Theater der Zeit

Immersion und Theater/-wissenschaft

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

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Gegenwärtig wird nicht nur die Verwendung des Immersionsbegriffs immer unschärfer, sodass Immersion zum umbrella term für die Beschreibung ubiquitärer Phänomene im Bereich VR/transmediales Storytelling/digitale Medien(kunst) gerät. Auch unter dem metaphorischen Schirm dessen, was man »immersive theatre« nennt, werden – seitens der Kunstschaffenden, der Kritiker*innen wie auch der Theaterwissenschaftler*innen – äußerst diverse Aufführungsformate der Gegenwartskunst versammelt. Wie eingangs erwähnt, ist der Immersionsbegriff in die Theaterwissenschaft erst vergleichsweise spät, nämlich in den zehner Jahren, einerseits von Großbritannien, andererseits von Frankreich ausgehend, eingewandert. Ausschlaggebend für das erste theaterwissenschaftliche Kartografieren und theoretische Einordnen war das Aufkommen neuer, vornehmlich partizipativer und mit neuen Technologien experimentierender Theaterformen, die als »théâtre immersif« (Freydefont, 2010) oder »immersive theatre« (Machon, 2013) bezeichnet wurden.

Josephine Machon ist die erste Theaterwissenschaftlerin, die mit dem gewählten Plural Immersive Theatre(s) im Titel ihrer Monografie dieses vermeintlich neue Performance- und Theaterformenspektrum abgesteckt hat. Hierfür hat sie a) ein Beispielkorpus vornehmlich britischer Aufführungen versammelt, b) eine erste Anknüpfung an den transdisziplinären Immersionsdiskurs vollzogen, um Immersion als Modus der Theaterrezeption zu denken, c) über Künstler*innen-Interviews versucht zu klären, was produktionsästhetisch mit Immersion verbunden wird, d) eine Reihe möglicher historischer Vorläufer (von der Commedia dell’Arte bis zu Schechners Environmental Theatre) skizziert sowie e) einen ersten Entwurf dessen vorgelegt, was man als theaterspezifische ›immersive Erfahrung‹ beschreiben könnte.25

Als entscheidende formale Gemeinsamkeiten der bei ihr als immersiv in Rede stehenden Aufführungen von Gruppen wie Punchdrunk, Artangel, Coney oder Blast Theory hebt Machon in dichotomischer Abgrenzung zu »traditionellem Theater« die Einbeziehung des Publikums, die Priorisierung des Sinnlichen, die Bedeutung von Ort und Raum der Aufführung (vgl. ebd. S. 70ff.) sowie die Etablierung einer spezifischen »in-its-own-world«-ness (ebd., S. 93) als eine Art sinnlicher und/oder fiktionaler Welthaftigkeit hervor. Bezogen auf die Qualifizierung von Immersion als Modus ästhetischer Theaterrezeption setzt sie mit Rekurs auf Immersionstheorien aus den Game Studies bei einer graduellen Konzeption an: Während sich immersion as absorption im Theater generell primär auf der Ebene von Konzentration und kognitiv-imaginativer Aktivität abspiele (und demzufolge auch im »traditionellen Theater« denkbar ist), ziele immersion as transportation auf die situativ geteilte Anwesenheit von Zuschauer*innen und Performer*innen im otherworldly gestalteten Aufführungsraum immersiven Theaters. Als total immersion müsste ein spezifischer, besonders intensiver Zustand während der Rezeption gefasst werden, der eine situative Erfahrung von »praesence« (vgl. ebd., S. 62f.) ermögliche. Wie die Schreibweise anzeigt, meint sie hier nicht ein Präsenzempfinden, wie es Grau für die Bildrezeption und Autor*innen der Game Studies für die Rezeption von Computerspielen mit Immersion verknüpfen, nämlich als Gefühl von Anwesenheit am mediatisierten Bildort, sondern eine besondere Gegenwärtigkeit multisensorischen Erlebens dessen, was einem in situ buchstäblich vor die Sinne kommt und auf diese Weise Aufmerksamkeit für das eigene situative, sinnliche In-der-Welt-Sein zu produzieren vermag (vgl. ebd., S. 44). Machon akzentuiert, dass Zuschauer*innen von »immersive theatre« eine »live(d) embodied experience« (ebd.) machten, die sich nicht nur live im Hier und Jetzt der Aufführung ereigne, sondern in erster Linie eine situativ mit allen Sinnen er- und gelebte Erfahrung sei. Mit dieser verbinde sich überdies ein symptomatisches Zusammenspiel im Sinne eines »Verschmelzens« (fusing) von Prozessen somatischer Sinneswahrnehmung (sense-making) und semantischer Sinnstiftung (making sense) (ebd., S. 32).

Eine explizite Differenzierung von »immersive theatre« als Genre und der Theoretisierung einer spezifischen, als immersiv zu bezeichnenden Erfahrung nimmt Rose Biggin in Immersive Theatre and Audience Experience. Space, Game and Story in the Work of Punchdrunk (2017) vor. Im Rahmen einer Kooperation zwischen Punchdrunk und der Universität Exeter begleitete Biggin die britische Kompagnie für vier Jahre und nimmt mit einer »Spectator-Participation-as-Research«-Methode vor allem die Arbeiten The Borough, The Crash of the Elysium und The Drowned Man in den Blick. Auch Biggin geht davon aus, dass eine immersive Erfahrung graduell verlaufe und an die variierende Intensität der Zuschauer*innen-Involvierung gebunden sei. Entlang zahlreicher Konzepte wie Interaktivität, Flow, Präsenz und Empathie aus verschiedenen Disziplinen entwickelt sie Kriterien für das, was ihrer Auffassung nach eine immersive Erfahrung im Theater auszeichne. Ihre Analysen legen Zeugnis davon ab, dass eine solche nur unzureichend theoretisch zu verallgemeinern ist, ohne lediglich zum diffusen Synonym für eine ästhetische Erfahrung zu werden.

Dass sowohl bei Machon als auch bei Biggin Versuche einer Definition einer »immersiven Erfahrung« einigermaßen unkonkret und abstrakt bleiben, hängt meines Erachtens maßgeblich mit der formalen Diversität ihrer Aufführungsbeispiele zusammen. So setzt sich der Gegenstandsbereich bei Biggin aus einem geführten Audiowalk, den der*die Teilnehmende allein bestreitet (The Borough), einem vornehmlich für Kinder produzierten, partizipativen Adventure-Format (The Crash of the Elysium) und einer weiträumigen Performanceinstallation, die eine inszenierte Weltversion der fiktiven Temple-Filmstudios kreiert und darin Figuren und Handlungsstränge aus Büchners Woyzeck integriert (The Drowned Man), zusammen. In Machons Studie ist das Aufführungskorpus sogar noch diverser, insofern neben den genannten auch One-on-Ones, delegierte und Theatre in the Dark-Aufführungsformate in den Blick genommen werden.

Was Machon und Biggin sowohl mit der Genrebezeichnung »immersive theatre« als auch mit ihren Entwürfen dessen versuchen, was man als immersive (Rezeptions-)Erfahrung beschreiben könnte, ist, theoretisch auszuloten, wie man die zahlreichen und mannigfaltigen Weisen der Publikumsinvolvierung – seien sie kognitiv, imaginär, emotional, affektiv, narrativ, somatisch und/oder handlungsbezogen – in ein Aufführungsgeschehen, das mit der räumlichen Trennung von Zuschauerraum und Bühne bricht, begrifflich erfassen könnte. Der Immersionsbegriff mit seiner geräumigen Eintauch-Metapher erfüllt auf der Ebene des ersten Kartografierens von »immersive theatre« eine Art begrifflicher Container-Funktion. Auf der Ebene der ersten Konzeptualisierung einer immersiven Erfahrung markiert und bezeugt er, dass die rezeptionsästhetische Modalität von Immersion bei allen Aufführungsbeispielen divergiert – mal müsste man von einem imaginären oder mentalen, mal von einem konkret situativen und/oder handlungsbezogenen ›Eintauchen‹ sprechen – und sich deshalb mit dem Immersionsbegriff nicht sinnvoll verallgemeinern lässt.

Neben Josephine Machon und Rose Biggin haben sich in Großbritannien auch Theaterwissenschaftler*innen wie Adam Alston, Jen Harvie und Gareth White mit »immersive theatre«-Aufführungen im Kontext des institutionalisierten Kunsttheaters beschäftigt. Dabei arbeiten sie vor dem gesellschaftlichen Hintergrund ›westlicher‹, kapitalistischer, neoliberaler Demokratien in stärkerem Maß eine dezidiert kritische Perspektive auf jene Formen der Zuschauer*innen-Partizipation heraus, wie sie in »immersive theatre«-Aufführungen auffindbar sind.26 Zu der vielschichtigen Kritik an Partizipationsformen kommt jüngst u. a. über Positionen von Theatermacher Jorge Lopes Ramos der britischen Company ZU-UK (2020) oder Tanzwissenschaftlerin Royona Mitra (2016) auch grundlegende Kritik am Begriff und den epistemologischen Prämissen von Immersion hinzu. So schlägt Mitra vor, das indische Konzept »rasa«, das eine Form von (ganzheitlich) verkörperter Zuschauerschaft (embodied spectatorship) theoretisiert, zu de-exotisieren und zu de-sanskritisieren, indem sie es transkulturell als Immersion auffasst, was wiederum zur Dekolonialisierung eines Immersionsverständnisses führt, das zuvorderst über das Visuelle oder eine rezeptionsästhetische Binarität von aktiv/passiv gedacht wird (vgl. Mitra 2016, S. 89f.).

Mit dem Wegzug aus London und der angepassten Neuinszenierung von Punchdrunks Sleep no more in New York 2011 sowie dem Aufkommen vergleichbarer komplexer Performanceinstallationen wie Then she fell von Third Rail Project (2012) oder The Queen of the Night von Randy Weiner (2013) beginnt auch bei amerikanischen Theaterwissenschaftler*innen eine Auseinandersetzung mit »immersive theatre«, das in den USA gleichsam als Genre mit dem zentralen Definiens einer »intensification of experience« (Frieze, 2016, S. 5) anzukommen scheint. Im US-amerikanischen Diskurs zu »immersive theatre« lassen sich gegenüber seinem britischen Pendant mindestens zwei entscheidende Akzentverschiebungen beobachten: Zum einen wird »immersive theatre« als politisch wirksame Form von zeitgenössischem applied theatre entdeckt (vgl. u. a. Dinesh, 201727), womit Genealogien immersiver Theaterformen nicht mehr so stark im Feld des Kunsttheaters als vielmehr im Bereich reformpädagogischer Arbeiten wie der Dramatherapie oder Boals politisch bildendem Theater der Unterdrückten ausgemacht werden (vgl. u. a. Sterling/McAvoy, 2017). Zum anderen findet mit Theaterwissenschaftler*innen wie Scott Magelssen und Natalie Alvarez eine Auseinandersetzung mit Immersion jenseits künstlerischer Produktionen von »immersive theatre« à la Punchdrunk im Bereich von cultural performances statt (vgl. Magelssen, 2014; Alvarez, 2018).

Pamela Sterling und Mary McAvoy, deren praktische wie wissenschaftliche Tätigkeit vornehmlich im Bereich (angewandten) Jugendtheaters liegt, vertreten die These, dass es im Hinblick auf Engagement und emanzipatorische Potentiale einen engen Zusammenhang zwischen »immersive theatre« und pädagogischen Techniken gäbe, wie sie von Pionier*innen der Dramatherapie seit den dreißiger Jahren als unmittelbare Reaktion auf John Deweys einflussreiche Schriften zur Reformpädagogik entwickelten worden seien. Mit Rekurs auf die Arbeiten von Peter Slade, Brian Way oder Dorothy Heathcote – allesamt Vertreter*innen progressiver künstlerischer Erziehungsmethoden, die weitestgehend aus dem akademischen Diskurs und der künstlerischen Praxis herausgefallen seien (vgl. Sterling/McAvoy, 2017, S. 100) – betrachten sie »immersive theatre« gleichfalls als eine praktische, angewandte Theaterform, bei der sich Teilnehmer*innen in zwischen Spiel und Therapie changierenden Übungen, bei denen die Grenze zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen aufgehoben wird, im geschützten Umfeld in fiktive oder fiktionalisierte, lebensweltliche Szenen hineinbegeben und diese körperlich in situ voreinander ausagieren können.

Auch in »Simmings«, verstanden als »live, three-dimensional, immersive environments in which spectator-participants engage in the intentionally simulated production of some aspect of real or imagined society, recognized as such by all parties« (Magelssen, 2014, S. 5), gehe es Scott Magelssen zufolge primär darum, Menschen in einem Modus unmittelbaren, leiblichen Erlebens in situ etwas über die Welt zu vermitteln (vgl. ebd., S. 190). Insbesondere bei Simmings im Bereich von living history-Angeboten besteht nicht selten eine konkrete Wirkungsabsicht, wie z. B. die Steigerung des Vorstellungsund/oder Einfühlungsvermögens der Teilnehmer*innen. Dabei wird neben der leiblichen Involvierung auch häufig mit der Technik des Perspektivwechsels gearbeitet, d. h., dass Teilnehmer*innen eingeladen sind, in die simulierte Lebenswelt einer anderen Person oder Personengruppe ›einzudringen‹, um für eine Zeit lang deren Perspektive(n) auf die Situationen und Ereignisse einzunehmen und sich auf diese Weise in sie einzufühlen.28

Simmings, die als »forms of intercultural rehearsal theater« (Alvarez, 2018, S. 2) insbesondere der erfahrungsbasierten Vermittlung interkultureller Perspektiven dienen, analysiert Natalie Alvarez in ihrer Studie Immersions in Cultural Difference. Tourism, War, Performance. Dabei reichen ihre Aufführungsbeispiele von LARP-Workshops eines privaten US-amerikanischen Beratungsunternehmens, bei denen sich Mitarbeiter*innen durch fiktional gerahmtes, körperliches Ausagieren in aufrührerische Praktiken einer islamischen terroristischen Vereinigung gleichsam »auf Probe« einfühlen sollen; über militärische Trainingscamps, in denen Soldaten in komplexen Simulationen auf ihre Auslandseinsätze vorbereitet werden29; bis hin zu dark tourism-Angeboten, bei denen Tourist*innen die Möglichkeit bekommen, sich in die Situation mexikanischer Immigrant*innen hineinzuversetzen, indem sie selbst einen nächtlichen Grenzübertritt im Modus der Simulation durchspielen.30 Es geht bei all diesen Formaten, an denen Alvarez im Rahmen ihrer Forschung im Modus einer »immersive performance ethnography« (ebd., S. 32) selbst teilgenommen hat, im Kern – und damit analog zu angewandten Formen wie dem Psychodrama, Forumtheater oder Lehrstück – darum, einer Situation oder einem Konflikt nicht lediglich von außen zuzuschauen, sondern selbst darin verwickelt zu werden, um sie »aus erster Hand« (ebd., S. 3) zu erleben und auch entsprechend lösen zu lernen.

Immersion wird in diesen Positionen theaterwissenschaftlicher Forschung einerseits wieder viel stärker technikunabhängig, analog und materiell gedacht (wie bei der Immersionstaufe oder dem Fremdsprachenerwerb). Andererseits schließt das Nachdenken über Simmings unmittelbar an jene den Körper integrierenden (analogen) Immersionsräume an, die wie Erlebnisressorts oder Themenparks Besucher*innen mit allen Sinnen an eine bestimmte Perspektive, Weltsicht, ganze simulierte Weltversion oder Lebenswelt-Miniatur ›koppeln‹. Insbesondere im Kontext transkultureller Vermittlungspraktiken geht es dabei nicht selten – analog zur Position von Liam Jarvis31 – darum, sich über das körperliche Ausagieren einer bestimmten Rolle, Aufgabe oder Funktion in einer Simulation in eine Position eines ›Anderen‹ einzufühlen. Gerade an dieser Stelle manifestiert sich Alvarez zufolge eine weitere Ambivalenz solcher machtvollen Eintauch-Konstellationen. Denn je nach Teilnehmer*in könne das Eintauchen in ein gestaltetes Setting sowohl zur dekolonialen Dekonstruktion eines konstruierten (rassifizierenden und/oder exotisierenden) Wissens über den vermeintlich ›Anderen‹ beitragen, als auch umgekehrt just eine (neo-)koloniale Fortschreibung dieser Konstruktion bewirken (vgl. ebd., S. 3). Dies liege daran, dass in Trainingssimulationen wie jenen der U.S. Army an die Stelle der ›echten‹ Begegnung die Begegnung mit einem type-gecasteten staged cultural other trete, wodurch kulturelle Imaginationen und Konstruktionen des ›Anderen‹ in stereotyper und ideologisch gefärbter Weise aktualisiert und damit auch Praktiken rassifizierenden otherings normalisiert würden. Außerdem nähmen die Trainierenden zumeist die Rolle der Überlegenen ein, sodass Immersion hier auch als kulturelle Strategie dezidiert hegemonialer Wissensproduktion in den Blick käme (vgl. ebd., S. 21 – 65), die insbesondere »das westliche Subjekt als den Ort des Wissens und den Punkt, von dem aus alles gewusst werden kann« (ebd., S. 164, dt. TS), unmarkiert zu naturalisieren neige.

Zeitgleich zu den skizzierten anglophonen Debatten um »immersive theatre« und Immersion im Kontext kultureller Performances hat sich der französische Szenograf Marcel Freydefont im Rahmen der Forschungsgruppe Groupe d’étude et de recherche scénologique en architecture an der Universität Nantes mit dem Thema Immersion beschäftigt und die Bezeichnung »théâtre immersif« in den französischen Diskurs eingeführt (vgl. Freydefont, 2010). Aus der Perspektive eines Szenografen entwickelt Freydefont seine Idee vom »théâtre immersif« ausgehend von den utopischen Raumentwürfen der historischen Avantgarde, insbesondere des Totaltheater-Entwurfs von Walter Gropius für Erwin Piscators Theater (1927) oder den Raumbühnen-Entwürfen von Friedrich Kiesler (1924). Aus dieser genealogischen Perspektive betrachtet, setze das sogenannte »théâtre immersif« vor allem ein utopisches Projekt im Rahmen von Kunst fort (vgl. ebd., S. 2).

Freydefont unterscheidet vier »Familien« innerhalb des Formenspektrums von »théâtre immersif«: a) Pavillons, Planetarien, CAVEs und immersive Environments, b) Theaterbühnen, c) augmentierte und digitale Bühnen, d) Theater ohne bzw. jenseits von (konventionellen) Bühne(n). Für die ersten medialen Raumdispositive (a) sei – analog zu Grau – zentral, dass es den Zuschauer*innen qua panoramatischer Perspektive ermöglicht werde, in den 360-Grad-Bildraum eintauchen zu können (vgl. ebd., S. 12). Für die zweiten medialen Raumdispositive (b) ist insbesondere das Moment der Aktivierung des Theaterpublikums zentral. Mit historisierendem Rekurs auf den russischen Theatermacher Wsewolod Meyerhold und den tschechischen Bühnenbildner Josef Svoboda akzentuiert Freydefont, dass es darum gehen müsse, den Zuschauenden die Position »au cœur de l’action« (ebd., S. 18) zuzuweisen und überdies nicht mehr nur eine schwerpunktmäßig audiovisuelle Rezeption, sondern eine multisensorische Erfahrungsdimension anzubieten. In der dritten Gruppe (c) versammelt er verschiedene Beispiele von künstlerischen VR-Experimenten aus dem französischsprachigen Raum, bei denen es vor allem um die Einbeziehung der Nutzer*innen in einen virtuellen Raum geht. Mit der letzten Gruppe »théâtre sans théâtre« (d), zu der Interventionen in den Stadtraum genauso gehören können wie multimediale Experimente im Netz, adressiert er schließlich zuletzt noch den charakteristischen, mit der Immersion verknüpften Topos einer Grenzverwischung – und zwar zwischen Kunst und Leben oder Fiktion und Realität (vgl. ebd., S. 33).

Im Gegensatz zu Machon kartografiert Freydefont weder ein potentiell neues Genre noch Merkmale immersiver Erfahrung. Vielmehr benennt er aus seiner Perspektive eines Szenografen die Neuerungen und Besonderheiten von räumlichen und medialen »dispositifs immersifs« (ebd., S. 5), wobei er diese mit und über Giorgio Agamben hinaus nicht nur als machtvoll, sondern auch als potentiell ermächtigend begreift:

Nous définirons par dispositif, comme Giorgio Agamben «tout ce qui a, d’une manière ou d’une autre, la capacité de capturer, d’orienter, de déterminer, d’intercepter, de modeler, de contrôler et d’assurer les gestes, les conduites, les opinions et les discours des êtres vivants» en apportant à cette définition une inflexion capitale, celle de l’appropriation, à l’opposé d’une dépossession […]. Le dispositif n’est donc pas à sens unique: il n’a pas pour seule finalité une fonction de contrôle social, esthétique et idéologique. Il peut – il doit – être excédé. Tout dispositif s’expose au détournement, au renversement, au débordement. Il est donc avant tout un truchement réversible dont l’efficacité tient à son élasticité (ebd., S. 10).32

Den szenischen Raum im »théâtre immersif« versteht Freydefont sowohl als materiellen Rahmen wie auch als vorgestellte Welt, er ist also Ort der Repräsentation und die Repräsentation eines ›anderen‹ Orts zugleich. Zuschauer*innen werden nun auch physisch und multisensorisch eingebunden, werden damit Teil jenes oszillierenden Raums, der aus szenischen Aktionen und sozialen Begegnungen relational hervorgebracht wird (vgl. ebd., S. 9). Bezeichnend sei nun, dass diese – vornehmlich szenografisch gedachten – immersiven Dispositive wirkungsästhetisch dazu neigten, den Zuschauenden zu desorientieren (déboussoler) und zu verunsichern (dépayser) (vgl. ebd., S. 18). Vor dem Hintergrund der von ihm verfolgten genealogischen Linie zur positiv konnotierten Aktivierung (im Sinne der Emanzipation) des Publikums von Künstler*innen der historischen Avantgarde und unter der Prämisse, dass er mit Immersion auf der Ebene der Rezeption stets ein produktives Moment des Oszillierens zwischen Präsentation und Repräsentation, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Akteur- und Zuschauer-Sein und auch zwischen sinnlicher Absorption und Reflexion denkt, erklärt sich, warum er die Neuerungen immersiver Dispositive im Theater sowie ihre potentiellen Wirkungen auf die Zuschauer*innen nicht – wie im anglophonen Raum vor allem Alston oder White – vornehmlich als neoliberale »experience machines« (Alston, 2016, S. 2) kritisiert, sondern sie explizit als Möglichkeitsräume begreift, die durch die Einbeziehung der Zuschauenden Verbindungen zwischen Utopie und Raum, Utopie und Gemeinschaft sowie Utopie und Repräsentation herzustellen vermögen (vgl. ebd., S. 49).

Den Fokus auf die Analyse sich wandelnder intermedialer Szenografien und Raumästhetiken im Gegenwartstheater setzt in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft insbesondere Birgit Wiens. Dabei nimmt sie vor allem die Szenografie selbst als Dispositiv in den Blick, »als eine durch kulturelle und institutionelle Normen, Erwartungen und Regeln geformte und veränderliche Größe« (Wiens, 2014, S. 37), die »den Ort bzw. Raum des Theaters als grundständig variable, ›plurimediale‹ und in ihren Mitteln erweiterbare, stets neu zu bestimmende Konfiguration behandelt« (ebd., S. 88) und im Hinblick auf eine bestimmte Aufführung als sich materialisierende Organisation von Bühne und Bühnenraum und damit festgelegten Wahrnehmungsordnungen zu analysieren wäre (ebd., S. 84).33 Für das Gegenwartstheater stellt sie als symptomatische Neuerungen für das Dispositiv der Szenografie(n) a) das Durchbrechen der frontalen Gegenüberstellung von Bühne und Zuschauerraum, b) die Modularisierung verschiedener Raumelemente, c) die konzeptionelle Verschränkung von Szenografie und Dramaturgie, d) einen verstärkten Austausch mit der bildenden Kunst, e) eine Technisierung und gesteigerte Komplexität der Bühne sowie f) eine vermehrte Aktivierung der Zuschauenden fest (vgl. ebd., S. 83f.), ohne sie dabei allerdings wie Freydefont im begrifflichen Kontext von Immersion zu betrachten.

Auch die französische Theaterwissenschaftlerin Julie Sermon reklamiert für das Theater des 21. Jahrhunderts einen Wandel vom Theater(raum) als dem ›Ort, an dem man schaut‹ zu einem ›Ort, in den man eintaucht‹ (Sermon, 2013, S. 182, dt. TS). Sie spricht wie Freydefont von »immersiven Dispositiven«, die die Aufführungen des beginnenden 21. Jahrhunderts prägten und ihrer Meinung nach einen Paradigmenwechsel einleiteten. Es handle sich um Aufführungen, bei denen Zuschauer*innen dem Geschehen nicht mehr gegenübersäßen, sondern von ihm umgeben wären, bei denen sie sich eigenständig im Raum bewegen könnten und sich ihnen im Modus interaktiven Erkundens eine ›andere‹, nicht-alltägliche Weltversion eröffnen könne (vgl. ebd., S. 183f.). Am Beispiel von Arbeiten des belgischen Kollektivs CREW folgt Sermon Freydefont in dessen emphatischem Ansatz, dass das »théâtre immersif« mit seinen räumlichen, multisensorischen und interaktiven Einbindungsstrategien in der Lage sei, sein involviertes Publikum auf produktive Weise zu verunsichern und zu überfordern. Indem es die Grenzen zwischen real und simuliert, zwischen live und mediatisiert, zwischen direkt und verzögert usw. systematisch verschwimmen lasse, würden Zuschauer*innen angeregt werden, auch andere, das westliche Denken prägende Dichotomien wie Körper/Geist, Selbst/Andere, Kultur/Natur etc. produktiv in Frage zu stellen (vgl. ebd., S. 222).

Die Positionen von Freydefont, Wiens und Sermon beschreiben einen Wandel des theatralen Dispositivs hinsichtlich der räumlichen, interaktiven und multisensorischen Wahrnehmungsordnung(en) von involvierten Zuschauer*innen in immersiven Aufführungen des Gegenwartstheaters. Dabei weisen ihre Ausführungen vielfältige Parallelen zu ausgewählten Apparaturen aus Kapitel 1.2 auf. In einem neuen Maß und Umfang wird der Körper der Theaterzuschauenden im »théâtre immersif« zum Medium der Erfahrung und Bedeutungsgenerierung. Wir haben es mit künstlerisch gestalteten Umgebungen (environnements) zu tun, mit welchen Gäste im Rahmen der Aufführung durch verschiedene (szenografische, narrative, emotionale oder interaktive) Strategien der Involvierung ›gekoppelt‹ werden, wobei je spezifische Beziehungen zwischen Subjekt und Weltversionhergestellt werden. Während Freydefont und Sermon Genealogien des Immersiven insbesondere in der Theatergeschichte aufzeigen, rekurriert Estelle Sohier (et al., 2019) bei der Beschreibung gegenwärtiger transmedialer »dispositifs de simulation du monde« auf die Analogie und historische Nähe von Panoramen, Dioramen, Zoologischen Gärten, Themenparks, VR-Experimenten und »théâtre immersif«. Ich schließe mich dieser Perspektive an, insofern ich das ›Immersive‹ im Kontext des Gegenwartstheaters verstärkt über den Aspekt des Worldbuildings und die jeweils konstellierten, bedeutungsgenerierenden Selbst-/Weltbezüge plausibilisieren möchte.

Mit Blick auf dominante, neue theatrale und szenografische Dispositive, die sich in Aufführungen des Gegenwartstheaters zeigen und Zeugnis einer Neukonfiguration der Relation von Bühne und Zuschauer*innen ablegen, haben wir es mit einem neuen Spektrum an Formen der Publikumsinvolvierung zu tun, die es für die Theaterwissenschaft überhaupt erst systematisch und begrifflich zu fassen gilt. Ich strebe in meiner Studie auf einer methodischen wie theoretischen Ebene eine produktive Synthese von Positionen beider Perspektiven auf Immersion an: vom Subjekt her (1.1) und von der Wirkung der Apparaturen (1.2) her. Dafür gilt es im Folgenden zu bestimmen, wodurch sich immersive Dispositive im Gegenwartstheater auszeichnen (2.1), was die Bezeichnung »immersives Theater« im engeren Sinn meint (2.2) und dass sich – über die polyperspektivische Analyse von Publikumsinvolvierungen in ausgewählten immersiven Theateraufführungen – wirkungsästhetisch herausarbeiten lässt, dass das Immersive hinsichtlich produzierter Selbst-/Weltverhältnisse über komplexe sozial-relationale Prozesse der Vereinnahmung spezifiziert und auf diesem Weg als gewinnbringende Kategorie für die theaterwissenschaftliche Theoriebildung von Publikumsinvolvierung im immersiven Gegenwartstheater fruchtbar gemacht werden kann.

25 Interessanterweise liefert Machon in ihrer Monografie nicht eine konkrete Aufführungsbeschreibung und/oder -analyse. Eine solche findet sich – zumindest für die Produktion The Pleasure of Being: Washing, Feeding, Holding von Adrian Howells – in Frieze, 2016, S. 29 – 42.

26 Einen roten Faden in der Kritik partizipativer Arbeiten bilden Kontroversen um die tatsächlichen Handlungsspielräume, die Zuschauer*innen zugesprochen werden: Sind diese so eng und in sich bestimmend, dass eine Steigerung der agency im Grunde nur simuliert werde (vgl. u. a. Frieze, 2016, S. 23)? Dient partizipatives Theater der Einübung seiner Zuschauer*innen in das neoliberale Ethos, das Risikobereitschaft, Umgang mit Unsicherheit(en) und narzisstische Ellenbogenmentalität privilegiert (vgl. u. a. Alston, 2016)? Und normalisiert es Formen der Arbeit im Gewand des ›Zuschauens‹, insofern Zuschauende zu Prosument*innen werden, zu Akteur*innen, die das, was sie konsumieren, überhaupt erst (mit-)hervorbringen (vgl. u. a. Harvie, 2013, mit Toffler, 1984)?

27 Nandita Dinesh verhandelt »immersive theatre« als Form angewandten Theaters im Kontext von Krieg und in Krisengebieten und kombiniert dafür praktische Theaterarbeit mit empirischer Begleitforschung, vgl. Dinesh, 2018a; Dinesh, 2018b. Sie weist über Befragungen nach, dass sich in immersiven Theaterformen eine stärkere Einfühlung seitens der Zuschauer*innen einstelle, was sich vor allem aus der temporären Übernahme bzw. Einnahme einer ›anderen‹ Perspektive oder Position innerhalb eines abgeschlossenen Szenarios ergäbe, vgl. Dinesh, 2017, S. 120ff.

28 Ein solches Beispiel wäre die Produktion Follow the North Star, die 2013/14 als Performance-Attraktion im Conner Prairie Interactive History Park, einem Living History-Themenpark in Indiana angeboten wurde. Hier waren die Teilnehmer*innen eingeladen, sich im Rahmen eines inszenierten Parcours in die Rolle bzw. die lebensbedrohliche Situation von ehemaligen Sklav*innen einzufühlen, die um 1830 versuchten, mit Unterstützer*innen der Underground Railroad Richtung Kanada zu flüchten, vgl. Magelssen, 2014, S. 29 – 47. Für weitere Erfahrungsberichte zu Follow the North Star siehe Cauvin et al., 2018; Bowman, 2016, S. 63 – 76.

29 Alvarez rekurriert hier auf das Trainingscamp Wainwright der kanadischen Streitkräfte in Alberta, wo afghanische »Scheindörfer« installiert wurden, um Soldaten mit afghanischen Rollenspieler*innen potentielle Konflikte, die in den auswärtigen Kriegsgebieten aufkommen könnten, durchspielen zu lassen. Ein analoges Beispiel – die Vorbereitung von Soldaten im National Training Center (NTC) im US-amerikanischen Fort Irwin, wo eine fiktive irakische Provinz mitten in der Wüste errichtet wurde, um ganze Truppen auf das Leben im Irak, auch auf den Umgang mit der Zivilbevölkerung vor Ort einzustellen – bespricht Magelssen unter dem Begriff der »Theatre Immersion«, vgl. Magelssen, 2009.

30 Für weitere kritische Einordnungen und Erfahrungsberichte zu der Produktion La Caminata Nocturna: The Border Crossing Experience, auf die sich Alvarez bezieht, siehe Magelssen, 2011. Es gibt in den USA mit BorderLinks in Arizona noch einen zweiten Anbieter, der simulierte Grenzübertritt-Performance-Walks zwischen Mexiko und den USA für Tourist*innen inszeniert, siehe dazu Adler, 2019.

31 Liam Jarvis beschäftigt sich in seiner Studie Immersive Embodiment. Theatres of Mislocalized Sensation (2019) nicht mehr mit ›vor den Augen getragenen Apparaturen‹ (wie die in Kap. 1.2 vorgestellten Beispiele von Sensorama oder VR-Brille), sondern mit neueren, mitunter den ganzen Körper betreffenden Mensch-Technik-Kopplungen, die auf die Erfahrung eines »Bodyswappings«, also eines temporären Körperwechsels, abheben. So lasse sich z. B. mit dem Tragen eines Anzugs als junger Mensch die Erfahrung des Alters inkl. schmerzender Knochen machen. Auch Epilepsie, Erblindung und andere körperliche Einschränkungen könnten mit solcherlei Apparaturen konkret leiblich nachempfunden und so – im Sinne eines »empathy activisms« (ebd., S. 112) – Einfühlungsvermögen nachhaltig steigern. Jarvis vertritt dabei die These, dass immersive Erfahrungen in diesem Kontext einem ontologischen wie relationalen Begehren »to feel more fully with the body of another« (ebd., S. 3) folgten. Auch diese Beispiele verweisen auf jene Ambivalenz von Immersionserfahrungen, auf die wir bereits mehrfach gestoßen sind: Ihnen wohnt zugleich das Potential einer bereichernden Selbsterkenntnis und eines gesteigerten Einfühlungsvermögens inne, sie können aber auch in dem Maße, in dem der Körper gesamtleiblich involviert ist, schnell in die Nähe von »Experimenten mit ›echten‹ Menschen« (Fritz, 2014) abdriften, vgl. Jarvis, 2019, S. 8f.

32 Wir definieren mit Giorgio Agamben als Dispositiv »alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern«. Dabei gibt er dieser Definition eine entscheidende Wendung, indem er von der Aneignung im Gegensatz zur Enteignung spricht. Das Dispositiv ist also keine Einbahnstraße: Es hat nicht nur den Zweck der sozialen, ästhetischen und ideologischen Kontrolle. Es kann – muss und sollte – auch überschritten werden. Jedes Dispositiv ist der Gefahr der Zweckentfremdung, des Sturzes und des Übergriffs ausgesetzt. Es ist also ein reversibles Gebilde, dessen Wirkungsgrad von seiner Flexibilität abhängt (dt. TS; für die Übersetzung des Agamben-Zitats, vgl. Agamben, 2008, S. 26).

33 Sie folgt darin dem französischen Theaterwissenschaftler Patrice Pavis, der gleichfalls vorgeschlagen hat, die Szenografie im Sinne Foucaults als »Dispositiv« zu bezeichnen und zu analysieren, vgl. Wiens, 2014.

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