Rezension
ABC der Ideen
Ein opulenter Band zeigt das Werk des Bühnenbildners Karl Kneidl
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Neues Musiktheater (10/2025)
Assoziationen: Kostüm und Bühne Buchrezensionen Frank M. Raddatz

Karl Kneidl hat rund 50 Jahre für Theater in der Zusammenarbeit mit verschiedenen Regisseuren Bühnenbilder gemacht. Mit Wilfried Minks, Karl-Ernst Herrmann und Erich Wonder gehört er zu jener Theatergeneration, die aus den Aufbrüchen der 1960er Jahre heraus die visuelle Gestalt des westdeutschen Theaters maßgeblich veränderten. Seine Regiepartner waren, vor vielen anderen, Niels-Peter Rudolph, Hans Neuenfels, Peter Palitzsch, Fritz Marquardt und der späte Peter Zadek.
Ein bedeutendes Stück Theatergeschichte kann hier also aufgeblättert werden. Für die gewiss nicht einfache Frage, wie das kaum zu überschauende Material aus unterschiedlichen Zeiten an den verschiedensten Theatern angeordnet werden könnte, hatte der Herausgeber Frank Raddatz, wie er schreibt, bei einem Nachmittagsnickerchen die zündende Idee, „die Dramaturgie des Buches über die Alphabetisierung der Materialien zu organisieren“.
So geht es also los mit Autos, von denen mindestens ein Dutzend für eine „Baal“-Inszenierung 1986 in Nürnberg auf die Bühne gestellt wurden, zusammen mit einer Reminiszenz an eigene Autos. Kneidl hatte sich offenbar von altmodischen Nachkriegswagen schnell bis in die Jaguar-Klasse hochgearbeitet, was ein Foto mit einem den Besitzer anstaunenden Herbert Achternbusch beweist. In gewisser Beziehung steht dazu der Abschnitt R wie Reifen, wo Kneidl tatsächlich ein ganzes Bühnenbild für Hauptmanns „Rose Bernd“, ebenfalls in Nürnberg, aus Auto- und Traktorreifen entwarf.
Es gibt Erde, Feuer, Glas, Kohle, Lichtkörper, Schlamm und Torf als Realien in Kneidls neuartigen Bühnenbildern, die nicht mehr aus der Theatertischlerei und dem Fundus kommen, sondern von einer selbstbewussten Materialsetzung künden, mit der das Regietheater der 1960er bis 1980er Jahre manchmal provokativ gegen die mit tradierten Dramaturgien überlieferten Sehgewohnheiten auf die Bühne kam. An Kneidls Entwicklung, die hier natürlich nicht linear gezeigt wird und auch nicht linear verlaufen ist, kann man den Aufstieg des Bühnenbilds zur beinahe autonomen Kunst im Theater studieren. Dass Katrin Brack seine Studentin war, lässt die Sache in noch größeren Zusammenhängen sehen.
Der Wechsel der Abbildungsarten – Skizzen, Aufführungsfotos, gemalte Entwürfe, Plakate, Faksimiles – macht das Buch zuABC der Ideen Ein opulenter Band zeigt das Werk des Bühnenbildners Karl Kneidl Von Thomas Irmer Weitere Buchrezensionen finden Sie unter tdz.de sammen mit den kleinen Erinnerungs- und Kommentartexten lebendig zu einem echten Album für theaterhistorische Ansichten. Einige Texte stammen aus Peter Zadeks immer gut zu lesenden Theatermemoiren. Anekdotisches ist auch dabei wie die Begegnung mit Heiner Müller vor dessen Uraufführung von „Prometheus“ 1969 in Zürich. Als der in Ost-Berlin aufgesuchte Dramatiker nach Ansicht der Entwürfe sich nach den Kostümen erkundigt, wird mit „Die sind alle nackt!“ die Diskussion beendet.
Etwas rätselhaft bleibt der Untertitel der Gespenster-Geschichte. Sicher, bei solcher Fülle des Schaffens in aufregenden Theaterereignissen mag vieles den beiden Machern dieses wirklich schönen Buches wie ein gespensterhaftes Aufflackern erschienen sein. Raddatz spricht auch von „einer Hochblüte um einen goldenen Oktober“, mit der das westdeutsche Regietheater jener Jahrzehnte von heute aus erinnert werden kann – und sollte. Dass mit dem, was danach kam und heute ist, alles nur gespensterhaft, also vielleicht als ein bisschen unwirklich erinnert wird, will nicht recht ins Bild passen.
Karl Kneidl, Grammatik der Bühne. Eine Gespenster-Geschichte
Hg. von Frank Raddatz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlage 2025, 270 S., € 45 (hier bestellen)