Report
Identitätskämpfe im Grenzgebiet
Das Vabaduse-Festival in Narva beleuchtet estnisch-russische Konflikte an einer sensiblen Grenze
von Tom Mustroph
Erschienen in: Theater der Zeit: Neues Musiktheater (10/2025)
Assoziationen: Europa Dossier: Festivals Dossier: Ukraine
Märt Meos läuft mit einer funkelnagelneuen Ukraine-Flagge durch das Vaba Laba Theater in Narva. „Jemand muss in der Nacht die Fahne heruntergerissen haben. Jetzt haben wir eine neue“, sagt er zu Theater der Zeit und vermutet einen der Putin-Anhänger unter der zu 95 Prozent russischsprachigen Bevölkerung als Täter. Mit stoischem Gesichtsausdruck geht der Organisator des Vabaduse-Festivals (deutsch: Festival der Freiheit) nach draußen und befestigt die neue Fahne.
Diese Episode illustriert gut die Verhältnisse in Narva. Die Stadt liegt unmittelbar an der Grenze zu Russland. Über den Grenzfluss führen zwar mehrere Brücken hinüber zur einstigen Schwesterstadt Iwangorod. Ihre Funktion als Bauwerke der Verbindung haben sie aber weitgehend eingebüßt. Eine Hängebrücke für Fußgänger:innen, die auf dem Gelände des früheren Textilwerks Kreenholm einst dem kleinen Grenzverkehr für Est:innen und Russ:innen diente, schwankt halbzerstört und vollkommen verwahrlost im Wind. Eine mächtige Stahlbetonbrücke, 1960 eingeweiht und mit dem Namen „Brücke der Freundschaft“ versehen, ist aktuell von Panzersperren blockiert. Nur noch zu Fuß gehen vereinzelt Menschen hinüber. Russ:innen, die nach Europa wollen, Einwohner:innen von Iwangorod, die Verwandte in Narva
besuchen, Bewohner:innen von Narva, die ihrerseits Familienangehörige auf der anderen Seite aufsuchen.
Migration und Bevölkerungsaustausch
In der langen Schlange am Grenzübergang ist vor allem Russisch zu hören....
