2. Immersives Theater
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Verallgemeinernd lassen sich für den deutschsprachigen wie auch (west-)europäischen Gegenwartstheaterbereich mindestens für die letzten zwei Dekaden zwei große Tendenzen beobachten: Das sind die deutliche Zunahme an dokumentarischen einerseits und an partizipativen Theater- und Performanceformaten andererseits. Der Trend von »immersive theatre« ist dabei letztgenannter Strömung zuzuordnen.34 Partizipative Theater- und Performanceformate sind inzwischen ausgesprochen mannigfaltig. Sie reichen von kollaborativen Formaten, bei denen die Partizipation des Publikums bereits im Entwicklungsund Produktionsprozess ansetzt35, über Game-Theater36-Formate (z. B. von Kollektiven wie Machina Ex, Prinzip Gonzo, Nesterval oder komplexbrigade), die ihre teilnehmenden Zuschauer*innen in ein gemeinsames Spielformat mit vorgegebenen Regeln, expliziten oder impliziten Handlungsanweisungen und einer konkreten Zielsetzung integrieren, bis hin zu installativen Begegnungsformaten. Bei diesen kommt es entweder a) zu einer Begegnung mit einem menschlichen Gegenüber (One-on-One) oder auch mit einer künstlichen Intelligenz (z. B. in den Installationen von Begüm Erciyas oder Interrobang), b) zu einer Mobilisierung in und Begegnung mit einem Raum (z. B. in den narrative spaces von Mona el Gammal und Barbara Lenartz) oder c) zu einer Begegnung in/mit einer sozialen Gruppe (wie z. B. in den Radioballetten von LIGNA, den Forumtheater-Formen von Christophe Meierhans, in delegierten Formaten von Rotozaza oder sozial-ästhetischen Experimenten wie The Privileged von Jamal Harewood). Auch performative Ausstellungen wie Sanctuary von Brett Bailey, promenade theatre-Formate wie Mariano Pensottis Diamante, Dreamer von Theater Anu oder Rimini Protokolls Situation Rooms, bei denen das Publikum (z. T. unter Einsatz technischer Hilfsmittel) einen szenischen Parcours abläuft, werden häufig – sowohl von Künstler*innen wie auch von Theaterkritiker*innen und Theaterwissenschaftler*innen – als partizipativ (oder immer häufiger eben auch als immersiv) bezeichnet.
Der Begriff der Partizipation etabliert sich für den Bereich der Künste erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. Czirak, 2014, S. 242). Er knüpft dabei zuvorderst an künstlerische Positionen der historischen wie auch der Neo-Avantgarden in den sechziger und siebziger Jahren mit ihren vielfältigen ästhetischen Bestrebungen an, die sich im bürgerlichen dramatischen Theater des 18. Jahrhunderts durchgesetzte Trennung von Bühne und Zuschauerraum und damit im übertragenen Sinne auch die Trennung von Kunst und Leben, von (aktiven) Darstellenden und (passiven) Zuschauenden zu überwinden. Vor dem Hintergrund, dass der Begriff der Partizipation seine etymologische Herkunft im Feld des Politischen hat und auf das Recht der Bürger*innen zur Teilhabe und Mitbestimmung in gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Belangen verweist (vgl. ebd.), fokussiert der Partizipationsbegriff übertragen auf den Bereich künstlerischen Schaffens zuvorderst den aktiven Mitwirkungsgrad der Zuschauenden am Aufführungsgeschehen.
Mit Blick auf das, was ich in dieser Studie als partizipatives Gegenwartstheater bezeichne, ist es wichtig, theoretisch zwischen einem starken und einem schwachen Konzept von Partizipation zu unterscheiden37: Dort, wo es um die grundlegenden, miterzeugenden Dimensionen von Zuschauer*innen in und an der Kunstform Theater als sozialer Form der Versammlung von Menschen im geteilten Hier und Jetzt der performativ hervorgebrachten Aufführung geht, sehe ich Partizipation im schwachen Sinne am Werk. Hier partizipieren Zuschauende z. B. bereits durch ihre physische Anwesenheit, die eingebrachte Aufmerksamkeit, durch Wahrnehmungs-, Imaginations- und Bedeutungsgenerierungsprozesse oder kleinere physische Reaktionen wie Lachen, Blickbegegnungen oder Applaus an der Aufführung (vgl. Czirak, 2012; Husel, 2014); sie partizipieren aber dezidiert nicht aktiv am Inszenierungsgeschehen.38
Mit dem starken Konzept von Partizipation fasse ich im Unterschied dazu eine aktive körperliche Beteiligung der Zuschauer*innen am Aufführungsformat, die über Wahrnehmungs- und Interpretationsvorgänge hinausgeht, eigenes Handeln und Entscheiden verlangt und dadurch auf den Aufführungsverlauf konkret (und nicht nur latent oder auf der individuellen Ebene von Wahrnehmung und Bedeutungsgenerierung) einwirkt. In diesem Fall ist das Spektrum mitwirkender Zuschauer*innen an Handlungs-, Spiel-, Gesprächs-, Abstimmungsoder Entscheidungsprozessen integraler Bestandteil der Arbeit.39 Es geht dabei um Modi faktischer Involvierung von Zuschauer*innen an Aufführungs- und Inszenierungsgeschehen. Diejenigen Aufführungsformate, die ich unter der Bezeichnung partizipatives Theater subsumiere, folgen allesamt der Logik starker Partizipation.
Vor dem Hintergrund meiner dreistelligen Aufführungssichtungen aus dem Bereich des partizipativen Gegenwartstheaters vertrete ich die These, dass wir es bei den in Rede stehenden Produktionen, deren Herzstück die faktische Involvierung des Publikums ins szenische Geschehen ist, mit einem veränderten immersiven Dispositiv zu tun haben, dessen hervorstechende Merkmale ich in Kapitel 2.1 gesondert beschreibe. Dieser Teil versteht sich als Einblick in den theaterwissenschaftlichen Forschungsstand, insofern ein Nachdenken über Immersion und immersive Aufführungsdispositive im Kontext partizipativer Theaterformen auch ein Nachdenken über die Medialität und Materialität von Aufführungen sowie die jeweiligen Relationen und Relationierungen von Akteur*innen, Raum und Zuschauer*innen darstellt.
In Kapitel 2.2 werde ich zum Zwecke notwendiger Präzisierung und Binnendifferenzierung von »immersive theatre« einen ca. 25 Aufführungen umfassenden Korpus vorstellen, den ich heuristisch als immersives Theater im engeren Sinne vorschlage. Die Produktionen weisen signifikante Gemeinsamkeiten auf, die sie zugleich von all den anderen gesichteten Formaten partizipativen Theaters abheben. Auch in diesen Aufführungen materialisiert sich das in Kapitel 2.1 zu beschreibende immersive Theaterdispositiv. Darüber hinaus aktualisieren sie die in Kapitel 1 vorgestellten dominanten Motive, die mit dem Immersionsdiskurs verknüpft sind, in symptomatischer Weise. Mit der Fokussierung auf diesen engen Korpus möchte ich eine Spezifizierung vornehmen, entlang derer zugleich deutlich werden soll, was beide umbrella terms partizipatives Theater wie auch der jüngere Begriff »immersive theatre« gerade nicht präzise zu fassen vermögen, weil entscheidende wirkungsästhetische Differenzen nivelliert werden.
Im immersiven Theater gibt es im Gegensatz zum Film, Game oder zur VR kein technisches Medium, das eine Weltversion vermittelt und als Darstellendes bei der Rezeption zugunsten der Wahrnehmung der dargestellten Weltversion temporär unsichtbar werden kann. Dennoch gibt es im immersiven Theater (im engeren Sinn) diese ›andere‹ fiktive Weltversion, die qua analoger Medien, über die multisensorisch wahrnehmbare Architektur und Szenografie des Raums, über handelnde Figuren und konkrete Interaktionen mit und in dieser Welt, (re-)präsentiert und zur Aufführung gebracht wird. Die Besonderheit dieser Aufführungen besteht darin, dass die theatrale Realität der der jeweiligen Inszenierung zugrunde liegenden Fiktion für die Dauer der Aufführung im Modus eines zugespitzten theatralen Als-ob als Wirklichkeit behauptet wird. Der*die Zuschauende wird über verschiedene Prozesse der Fiktionalisierung und Emotionalisierung in das Aufführungsgefüge eingebunden, welches sich mit dem Begriff der Wirklichkeitssimulation bezeichnen lässt (2.2). Eine der Kernthesen dieser Arbeit besteht darin, dass die verschiedenen Modi der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater wirkungsästhetisch auf eine Vereinnahmung der Zuschauer*innen abzielen. Diese Vereinnahmung findet sowohl auf der Ebene des Aufführungsgeschehens (immersion as absorption) als auch auf der Ebene der simulierten Weltversion (immersion as transportation) statt. Mit einem affekttheoretischen Verständnis des wirkungsästhetischen Konzepts der Vereinnahmung zielt diese Studie auf die spezifizierende Ausarbeitung dessen, was Immersion als relationales Geschehen zwischen Zuschauer*innen und Aufführungsdispositiv situativ genau bedeutet. Es geht darum, die Ebene des Sprechens in Motiven und Metaphern zu überwinden und entlang ausgewählter sozial-relationaler Aufführungssituationen die Effekte komplexer Involvierungsmodi von Zuschauer*innen konkret zu benennen und herauszuarbeiten (2.2.3).
In Kapitel 2.3 stelle ich jene sechs ausgewählten Aufführungsbeispiele vor, die die Materialgrundlage für die weiteren Analysen bilden: Alma des österreichischen Theaterregisseurs Paulus Manker in Zusammenarbeit mit dem israelischen Autor Joshua Sobol, Sleep no more der britischen Kompagnie Punchdrunk, 3/Fifths – Supremacy-Land von James Scruggs und Tamilla Woodard sowie insgesamt drei verschiedene Produktionen des dänisch-österreichischen Kollektivs SIGNA (Das Heuvolk, Wir Hunde und Das halbe Leid). Insgesamt führt das zweite Kapitel damit in den zentralen Gegenstand dieser Studie – das immersive Theater im engeren Sinne und seine spezifische vereinnahmende Wirkungsästhetik – ein und entwickelt theoriegeleitet und induktiv zugleich aus dem Material heraus die zentralen Thesen, Fragestellungen und Analysekategorien.
34 Hybride Formen, die sowohl dokumentarisch als auch dezidiert partizipativ bzw. immersiv arbeiten, wie z. B. Gold & Coal von Kötter/Israel/Limberg, sind bislang noch eher selten.
35 Wie z. B. in Projekten verschiedener Bürgerbühnen an deutschen Stadt- und Staatstheatern, in künstlerischen Projekten freier Kollektive wie She She Pop oder Rimini Protokoll, die sogenannte »Experten des Alltags« einbeziehen oder internationalen, eher (kunst-)aktivistischen Langzeitprojekten wie z. B. von Jonas Staal, Sarah Vanhee oder Scottee und Selina Thompson.
36 Zur Definition von Game-Theater schlägt Literaturwissenschaftler und Theaterkritiker Christian Rakow vor: »Unter ›Game-Theater‹ verstehe ich Theaterformen, die sich explizit auf Computerspiele als Inspirationsquelle des Theaters berufen. Im Kern zeichnet sich diese Kunstform durch Interaktivität aus, das heißt in ihr wird das Kunstwerk durch den Eingriff des Rezipienten (des Spielers) mitgestaltet, auf Grundlage eines Sets von Spielregeln. Die Entscheidungen der Spieler bestimmen dabei über den Verlauf des ästhetischen Vorgangs« (Rakow, 2013).
37 Diese Unterscheidung erfolgt analog zu der Differenzierung eines schwachen und starken Konzepts von Präsenz, die Erika Fischer-Lichte wiederum mit Rückgriff auf eine von Marco Stahlhut und Sybille Krämer vorgenommene Differenzierung für das Performative vorgeschlagen hat, vgl. Fischer-Lichte, 2004a, S. 160 – 175 und Krämer/Stahlhut, 2001. Ich danke Doris Kolesch für den Verweis auf Stahlhut/Krämer.
38 Adam Czirak zufolge bezeichne Partizipation »die Option der Teilhabe an einer vielfältig erfahrbaren Gemeinschaft […], aber nicht die notwendige Realisierung einer wechselseitigen Interaktion oder Intervention« (Czirak, 2014, S. 243, Hervorhebung TS).
39 Diese Unterscheidung nimmt auch der Theaterwissenschaftler Gareth White in seiner Studie Audience Participation in Theatre – wenn auch mit einer anderen Begrifflichkeit – vor: »My definition of audience participation is simple: the participation of an audience, or an audience member, in the action of a performance« (White, 2013, S. 4, Hervorhebung TS). Von dieser Definition ausgenommen sind Teilnahmen an Workshops, Proben und eben auch die ›klassischen‹ Publikumsreaktionen während oder nach einer Aufführung wie Klatschen und Lachen (vgl. ebd., S. 5). Letztere sind u. a. für die Theaterwissenschaftlerinnen Caroline Heim und Stefanie Husel unterdessen bereits entscheidende Aktivitäten, die aus einem ›Zuschauer‹ einen ›performer‹ (Heim, 2016) oder ›Mitspieler‹ (Husel, 2014) machen. Bei ihnen greift nach meinem Dafürhalten das o. g. schwache Konzept von Partizipation.