor allem, wenn es dann auch um verschiedene Produktionen geht, für die Zuschauer*innen extra anreisen, über die Zeit auch Beziehungen zu den Figuren und den Performer*innen entwickeln. Nicht direkt ein Gemeinschaftsgefühl vermag sich hier für Mehrfachbesucher*innen einzustellen, aber doch ein Gefühl, dass man auf eine subtile Weise auch ein Stück weit dazugehört, dass man sich zu kennen scheint. Und dies bindet die Zuschauer*innen an das Kollektiv und ihre Arbeiten, steigert und begründet den Reiz des Wiederkehrens.

Das Publikum wird in SIGNAs Das Heuvolk zuvorderst über diverse Handlungsanweisungen in das Aufführungsgeschehen und die fiktive Welt der Himmelfahrer involviert. Die Tatsache, dass Zuschauer*innen am innerdiegetischen Ritualgeschehen aktiv beteiligt werden, führt auf einer ersten ganz basalen Ebene zur Vereinnahmung, insofern sie die ganze Zeit beschäftigt, und damit ganz im Wortsinne von Beginn an »in Anspruch genommen« werden. Dabei kommt es auch häufiger zu Handlungsanweisungen, denen Zuschauer*innen eigentlich nicht Folge leisten wollen, es für das Gelingen der Aufführung im Sinne einer empfundenen (und proklamierten) Mitverantwortung dann aber trotzdem tun. Eine andere Form der Vereinnahmung greift, wenn Zuschauer*innen – wie ich in der Begegnung mit Maria Marena – Handlungsanweisungen befolgen und damit situativ in Aktionen verwickelt werden, die sie auf der Ebene der Diegese zu Kompliz*innen eines autoritären Regimes machen, das seine Mitglieder dazu verführt, sich im Namen des Glaubens für einen vermeintlich höheren Zweck zu opfern. Dieses Mit-Tun im Modus innerdiegetischer Komplizenschaft muss allerdings nicht zwingend allen Zuschauer*innen einsichtig werden. Dass Momente der Vereinnahmung – vielleicht gerade dann, wenn sie nicht diegetisch eingeordnet, bewertet und als Komplizenschaft erkannt werden – auch als angenehm empfunden, gezielt gesucht und genossen werden können, lässt sich vor allem an den Zuschauer*innen beobachten, die sich bei der Zeremonie in der Kapelle auf das Abschlussritual aktiv eingelassen haben. In dieser Sequenz erhalten nicht mehr nur die Himmelfahrer die Möglichkeit zu einer transgressiven Erfahrung durch ein gemeinschaftsstiftendes Ritual, nein, nun steht eine solche »Grenzerfahrung« auch den teilnehmenden und auf diese Weise vereinnahmten Zuschauer*innen offen.

Wenn SIGNA ihr erprobtes, immersives Theaterformat mit einer Narration verbinden, die wie bei Das Heuvolk zur theatralen Realisierung eines autoritären Regimes führt, an dem Zuschauer*innen im Modus der geteilten Wirklichkeitssimulation beteiligt werden, dann kehrt sich zugleich das Autoritäre des Aufführungsdispositivs selbst hervor. Von Zuschauer*innen wird, wie dargelegt, nicht nur verlangt, sich mehreren extra- wie innerdiegetisch geltenden Regelwerken unterzuordnen, sondern sie werden überdies extra- wie innerdiegetisch vermittels komplexer affektiver Dynamiken zu einem hörigen Befolgen von Handlungsanweisungen verführt. So öffnet sich ein Erfahrungsraum für die Ambivalenz von Vereinnahmungsprozessen, in dem Zuschauer*innen ausloten können, wann selbstbestimmtes oder lustvolles Sich-Vereinnahmen-Lassen in ein unfreiwilliges, unbehagliches und autoritäres Vereinnahmt-Werden umschlägt und wo für jede*n Einzelne*n hier die individuellen Grenzen liegen.

209 Aus den Materialien von Signa Köstler (»Leitfaden zur ersten Station«).

210 Auszug aus dem Interview mit Mehrfachbesucher AK, der die Inszenierung insgesamt neunmal miterlebt hat.

211 »Die Motivation war: wir waren in einem ›Mitmachtheater‹. Wir mussten etwas tun, weil es sonst blöd war für die Schauspieler. Ich habe die ganze Zeit immer überlegt: Geht es den Schauspielern auch gut, was erwarten sie von uns und das ist ja auch blöd für sie, wenn wir nicht machen und nur zuhören und gucken. Das war also entscheidend für mich. Dieser Gedanke verschwand natürlich zwischendurch auch wieder, aber grundlegend war das so. […] Ich habe nie aus den Augen verloren: Wir sind eingeladen mitzuspielen und das müssen wir jetzt auch machen (SW 2016).« Oder: »Ich wollte insgesamt ein braver und erfolgreicher Sohn sein. […] Ich dachte: Das geht jetzt nicht, dass ich nichts preisgebe. […] Da war ganz klar, dass ich mitspiele, das gehört dazu, das ist höflich (TD 2016).«

212 In den Kunstwissenschaften ist die »Grenzüberschreitung« ein beliebter Topos – sei es für die Aushandlung von Genre- und Disziplingrenzen oder die Thematisierung von Provokationen und Skandalen, sei es zur Aushandlung der Relationen von Kunst und Leben, Kunst und Kommerz oder Autonomie und Heteronomie, vgl. Wenzel, 2011. Für Erika Fischer-Lichte bezeichnet der Begriff u. a. am Beispiel von Schechners Dionysus in 69 eine für die Aufführung konstitutive Vermischung von Ästhetischem und Sozialem (vgl. Fischer-Lichte, 2004a, S. 89f.), die ihr Publikum in einen Zustand »extremer Liminalität« (ebd., S. 111) zu versetzen vermag, einen Zustand, den sie mit Victor Turner auch als »Schwellenerfahrung« beschreibt. Benjamin Wihstutz überträgt dieses Verständnis einer ästhetischen Erfahrung als Schwellenerfahrung und vertritt die These, dass Zuschauer*innen in einer Performanceinstallation wie SIGNAs Die Erscheinungen der Martha Rubin in Situationen gerieten, in denen sie »über die Grenze zwischen einem Innerhalb und Außerhalb der Fiktion bisweilen nicht mehr urteilen […] könn[t]en« (Wihstutz, 2012, S. 102f.).

213 Auszug aus dem Erinnerungsprotokoll meines zweiten Besuchs von Das Heuvolk am 15.7.2017 in Mannheim.

214 Auszug aus dem Interview mit Zuschauer AK.

215 Etwa die Hälfte meiner 27 Interviewpartner*innen gaben auf Nachfrage an, dass sie selbst auch gerne einmal bei SIGNA mitmachen, also mitperformen wollen würden.

 

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