4.2 Involvierung durch das Soundscape in Punchdrunks Sleep no more
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Assoziationen: Punchdrunk
Während die Verwendung von Musik, Geräuschen und komplexen Klanglandschaften im Theater alles andere als ein neues Phänomen ist, so ist doch die theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sounds bzw. mit Wahrnehmungsprozessen auditiver Phänomene – insbesondere hinsichtlich methodischer Fragen zu einer Analyse der Rezeption dieser ephemeren, sich in Schallwellen materialisierenden theatralen Ausdrucksmittel – noch verhältnismäßig jung (vgl. dazu Rost, 2017, S. 41; hier findet sich diesbezüglich auch ein umfangreicher Forschungsüberblick). Hans-Thies Lehmann konstatiert für postdramatische Theaterarbeiten eine symptomatische »Tendenz zur Musikalisierung« (Lehmann, 2011a, S. 155), welche inszenatorische Mittel und Phänomene wie den Einsatz auditiver Semiotik und Polyphonie bis zu experimenteller Klangentwicklung umfasst (vgl. ebd., S. 155ff.). Sounds werden gerade im Sprechtheater und in Performances immer häufiger nicht mehr nur zur atmosphärischen Illustrierung, sondern als eigenständiges künstlerisches Ausdrucksmittel innerhalb der Inszenierung eingesetzt. Auch nimmt die Anzahl an Produktionen zu, die auditive Wahrnehmungsprozesse gezielt gegenüber visuellen priorisieren und/oder eine Reflexion über die Privilegierung oder Ausschaltung einzelner Sinne und Sinneswahrnehmungen anregen. So werden z. B. in den Projekten von Begüm Erciyas entweder die Materialität und Medialität meiner eigenen Sprechstimme (in Voicing Piece) oder der Auftritt der Stimme einer künstlichen Intelligenz (in Pillow Talk) zum je zentralen Gegenstand der Aufführung. Inszenierungen wie Talking Straights Entertainment, Simon McBurneys The Encounter oder Henrike Iglesias’ Oh My verfolgt das Publikum zwar körperlich und visuell von seinen Plätzen im Zuschauerraum aus, die Zuschauer*innen erhalten aber zusätzlich Kopfhörer, wodurch es auditiv fokussiert, adressiert und zuweilen auch manipuliert wird. Audiowalks von Rimini Protokoll, LIGNA, hannsjana oder Janet Cardiff und George Bures Miller spielen mit konstruierten Widersprüchen zwischen visueller und auditiver Wirklichkeitswahrnehmung und Aufführungen von Miss Idol Revolutionary Berserker arbeiten mit einer auditiven Überwältigungsästhetik durch konsequente akustische Dauerbeschallung ihres Publikums.
Im Gegensatz zu den genannten Produktionen übernimmt die Ebene der Soundgestaltung in Aufführungen immersiven Theaters neben der Gestaltung der Raumausstattung, der Duftgestaltung, der Spielweisen und narrativen Plot- und Figurenentwicklung eine entscheidende Rolle bei der theatralen Hervorbringung des der Inszenierung zugrunde liegenden fiktiven Mikrokosmos. Im immersiven Theater werden in fast allen szenischen Räumen zumeist aus in der Ausstattung versteckten Lautsprechern Musikauszüge, Klänge oder Geräusche eingespielt, die entweder als atmosphärisches Hintergrundgeschehen der Plausibilität der szenischen Darstellungen zuträglich sein sollen oder eine Kommentarfunktion erfüllen. Allen in diesem vierten Kapitel besprochenen Aufführungsbeispielen liegen eigens komponierte oder zusammengestellte, umfangreiche Soundscapes153zugrunde, die nicht nur wirkungsästhetisch von hoher Relevanz für das immersive Aufführungsdispositiv sind, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Publikumsinvolvierung leisten.154
Im Folgenden möchte ich am Beispiel des bereits viel beforschten »immersive theatre«-Klassikers Sleep no more von Punchdrunk analysieren, welche Rolle dem Soundscape bei der Involvierung der Zuschauer*innen in die Aufführung sowie in die gestaltete Weltversion zukommt. Hierfür möchte ich entlang von produktionsästhetischen Notizen der Punchdrunk-Macher*innen sowie ausgewählten Forschungs- und Blogger*innen-Beiträgen herausarbeiten, wie das Soundscape Zuschauer*innen gleichermaßen körperlich (hier insbesondere: viszeral), imaginär und affektiv zu adressieren und dabei (ver-)einnehmendes Potential zu zeitigen vermag (4.2.1). Am Beispiel einer ausgewählten, prominenten Sequenz aus der Inszenierung – der Lip-Sync-Performance von Hekate zu Tony Bennetts »Is That All There Is?« – soll polyperspektivisch analysiert werden, wie Sleep no more über die soundbasierte Zuschauer*innen-Involvierung insbesondere Nostalgie zu erzeugen vermag (4.2.2).
153 Im Unterschied zum kanadischen Klangforscher Raymond Murray Schafer, der den Begriff des »Soundscape« prägte (vgl. Schafer, 1977), damit aber vor allem eine räumliche (Alltags-)Sphäre meinte, die den Menschen klanglich umgibt, adressiere ich mit dem Begriff aufführungsanalytisch die Ebene der Involvierung des Publikums in die sich über die verschiedenen Sounds, Klänge und Songbeispiele generierende Klanglandschaft.
154 Vor diesem Hintergrund überrascht es, wie wenig innerhalb der breit aufgestellten Punchdrunk-Forschung bislang konkret dazu gearbeitet wurde.