1.2 Apparaturen der Immersion und des Worldbuildings
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Nachdem der Fokus im ersten Schritt auf rezeptionsästhetischen Dimensionen »immersiver Medien« lag, möchte ich im zweiten Schritt jenen anderen, dominanten Strang innerhalb der transdisziplinären Immersionsforschung schlaglichtartig vorstellen, der sich mit ausgewählten Apparaturen und »Medien der Immersion« beschäftigt. Die Unterscheidung zwischen »immersiven Medien« und »Medien der Immersion« geht auf den Medientheoretiker Dawid Kasprowicz zurück. In seiner Studie Körper auf Tauchstation. Eine Wissensgeschichte der Immersion (2019) wendet er Immersion nicht mehr nur auf Bilder und immersive Medien, sondern sehr viel breiter auf verschiedene historische und zeitgenössische »mediale Kopplung[en] von Körpern und Umwelt« (Kasprowicz, 2019, S. 15) an, um zu fragen, welches Wissen dabei über ›immersierte‹ Körper erzeugt wird. Medien der Immersion sind in seinen Beispielen jene immersi[vi]erten12, situativ eingebetteten und z. T. auch vermessenen Körper entlang ihrer Beobachtbarkeit und Kommunizierbarkeit (vgl. ebd., S. 28), entlang des Wissens also, das dabei durch sie und über sie hervorgebracht wird.
Oliver Grau unterscheidet innerhalb seiner Geschichte immersiver Illusionsmedien zwischen vor den Augen getragenen Apparaturen (z. B. Sensorama, Head-Mounted Displays, VR-Brillen) und den Körper integrierenden Immersionsräumen (z. B. Panoramen, 360-Grad-Bildräume, CAVEs; vgl. Grau, 2019, S. 34). Im Folgenden sollen Forschungspositionen zu beiden Gruppen vorgestellt werden, die vornehmlich menschliche Körper und zumeist technische Apparaturen in unterschiedlichsten Kopplungsformen (multisensorische Bewegungssimulation, Biofeedback, Einkapselung und/oder räumlich ein- und umschließende Environments) miteinander verbinden.
Zwei historische Apparaturen, die innerhalb der medien- und kulturwissenschaftlichen Immersionsforschung u. a. von Patrick Rupert-Kruse (2019) als Vorläufer heute virulenter VR-Technologien verhandelt werden, sind das Sensorama und Hale’s Tours. Ersteres wurde Ende der fünfziger Jahre von Kameramann und Filmemacher Morton Heilig im Kontext seiner Vision eines Cinema of the Future entwickelt (vgl. Schröter, 2004, S. 180 – 186). Es handelt sich dabei um eine Simulationsmaschine für eine Person, deren Sinne durch den Einsatz von stereoskopischer Filmprojektion, Stereo-Sound, Geruchsimpulsen, Windmaschine, Wärmezufuhr und Sitzvibration gezielt stimuliert werden, um z. B. das Erleben einer Motorradfahrt nachempfindbar zu machen. Es ist hier vor allem die sensorisch-manipulative Wirkmacht der Apparatur, die die perzeptuelle Immersion des von der Maschine umschlossenen Rezipierenden ermöglicht. Die Tatsache, dass der*die Sensorama-Nutzer*in physisch so eng mit der Apparatur verbunden ist, dass es ihm*ihr gar nicht möglich ist, den einströmenden Sinnesstimulationen zu entgehen oder körperliche Distanz zu ihnen einzunehmen (außer durch die Unterbrechung des Vorgangs), soll den Grad der Immersion steigern. An dieser Stelle bekommt die mit der Etymologie von Immersion verbundene Bedeutung der »Verschmelzung« eine ganz konkret materielle Evidenz.
Der Mechaniker und Feuerwehrmann George C. Hale stellte gemeinsam mit seinem Geschäftspartner F. Gifford auf der Weltausstellung 1904 in St. Louis neben neuen Gerätschaften zur Brandbekämpfung und inszenierten Brandbekämpfungseinsätzen auch die Attraktion Hale’s Tours – Scenes of the World vor. Das Herzstück von Hale’s Tours ist ein nachgebauter Eisenbahnwaggon, in dem das Publikum für die Dauer der Aufführung Platz nimmt. Auf der Leinwand an der Vorderseite des Waggons laufen etwa zehnminütige Projektionen, die von der Spitze eines fahrenden Zugs aus aufgenommen scheinen und verschiedene Landschaften der USA zeigen. An der Unterseite des Waggons werden Effekte erzeugt, die das Fahren über ein holpriges Gleisbett imitieren, auch Wind, der die Vorwärtsbewegung simuliert, und akustische Lok-Geräusche werden eingespeist, um eine möglichst glaubhafte Illusion einer Zugfahrt zu erzeugen (vgl. Fielding, 2008, S. 18). Bei der Hale’s Tours-Apparatur steht – ähnlich wie beim Sensorama – nicht nur der Sehsinn, sondern der ganze Körper der Betrachtenden im Zentrum der multisensorischen Beeinflussung. Dabei macht der Körper bei der Nutzung beider Apparaturen eine Erfahrung von Fortbewegung und Beschleunigung, ohne wirklich fortbewegt zu werden. Entscheidend ist zudem die für beide Projektionsapparate signifikante stereoskope Point of View-Einstellung, die suggeriert, Ort der Kamera und Standpunkt der Zuschauer*innen seien identisch.
Während Hale’s Tours als kommerzielles Unterhaltungsformat produziert wurde, hatte Morton Heilig sein Sensorama dezidiert als »Lern-Environment« patentieren lassen.13 Die multisensorische Simulationserfahrung sollte wie eine Probe für die Wirklichkeit sein, um Menschen z. B. auf potentielle Gefahren von Geschwindigkeit(en) wie auch auf diese selbst vorzubereiten. So besehen, rückt das Sensorama vom Bereich früher Filmkunst in die Nähe didaktischer Simulationsmaschinen wie Flugsimulatoren oder Planetarien14, die zeitgleich vor allem im Bereich des Militärs oder der Weltraumforschung vermehrt zum Einsatz kamen.15
Anstelle der qualitativen Erfahrungsdimension eines »immersiven« Rezeptionserlebnisses ist für mich hier entscheidender hervorzuheben, inwieweit solche Apparaturen im Stande sind, nicht nur die Modalität menschlicher Wahrnehmungserfahrung, sondern auch bestimmte Selbst-/Weltverhältnisse zu prägen: Beide Apparaturen simulieren eine Fortbewegung, die der stillgestellte, passive Körper selbst nicht vollzieht. Dabei weisen Wahrnehmungsdispositiv und Perspektive dem Subjekt die Rolle des*der sich aktiv Fortbewegenden zu. So geht es weniger darum, dass Nutzer*innen auf der Ebene der Bildwahrnehmung getäuscht werden (ergo die Repräsentationen für ›echt‹ halten), als darum, dass sie in der Wahrnehmung ihrer Selbst-/Welt-Relation getäuscht werden. Nun wird aus der metaphorischen transportation eine konkret multisensorisch fingierte Fortbewegungserfahrung. Dabei rückt die Imagination einer possible world zugunsten einer realen, wenngleich auf einer technischen Simulation basierenden Erfahrung innerhalb der Lebenswelt in den Hintergrund.
Während Filmhistoriker Raymond Fielding an den Hale’s Tours-Geschäften hervorhebt, dass sie zur Popularisierung und Verbreitung des neuen Mediums Film und der Etablierung eines Vertriebssystems für die im Entstehen begriffene Filmindustrie beitrugen (vgl. Fielding, 2008, S. 38), akzentuiert Lauren Rabinovitz, dass sie – in einer Zeit, in der Reisen noch ein Privileg der Oberschicht war – Anteil an einer Modernisierung der Haltung zum Tourismus hatten (vgl. Rabinovitz, 2012, S. 67). Panoramen, Hale’s Tours und spätere Ride-Attraktionen wie Disneys A Trip to the Moon (1955) bilden für Rabinovitz eine Linie von Reise- und Bewegungssimulatoren, die ihre Zuschauer*innen mit Sinneseindrücken übersättigen und Landschaften aus einer Perspektive konsumierbar machen, die über die natürlichen Grenzen des menschlichen Wahrnehmungshorizonts hinausgehen. Sie üben Zuschauer*innen in einen (anthropozentrischen) Modus des In-der-Welt-Seins (vgl. ebd.) ein, der vorsieht, dass auch entlegenste Orte der Welt im Modus eines apparativ erzeugten Ultrarealismus der Simulation begeh- und erkundbar werden. »Hale’s Tours reinforced that the world is an object lesson in pleasure – a lesson in which the preindustrial, the distant, the colonial, as well as the fictional, are all exotic, accessible spaces that could be consumed« (ebd., S. 94). Bewegungssimulatoren wie das Sensorama oder Hale’s Tours wirken als historische Medien der Immersion – zumindest für die Klientel, der diese Apparaturen zugänglich waren – an der Konstituierung einer relationalen Selbst- wie Weltwahrnehmung mit, die das (simulierte) Eindringen in eine Umgebung aus der POV-Perspektive im Modus manipulierten, voyeuristischen Bild(raum)konsums mit Vergnügen und Unterhaltung besetzt.
Die Gemeinsamkeit von historischen Apparaturen wie den vorgestellten und CAVE-Systemen aus den neunziger Jahren sowie aktuellen VR-Technologien besteht darin, dass sie ihre Betrachter*innen für die Dauer der Rezeption einkapseln, gleichsam mit der Apparatur »verschmelzen« und temporär von der Außenwelt abschotten. Dawid Kasprowicz beobachtet in jüngster Zeit – vor dem Hintergrund der technologischen Entwicklungen ubiquitären Computerisierens und zunehmenden Schwindens apparativer Interfaces – eine Tendenz zur ›Öffnung der Kapsel‹ zugunsten weiträumiger Environments und unsichtbar werdender Benutzeroberflächen, sodass »jegliches Eintreten in die ubiquitär computerisierte Umgebung … potenziell – und nicht metaphorisch – als Immersion gelesen werden k[ö]nn[e]« (Kasprowicz, 2015, S. 28). Im Kontext von Immersion verschieben Begriff wie Phänomene der »Umgebung« zugleich den Fokus vom Vorgang einer Eintauchung von X in Y (als distinkt gedachte Entitäten) hin zu komplexen, relationalen Prozessen eines (auch längerfristigen) Eingebettet-Seins.
Ein Beispiel für solche neueren, Körper integrierenden Immersionsräume wären die responsiven Umgebungen, die Medienwissenschaftlerin Christiane Heibach gemeinsam mit Jan Torpus und Andreas Simon im Rahmen eines Pilotprojekts künstlerischer Forschung am Institut für Experimentelle Design- und Medienkulturen in Basel erforscht. Für ihre künstlerisch-experimentellen Studien werden Proband*innen mit Sensoren versehen und in eine minimalistische, responsive, auf einen Raum begrenzte Umgebung eingelassen, die hinsichtlich der Parameter Licht, Ton und Windzufuhr gestaltet und zugleich ihrerseits mit Sensoren versehen ist. Das entstehende Human in the Loop-System misst Atmung, Herzschlag und Körperbewegungen des*der Proband*in sowie das jeweils ausgegebene Feedback an die Output-Medien im Raum (Ventilator, Lautsprecher, Lichtanlage).16 Im Zentrum steht die Frage, inwieweit Proband*innen in der Lage sind, die eigenen somatischen Reaktionen anhand von Veränderungen im Raum zu erkennen, und ob dadurch eine emotionale Identifikation mit der Umgebung erzeugt werden könne (vgl. ebd., S. 55f.).17 Auch in diesem Versuchsaufbau tauchen die Proband*innen nicht in eine fiktive possible world ein, sondern sind bereits über die (unsichtbare) Apparatur mit dem Raum ›gekoppelt‹. Nun sind es die Beziehungsqualitäten zwischen den Körpern und ihrer (gestalteten) Umgebung, die über die Beobachtung kognitiver, emotionaler und affektiver Responsivität in den Mittelpunkt rücken.
Ein weiteres Phänomen für analoge, Körper integrierende Immersionsräume, das im transdisziplinären Immersionsdiskurs verhandelt wird, sind Erlebnishotels, die in den neunziger Jahren als »architektonische Ortsübersetzung[en]« (Bieger, 2007, S. 142) vornehmlich in den USA aufkamen. Entlang verschiedener Erlebnisräume wie dem VENETIAN in Las Vegas konzipiert Laura Bieger eine Ästhetik der Immersion als eine Ästhetik des hyperrealen Raums, für die ein »kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von Distanz« (ebd., S. 9) mit Blick auf die Differenzierung von Bild- und Realraum kennzeichnend sei. So komme das VENETIAN einer »materielle[n] Übersetzung eines virtuellen Computerbildes« (ebd., S. 208) gleich, in dem fluktuierende Bilder der italienischen Lagunenstadt sowie der »ganze[ ] Kosmos von […] Vorstellungen, die durch ihn zirkulieren« (ebd., S. 146, Hervorhebung i. O.), zu einer begehbaren und multisensorisch erfahrbaren Hyperrealität synthetisiert werden.18 Besucher*innen werden hier in eine gestaltete Umgebung eingelassen, in der die konkrete, materielle Erfahrung der kinematografischen Raumgestaltung, gepaart mit einer inszenierten (Pseudo-)Authentizität des Ortes, eine immersive Ästhetik produziert, für die ein Spiel mit dem Als-ob dieser Weltversion konstitutiv sei (vgl. ebd., S. 197).
Indem der Immersionsraum des VENETIAN wirkungsästhetisch auf ein diffuses, aber positiv besetztes Erleben einer Grenzerfahrung (zwischen Real- und Bildraum) abhebt, macht er den Hotelbesuchenden zugleich auch ein stückweit zu (zweifachen) Tourist*innen, die nicht nur ein Hotel in Las Vegas betreten, sondern zugleich auch eine fiktive Reise in die realisierte Kopie der italienischen Lagunenstadt unternehmen. Das gestaltete Erlebnishotel-Environment umschließt dabei seine Besucher*innen mit allen Sinnen und produziert ein relationales Selbst-/Weltverhältnis, das an diejenigen spezifischen Empfindungen und Emotionen geknüpft ist, die bei den Besucher*innen mit der Stadt Venedig, den Bildern Venedigs oder auch entsprechenden Erinnerungen verbunden sind. Auf diese Weise spielt der Immersionsraum VENETIAN nicht nur rezeptionsästhetisch mit Prozessen von absorption und transportation, sondern fabriziert als Apparatur auch spezifische affektive Bezugnahmen zwischen Besucher*innen und (fiktionalisiertem) Environment.
Von Biegers hybriden Erlebnisräumen ist es innerhalb der Immersionsforschung nur ein kleiner Schritt zu komplexeren Erlebnisräumen wie Themenparks (u. a. Lukas, 2013; Kokai/Robson, 2019) oder Zoologische Gärten (May, 2020). Während es in Zoologischen Gärten zuvorderst die verschiedenen Gehege sind, die z. B. entsprechend der Herkunft der Tiere in klischisierter Weise thematisch gestaltet werden, um den Besucher*innen zu suggerieren, mit einem Zoo-Besuch gleichsam eine kondensierte Reise um die ganze Welt zu machen19, kombinieren Freizeit- und Themenparks Fahr- und Laufgeschäfte sowie Eventgastronomie mit einem thematischen Worldbuilding, das es Besucher*innen analog zu ihren historischen Vorläufern, den Weltausstellungen, möglich macht, exotisierte ›andere‹, phantastische, fiktionalisierte oder historisch-klischisierte Lebenswelten zu erkunden. Gerade an diesen Beispielen wird mit Blick auf Immersion evident, dass es weniger um die Täuschungsdimension dieser Weltversionen20 geht als vielmehr um die Modellierung eines spezifischen Selbst-/Weltverhältnisses, das aufgrund der Geschichte dieser Mediendispositive – im Sinne Rabinowitz’ – nicht losgelöst von einem kolonialistischen Weltbild einer kapitalistischen Aneignungsund Beherrschungslogik zu denken ist.
Den letzten Halt in meinem schlaglichtartigen Überblick zu Theorien der Immersion, die von den Apparaturen her gedacht sind, möchte ich bei jenen Körper integrierenden Immersionsräumen machen, die noch stärker als das experimentelle Biofeedback-Setting, ein Erlebnisressort oder ein Themenpark mit der Simulation einer fiktiven Weltversion arbeiten. Hier soll es zum einen kurz um VR-Technologien, zum anderen um Phänomene transmedialen Storytellings gehen. Wie bereits erwähnt, ist der transdisziplinäre Immersionsdiskurs der vergangenen zwei Dekaden aufs Engste mit dem Aufkommen von VR-Technologien verknüpft. Auch wenn Oliver Grau der Auffassung ist, dass virtuelle Realitäten nicht erst mit technischen Entwicklungen wie dem ultimativen Display als Vorläufer des Head-Mountain-Displays, mit dem VR-Pionier Ivan Sutherland in den sechziger Jahren am Massachusetts Institute of Technology in den USA experimentierte, in die Welt gekommen seien (vgl. Grau, 2001, S. 16), sondern als hermetisch geschlossene Illusionsräume lediglich kontinuierlich im Gewand neuer medientechnologischer Bildträger aufkämen, so sind es doch just jene veränderten Rezeptions- und Sehgewohnheiten, die durch CAVE-Systeme und VR-Brillen realisiert wurden, die den Immersionsbegriff neuerlich aufs Tableau brachten.
Im Brockhaus wird »virtuelle Realität« als »eine mittels Computer simulierte Wirklichkeit oder künstliche Welt, in die Personen mithilfe technischer Geräte sowie umfangreicher Software versetzt und interaktiv eingebunden werden« (zitiert nach Brill, 2009, S. 6, Hervorhebung TS) definiert.21 Technische Geräte und ihre Benutzeroberflächen sollen Nutzer*innen das Gefühl vermitteln, durch Interaktionsmöglichkeiten oder das Triggern bestimmter Sinnesreize, Teil dieser ›anderen‹ Weltversion zu werden. Für das Eintreten von Immersionseffekten sei »der Grad der Übereinstimmung zwischen virtueller und realer Umgebung, aber auch das Ausmaß der Beeinflussbarkeit der virtuellen Realität durch die Benutzer« (Brill, 2009, S. 6) entscheidend. Zentralperspektivische Anordnung, Tiefenschärfe und Plausibilitätskriterien des Raumes sind dabei wichtige optische Kriterien. Die technischen Bedingungen sollen Benutzer*innen dabei »unterstützen, die virtuelle Welt zu ›fühlen‹« (ebd., S. 7), indem sie sich durch diese hindurch navigieren. Dies kann durch den Einsatz akustischer Signale, der Zuhilfenahme von Handsteuergeräten oder optionaler Spracheingabe verstärkt werden.
Genealogisch geht dieses skizzierte VR-Verständnis auf Bewegungssimulatoren wie Heiligs Sensorama oder Hale’s Tours zurück. Während die Realitäten, die die historischen Apparaturen repräsentierten, technisch gesehen noch fotografisch festgehaltene Wirklichkeitsaufnahmen waren, also gewissermaßen indexikalisch mit der Realität verbunden blieben, sind Realitäten oder Weltversionen, die vom Computer bzw. von Algorithmen hervorgebracht werden, Ergebnis eines Rechenvorgangs; computergestützte Simulationen stellen als Medien der Sichtbarmachung virtuelle22, hyperreale Wirklichkeitsmodelle dar und her (vgl. Dotzler, 2003, S. 524).
Der englische Begriff der virtuellen Realität (virtual reality) wurde erst relativ spät, und zwar 1989, in der Zeit der kommerziellen Ausbreitung von Simulatoren zu Unterhaltungszwecken, vom US-amerikanischen Informatiker und Unternehmer Jaron Lanier geprägt (vgl. Schröter, 2004, S. 211). Medienwissenschaftler Jens Schröter zufolge habe man in den USA ab 1987 damit begonnen, Simulations- und Displaytechnologien auch für die Darstellung fiktionaler Szenarien einzusetzen. Dies hatte nicht zuletzt wirtschaftliche Gründe, da Simulationstechnologien mit dem Ende des Kalten Krieges im militärischen Bereich nicht mehr in bestehendem Umfang benötigt wurden und die Herstellerfirmen nach neuen Absatzmärkten für ihre Technologien suchten:
Es ist kein Zufall, dass man im Moment der Fiktionalisierung von »Virtueller Realität« zu sprechen beginnt. Sofern Fiktionen die Eigenschaft haben, eine geschlossene Welt, eine Diegese, zu bilden, führt die Fiktionalisierung der virtuellen Räume zu einer »Schließung« derselben. Die Datenbrillen, die VPL23 herstellte, waren […] nicht dafür ausgelegt, die virtuelle Szene gleichzeitig mit der realen Umgebung sehen zu können. Die Schließung der Datenbrille und damit die Ausblendung der Außenwelt verstärken den Realitätseffekt der VR und ihren Charakter als eigene, abgeschlossene, alternative Welt (ebd., S. 211, Hervorhebung i. O.).
Aus dem Zitat geht hervor, dass mit dem Realitätsbegriff in der Wendung VR seit seiner Etablierung im Grunde weniger die Idee einer optischen Illusion bzw. perfekten Simulation von Realität im Zentrum stand als vielmehr die technisch möglich gewordene, computergestützte Praxis des Konstruierens geschlossener, fiktionaler Welten. Auch Lanier strebte Ende der achtziger Jahre mit seinen VR-Technologie-Experimenten primär die Möglichkeit an, mit VR über Alternativen zur bestehenden Wirklichkeit nachzudenken, Utopien zu entwickeln und alternative Weltentwürfe auszuprobieren (vgl. ebd., S. 273).24 Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum in der Immersionsforschung anstelle von virtueller Realität auch vielfach dezidiert von virtual worlds (vgl. u. a. Teigland/Power, 2013; Mayr, 2014) oder immersive worlds (vgl.u. a. Hogarth et al., 2018) gesprochen wird.
Es gilt also festzuhalten, dass im dominanten, populären VR-Diskurs mit VR einerseits eine Apparatur bezeichnet wird, die maschinell, elektronisch oder digital eine (weitgehend) realistische Wirklichkeitsillusion erzeugt und die Rezipierenden hinsichtlich ihres Realitätsgrades zu täuschen vermag, und andererseits Konstruktionen fiktionaler Weltentwürfe gemeint sind, für die der Aspekt der Potentialität einer alternativen Realität entscheidender ist als der Aspekt der Wahrnehmungstäuschung. VR rückt auf diese Weise betrachtet als Medium des Weltenbildens (Worldbuilding) und Geschichtenerzählens (Storytelling) in den Blick, insofern eine komplette Weltversion im Sinne einer virtuellen Landschaft, Umgebung oder realistisch konfigurierter Räume entworfen wird, die z. B. über die Nutzung einer VR-Brille von den Nutzer*innen – wiederum zumeist aus der POV-Perspektive – im Modus der Simulation erkundet werden kann. Der Welt-Begriff im Kompositum des Weltenbildens kann dabei eine Ganzheit (wholeness) adressieren, z. B. mit Blick auf eine lückenlose Vollständigkeit (completeness) oder die Konsistenz narrativer story worlds (vgl. Boni, 2017, S. 20f.).
Wenn Grau behauptet, »Virtuelle Realitäten – historisch wie aktuell – s[eien]essentiellimmersiv« (Grau, 2001, S. 22), hebt er vor allem auf die rezeptionsästhetische Dimension dieses Illusionsmediums ab, das mit seinem machtvollen Suggestionspotential die Distanzierungskräfte der Betrachtenden beeinflusst und so den täuschenden Effekt einer scheinbaren Anwesenheit im dargestellten Bildraum produziert (vgl. ebd., S. 110f.). Anstatt sich mit dem Immersionsbegriff der spezifischen Erfahrungsdimension ästhetischer Rezeption zu nähern, eröffnet eine Perspektivierung, die von den Apparaturen her argumentiert, meines Erachtens die Möglichkeit, die konkreten Mensch-Umgebungskopplungen mit Blick auf das je mitproduzierte Selbst-/Weltverhältnis hin zu untersuchen. Dies impliziert Fragen wie: Wie werden Betrachter*innen-Subjekt und gestaltete Weltversion miteinander in Beziehung gesetzt? Welche Perspektive wird normalisiert? Mit welchen Involvierungsstrategien werden Nutzer*innen – analog zu den Game-Beispielen – konkret in die Erkundung dieser Weltversion, in die sie vornehmlich visuell vermittelt eindringen, einbezogen? Und: Was zeichnet die entworfenen ›alternativen Realitäten‹ aus, auf welchen Prämissen und welchem Weltbild fußt ihr Worldbuilding?
Mit dem US-amerikanischen Medienwissenschaftler Henry Jenkins handelt es sich nicht nur bei der VR, sondern insbesondere auch beim durch das Aufkommen sozialer Medien virulent gewordenen, »transmedialen Storytelling« um eine mit Immersionsprozessen verknüpfte Kunst des Worldbuildings, in der »Environments« kreiert werden, »die nicht mehr nur in einem einzigen Werk oder gar in einem einzigen Medium vollständig erkundschaftet oder ausgeschöpft werden können« (Jenkins, 2006, zitiert nach Boni, 2017, S. 11, dt. TS). Im Kontext von Medienindustrien ist mit transmedialem Storytelling zunächst primär eine Marketingstrategie angesprochen. Sie beinhaltet, dass das Worldbuilding aus populären Filmen oder Serien wie Star Wars, Star Trek, Harry Potter oder Game of Thrones in andere Medienformate hineinwandert und so über den eigentlichen Rezeptionsprozess hinaus erweitert wird, um Zuschauer*innen noch stärker an die Narrative und Figuren der phantastischen Weltversionen zu binden. Auf diese Weise bilden sich transnationale Fankulturen aus, die die Popularität der erzählten Welten sicherstellen.
Inwieweit das Worldbuidling ausgehend von einer Marketingstrategie über diese hinaus ein Eigenleben transmedialen Geschichtenerzählens zu entfalten vermag, zeigt sich u. a. am Beispiel der populären Serie Mad Men(USA 2007 – 2015). Inhalte wurden nicht nur auf möglichst vielen verschiedenen Plattformen zugänglich gemacht, sondern das fiktive Worldbuilding innerhalb eines »digitalen Ökosystems« (Stiegler 2017, S. 1, dt. TS) ausgeweitet, indem z. B. der Protagonist der Serie, Don Draper, Nachrichten bei Twitter postet und sein eigenes Facebook-Profil hat, wodurch es für Fans möglich wird, mit (s)einer Fake-Persona in Austausch zu treten (vgl. dazu auch Rose, 2011, S. 78ff.). Der Immersionsbegriff greift hier – wie bei Bieger – über das Motiv einer Grenzerfahrung bzw. -verwischung zwischen Realität und Fiktion, verweist aber eben auch auf die Wirkungsweise der Apparatur, die Rezipierende z. B. über die Erzeugung von Emotionen der Verbundenheit mit Figuren der fiktiven Welt mit dieser ›koppelt‹ (vgl. Stiegler, 2017, S. 4 sowie Jenkins, 2006, S. 286).
Die Rezeption solcherart transmedial vermarkteter Inhalte geht noch einen Schritt über die eingangs beschriebenen Mensch-Maschinen-Kopplungen hinaus, insofern TV, Computer, Smartphone und soziale Medien – auch in Kombination mit VR und AR – in ihrem Zusammenwirken ein neuartiges Mediendispositiv bilden, welches den Körper in eine komplexe mediatisierte Umwelt vollumfänglich zu integrieren sucht, wobei mittelbare Prinzipien von Trennung und Distanz durch Prinzipien des Verbindens, Verschmelzens und Vereinnahmens abgelöst werden (vgl. dazu auch Freyermuth, 2016, S. 193).
Ich stimme mit Medienwissenschaftler Erkki Huhtamo in der Auffassung überein, dass Medien und Apparaturen der Immersion wie Cinérama-Technologien, VR, Themenparks, aber auch Drogenexperimente der sechziger Jahre, die gleichsam die Eroberung weiterer alternativer, ›virtueller‹ Realitäten möglich machten, ja, dass »[a]ll diese Systeme […] als ›Apparatus‹ begriffen werden [müssten], als technologisch-metapsychologische Maschinen, die bestimmte kognitive und emotionale Bewusstseinszustände […] (und womöglich auch körperliche Zustände)« (Huhtamo, 2008, S. 48f., Hervorhebung TS) machtvoll zu erzeugen vermögen. Die entscheidende, für mich in diesem Überblick zu Theorien der Immersion hervorzuhebende Gemeinsamkeit der angeführten Mensch-Umgebungskopplungen, in denen Körper zu Medien der Immersion werden, besteht darin, dass es sich um machtvolle Konstellationen handelt. Diese vereinnahmen die involvierten Subjekte temporär nicht nur wahrnehmungsphysiologisch, somatisch, emotional oder affektiv, sondern auch mit Blick auf ein bestimmtes Selbst-/Weltverhältnis, an dessen Hervorbringung sie mitwirken.
12 Kasprowicz spricht grammatikalisch von »immersierten« Körpern. Ich bevorzuge wie die Mehrzahl der Forscher*innen die Verwendung des Attributs »immersiviert«.
13 In der Patentschrift wird betont, wie wichtig es sei, »Menschen unterweisen und ausbilden zu können, ohne sie den Gefahren bestimmter Situationen tatsächlich aussetzen [zu müssen]« (Heilig zitiert nach Schröter, 2004, S. 186).
14 Explizit zum Planetarium als wissensgeschichtliches Beispiel für ein »künstlerisches Environment, das neben der Vermittlung astronomischen Wissens immer auch die Immersion von Menschen (und Tieren) in eine optische Anordnung betrifft« und damit abstraktes Wissen erfahrbar mache, siehe von Herrmann, 2018, S. 13 – 41, hier: S. 31.
15 Dawid Kasprowicz weist – ähnlich wie Huhtamo, 2008 – explizit auf die zeitliche Parallelität von immersiven Unterhaltungsmedien wie dem Bewegungssimulator in Vergnügungs- und Themenparks und wissenschaftlichen Forschungen im Zuge der aufkommenden Kybernetik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hin, vgl. Kasprowicz, 2015, S. 28f.; er zeigt u. a. am Beispiel der NASA, wie Flugsimulatoren im Kontext der Raumfahrt vor allem der kybernetischen Körpervermessung und -modellierung dienten. Simulatoren fungierten als mediale Anordnungen, in denen immersi[vi]erte Körper getestet, beobachtet und modelliert wurden, vgl. ebd., S. 29. Von der Außenwelt abgekapselt und doch mit dem eigenen Körper im Raum verhaftet, werden bei vollem Bewusstsein vertraute Körperwahrnehmungen von der einwirkenden Apparatur unterlaufen und transformiert und entsprechende Reaktionen dabei registriert und vermessen. Der in solche technisch konstruierten Umgebungen eingetauchte Körper und seine situativen Leiberfahrungen werden damit nicht zuletzt zum Ort biopolitischer Wissensproduktion.
16 Eine künstlerische Rauminstallation, die im Gegensatz zu Heibach et al. keine Forschungsdaten erhebt, aber für die Besuchenden vermutlich ähnliche Erfahrungen auszulösen vermag, ist Haptic Field von Chris Salter+TeZ, die 2017 im Rahmen der Programmreihe Immersion im Martin-Gropius-Bau Berlin zu begehen war (siehe auch Schütz, 2022). Thomas Oberender, Leiter der Berliner Festspiele und Initiator der Reihe, kuratierte mit seinem Team von 2016 bis 2020 ein transdisziplinäres Programm, das unter dem Immersionsbegriff die verschiedensten Formate von Raum- und Klanginstallationen in mobilen Planetarien, zeitbasierten Performance- und Ausstellungsformaten über eine elektronische Geruchsorgel, zahlreiche VR-Arbeiten und 3D-Videoinstallationen bis zu Walk-Performances, einem narrative space sowie Performance- und Theaterinstallationen von Vinge/Müller oder Mariano Pensotti versammelte, die u. a. mit einer zeitlichen wie räumlichen Entgrenzung sowie neuen Weisen des Geschichtenerzählens und Darstellens arbeiten.
17 Im Wesentlichen bedeutet dies, dass jeder Aktion des Human-in-the-Loop eine Reaktion im Raum zugeordnet wird, z. B. löst Einatmen den Ventilator aus, ein erhöhter Herzschlag zeitigt einen Effekt auf den Basslautsprecher und schnellere Bewegungen beeinflussen die Helligkeit des Lichts. Mensch und Raum erzeugen eine affektiv-reaktive »Technosphäre« (Heibach et al., 2019, S. 55). Die Erlebnisse der Proband*innen wurden empirisch in Form von Gruppeninterviews ausgewertet.
18 »Das New York in Las Vegas ist in dieser Lesart hyperreal, weil es sich nicht auf eine ihm vorausgehende Realität bezieht, sondern auf ein Zeichenuniversum, das sich seinerseits gerade nicht auf einen realen Ort bezieht, sondern auf weitere Zeichen, die sich auf weitere Zeichen beziehen, usw. Und da es keinen stabilen Referenzpunkt außerhalb dieses Verweissystems gibt, lässt sich die Realität New Yorks in diesem Denken einzig als Hyperrealität darstellen« (Bieger, 2007, S. 168, Hervorhebung TS).
19 In Deutschland wäre hier der Zoo Hannover als ein prominentes Beispiel zu nennen, bei dem Architektur und Gehegeaufteilung mit Mitteln des geografischthematischen Worldbuildings gestaltet wurden. So finden Gäste indische Elefanten in einem exotistisch-orientalisierten »Dschungelpalast«, Robben und Eisbären sind im Abbild einer kanadischen Kleinstadt namens »Yokun Bay« untergebracht, Löwen, Tiger und andere Wildtiere vom afrikanischen Kontinent versammeln sich im »Sambesi«-Areal, aus der heimischen Fauna bekannte Tiere wie Schweine oder Ziegen begegnen Besucher*innen im »Meyer’s Hof«-Dorfidyll und Kängurus werden in einer Miniatur-»Outback«-Landschaft gehalten.
20 Der Begriff der »Weltversion«, den ich im Verlauf dieser Studie immer wieder verwenden werde, geht zurück auf Nelson Goodmans 1978 publizierte symbol- und erkenntnistheoretische Monografie Ways of Worldmaking (dt. Weisen der Welterzeugung, 1984). Für die Beantwortung der Fragen »Was unterscheidet echte von unechten Welten? Woraus bestehen sie? Wie werden sie erzeugt? Welche Rolle spielen Symbole bei der Erzeugung? Und wie ist das Erschaffen von Welten auf das Erkennen bezogen?« (Goodman, 1993, S. 13) geht Goodman von der Prämisse aus, dass nicht nur eine, sondern mehrere wirkliche Welten existieren (vgl. ebd., S. 14), die er »Weltversionen« (ebd., S. 16) nennt. Das menschliche Subjekt erschafft nach Goodman beständig aus einer Vielzahl existierender Weltversionen neue Weltversionen (»Erschaffen ist Umschaffen«, ebd., S. 19) – und zwar durch den Einsatz von Wörtern, Symbolen und anderen Stoffen (»Materie[n], Energie[n], Wellen, Phänomene[n]«, ebd.) sowie »Bildern, Klängen« (ebd., S. 117) und »Zitaten« (ebd., S. 75). Diese Weltversionen müssen nicht zwingend in einem abbildenden, mimetischen oder repräsentationalen Verhältnis zu außerkünstlerischen Weltversionen stehen; auch abstrakte Bilder (oder der Tanz) haben nach Goodman Anteil an Welterzeugungsprozessen (ebd., S. 131). Der Begriff der »Weltversion« verweist in meinem Zusammenhang mit Goodman zugleich auf inszenierte Welt(version)en, wie ich sie in den zu analysierenden Aufführungen immersiven Theaters gestaltet sehe, als auch auf diejenigen Weltverhältnisse, die über Prozesse der Bedeutungsgenerierung Weltversion und Subjekt miteinander verknüpfen, vgl. ebd., S. 127 sowie Kap. 2.2.2 dieser Arbeit.
21 Eine präzisere Definition im selben Sinne findet sich bei Schröter: »Eine virtuelle Realität ist eine Umgebung, in der bestimmte Strukturen, die die Wahrnehmung realer Umgebungen und Situationen definieren (ein konsistenter Raum gefüllt mit Objekten, die auf eine bestimmte Weise Licht reflektieren etc.; die Interaktion mit diesem Raum und den in ihm befindlichen Objekten; die Interaktion mit anderen Figuren in diesem Raum), abgelöst von ihrer materiellen Basis simuliert werden« (Schröter, 2004, S. 214).
22 Marie-Laure Ryan unterscheidet zu Beginn ihrer Studie Narrative as Virtual Reality drei verschiedene Dimensionen des Virtuellen: a) das Virtuelle als optische Illusion, b) das Virtuelle als Potentialität und c) das Virtuelle im Sinne von allem Computergestützten (vgl. Ryan, 2001, S. 13). Mit a) ist das Grausche Konzept visueller Immersion verbunden, d. h. der*die Betrachtende erhält aufgrund der Perspektive und realistischen Gestaltung des Bildsujets den Eindruck, im Akt der Bildbetrachtung öffne sich ein dreidimensionaler Raum, in den er*sie gleichsam imaginär eintritt. Mit b) ist kein spezifisches Immersionsverständnis verknüpft. Hinter der Idee vom Virtuellen als Potentialität steht die Existenz eines Vermögens von potentiell Realisierbarem, das insbesondere durch das Generieren und Speichern sowie Arbeiten mit digitalen Daten und Informationen in die Welt kommt (vgl. ebd.). Der Begriff des Virtuellen markiert hier neben dem technologischen Moment, vor allem die Kategorie des Möglichen. Virtuell ist – im Sinne Deleuzes, auf den sich Ryan hier allerdings nicht bezieht – das, was (noch) nicht aktualisiert ist. Virtuell bildet gerade nicht (wie bei a) das Gegenstück zum Wirklichen, sondern zum Aktualisierten (vgl. Deleuze, 1992, S. 264); es impliziert im Sinne seiner lateinischen Wortherkunft (»virtus«) eine vorhandene Kraft, eine Potenz, die aktualisiert werden kann (vgl. Ryan, 2001, S. 26). Die dritte Dimension c) fungiert letztlich als diffuser Sammelbegriff für alle computer- und/oder internetbasierten Spiele, Programme oder Anwendungen, die von Nutzer*innen interaktiv oder immersiv erfahren werden können. Im alltäglichen Gebrauch und in populären VR-Diskursen vermischen sich alle drei Dimensionen.
23 Jaron Lanier gründete 1984 die Firma VPL Research, ein Unternehmen zur Entwicklung und Vermarktung von VR-Technologien.
24 Theaterwissenschaftlerin Karina Rocktäschel weist in ihrer Forschung zu Technologien der Immersion nicht nur nach, sondern auch kritisch auf den blinden Fleck in der Immersionsforschung hin, dass VR-Technologien im globalen Gefüge westlicher, neokolonialer Produktionsbedingungen betrachtet werden müssen und dies wichtige, von der Forschung noch kaum ausgelotete Spielräume der Kritik, insbesondere der epistemologischen Prämissen des von mir vorgestellten transdisziplinären Immersionsdiskurses, eröffne. Vgl. hierzu ihren Vortrag »Technologien der Immersion um 1968« im Panel Technologies of Immersion – Zu den Technologien und Techniken der Immersion bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Düsseldorf im November 2018. Ihre Forschung fließt in ihre aktuell im Entstehen begriffene Dissertation Spektren der Immersion(AT) ein, die 2023 fertiggestellt werden soll.