Theater der Zeit

4. Publikumsinvolvierung in Aufführungen immersiven Theaters

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Anzeige

Anzeige

Anzeige

Im Folgenden stehen die Einzelanalysen der sechs Aufführungen von Manker, Punchdrunk, SIGNA und Scruggs/Woodard im Zentrum. Dabei habe ich mich aus heuristischen Gründen entschieden, pro Beispiel nur je einen, für die jeweilige Inszenierung dominanten Involvierungsmodus herauszugreifen. Eine polyperspektivische Analyse ausgewählter Szenen und/oder Situationen soll aufzeigen, wie Zuschauer*innen in das Aufführungsdispositiv eingelassen werden und dabei über verschiedene Strategien sowohl in das Aufführungsgeschehen als auch in den der Inszenierung zugrunde liegenden Mikrokosmos involviert werden.

Ich werde herausarbeiten, wie die gewählten Inszenierungen als Medien der Immersion über verschiedene Modi der Publikumsinvolvierung im Sinne Huhtamos »bestimmte kognitive und emotionale Bewusstseinszustände« wie auch »körperliche Zustände« (Huhtamo, 2008, S. 48f.) erzeugen. Zu diesen gehört zuvorderst die bereits von Freydefont und Sermon hervorgehobene wirkungsästhetische Dimension der Desorientierung. Diese ist, wie ich zeigen werde, aufs Engste mit der formbedingten Singularisierung der Aufführungserfahrung verknüpft. Schließlich werden Zuschauer*innen nach Betreten der szenischen Räume zumeist aufgeteilt und gezielt vereinzelt, damit jede*r die eingerichtete Weltversion entlang seiner/ihrer eigenen Sym- und Antipathien, Interessenlagen und Aufmerksamkeitskapazitäten erkundet. Die Tatsache, dass alle Zuschauer*innen einer Aufführung immersiven Theaters am Ende ihres Besuchs ganz und gar unterschiedliche Szenen und Situationen erlebt haben, verschiedenen Figuren begegnet sind, über diese z. T. auch voneinander abweichende Perspektiven und Positionen auf die Weltversion kennengelernt haben und sie die Wirklichkeitssimulation vor allem erfahrungsbezogen mit allen Sinnen körperlich und emotional durchlebt haben, führt dazu, dass Zuschauer*innen diese Aufführungen nachhaltiger erinnern. Immersives Theater öffnet seinen Zuschauer*innen im ästhetisch abgesteckten Raum der Kunst alternative Weltversionen, die analog zur Realität für eine begrenzte Dauer mit allen Sinnen erfahren werden. Und weil es sich trotz der zumeist hyperrealistischen Raumgestaltung in der Regel um mögliche Weltversionen – wie die fiktiven Vereine »Canis Humanus e.V.«, »Das halbe Leid e.V.« oder den Themenpark SupremacyLand – handelt, ist es zuvorderst eine symptomatische Unentscheidbarkeit zwischen Fiktion und Realität, die Zuschauer*innen-Erfahrungen prägt. So macht man als fiktionalisierter Gast in der Wirklichkeitssimulation Erfahrungen, die sich nie eindeutig nur einer der beiden Sphären zuordnen lassen. Hierbei kommt Affekten und Emotionen wirkungsästhetisch eine Schlüsselrolle zu. Alle Produktionen bedienen sich dessen, was Felix Barrett emotional storytelling nennt (vgl. Kap. 2.2.3). Sie involvieren Zuschauer*innen in eine Wirklichkeitssimulation, indem sie die strukturelle Erzeugung bestimmter Emotionen begünstigen. Sei es Nostalgie (vgl. Kap. 4.2.2), eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit (vgl. Kap. 4.4.2) oder Beklemmung und Angst (vgl. Kap. 4.5) – es gilt, Zuschauer*innen primär über verkörperte Empfindungen mit der gestalteten Weltversion zu ›koppeln‹ und gerade dadurch systematisch an einer Wahrnehmung der Grenzverwischung von Fiktion und Wirklichkeit mitzuwirken.

Die verschiedenen Involvierungsmodi, die ich im Folgenden analysiere, kommen damit als Strategien in den Blick, Zuschauer*innen mit der inszenierten Weltversion in Beziehung zu setzen. Düfte, Klänge, Berührungen, Handlungsanweisungen – sie alle wirken im immersiven Theater daran mit, Weltversion und Zuschauer*innen über bestimmte ausgelöste Empfindungen aneinander zu binden. Diese Involvierungsprozesse können, so möchte ich argumentieren und an den Beispielen belegen, in Situationen der Vereinnahmung münden. Affekttheoretisch bedeutet dies, dass involvierte Zuschauer*innen von etwas situativ derart eingenommen werden, dass deren Handlungs- und Reaktionsspielraum kurzfristig auf ein bestimmtes, den jeweiligen affektiven Dispositionen entsprechendes, Register verengt wird (vgl. Kap. 2.2.3). Neben der methodischen Herausforderung, an diese Situationen heranzukommen, sie zu identifizieren, materialbezogen freizulegen und (idealerweise polyperspektivisch) in den Blick zu nehmen, verknüpft sich mit der Analyse vereinnahmender Publikumsinvolvierung das theoretische Problem, in welchem Verhältnis Affektivität bzw. Emotionalität und Reflexivität in Situationen der Vereinnahmung stehen.

Meines Erachtens muss diesbezüglich von einem graduellen Spektrum ausgegangen werden. Entlang meiner eigenen Aufführungserfahrungen, meiner Beobachtungen anderer Zuschauer*innen während der Aufführungen, den zahlreichen Interviews, die mir Einblick in die Aufführungserfahrungen anderer gegeben haben, und der Einbeziehung von Erfahrungs- und Wirkungsbeschreibungen in Texten von Rezensent*innen und Forscher*innen komme ich zu dem Schluss, dass die Brisanz einer wirkungsästhetischen Vereinnahmung immersiven Theaters darin liegt, dass sie nicht zwingend allen Zuschauer*innen selbst auffällig und reflexiv zugänglich werden muss. Vor allem nicht, wenn man sich vor Augen hält, dass bestimmte Vereinnahmungsprozesse als solche überhaupt erst in Erscheinung treten, wenn man sie in den Bedeutungshorizont der Diegese stellt. Gerade bei SIGNA-Arbeiten kommt es häufig vor, dass Zuschauer*innen in Situationen verwickelt werden, die ein emotionales oder handlungsbezogenes Re-Agieren in Gang setzen, das situativ auf der Ebene des Aufführungsgeschehens eine andere Bedeutung zeitigt als auf der Ebene des Mikrokosmos. Insbesondere diese Formen von Vereinnahmung werde ich über das Konzept der Komplizenschaft präzisieren (vgl. Kap. 4.3 bis 4.6).

Die Vereinnahmung selbst kann von Zuschauer*innen entweder unbemerkt bleiben oder durch das Ausagieren einer bestimmten Emotion oder Reaktion in situ auffällig werden und damit zum Gegenstand (selbst-)reflexiver Auseinandersetzung werden. Zur produktiven Ambivalenz von Vereinnahmung gehört, dass die sie auslösenden Situationen, die zumeist mit einer symptomatischen Erfahrungsintensität einhergehen, von Vertreter*innen beider Seiten zugleich auch genossen werden können. Ich werde Fälle beider Ausprägungen vorstellen. Mein Fokus richtet sich – und dies hängt maßgeblich mit meinen eigenen Aufführungserfahrungen zusammen – in den Analysen allerdings stärker auf diejenigen Vereinnahmungen, die in situ selbstreflexiv auffällig werden.

Gerade weil all die Involvierungsmodi – ob über Sound, Berührungen, Handlungsanweisungen oder Olfaktorik und Prozesse des Mit-Leidens – so intensiv an der strukturellen Erzeugung von Emotionen mitwirken und ebendiese nachweislich auch für Situationen der Vereinnahmung kennzeichnend sind, können Letztere den teilnehmenden Zuschauer*innen auch ihre je eigenen Selbst-/Weltverhältnisse zugänglich machen. Und zwar in der Hinsicht, als dass ihnen einsichtig (gemacht) werden kann, auf welche Weise sie qua eigener Sozialisation und Affektbiografie gezielt zu affizieren, zu emotionalisieren und damit mitunter auch zu manipulieren sind. Es ist damit auch das eigene, immer schon sozial-relationale In-der-Welt-Sein mit allen (in-)dividuellen Weisen des Sich-Orientierens und Zur-Welt-Ausrichtens, das einem*r über die singularisierten Aufführungserfahrungen immersiver Theateraufführungen zu Bewusstsein geführt werden kann. Und gerade darin – so wurde in den Interviews zu SIGNA-Aufführungen durch alle Altersschichten hindurch deutlich – liegt für Zuschauer*innen ein wesentlicher Reiz, sich auf solch übergriffiges Theater überhaupt einzulassen. Ein Theater der Vereinnahmung lässt sich dann als etwas Produktives erleben, wenn man als Zuschauer*in offen ist und die Bereitschaft (und Resilienz) mitbringt, auf sich selbst zurückgeworfen zu werden und sich selbst dabei auch ein Stück weit aufs Spiel zu setzen.

Wie eingangs erwähnt, basiert die Fokussierung je nur eines dominanten Involvierungsmodus in den Analysen auf heuristischen Gründen. Es ist deshalb wichtig, deutlich zu machen, dass die isolierte Betrachtung zum einen das Ziel verfolgt, im Sinne der Polyperspektivik der Theaterform, gerade diejenigen – z. B. olfaktorischen, haptischen oder handlungsanweisungsbezogenen – Involvierungsmodi hervorzuheben, die im Theater (und der Theaterwissenschaft) sonst eine eher untergeordnete Rolle im Hinblick auf Prozesse der Wahrnehmung und Bedeutungsgenerierung spielen. Zum anderen soll durch die Fokussierung auf je einen dominanten Involvierungsmodus insbesondere dessen genuines Mit-Wirken beim Zustandekommen vereinnahmender Situationen hervorgehoben werden. Trotz der Isolierung einzelner Involvierungsmodi für Analysezwecke soll zu keinem Zeitpunkt vergessen werden, dass es für die Wirkung immersiver Theateraufführungen konstitutiv ist, dass es eine Vielzahl gleichzeitig, neben-, in- und miteinander wirkender Involvierungsmodi gibt.

Im ersten Analysekapitel widme ich mich der räumlichen und figurenperspektivischen Involvierung von Zuschauer*innen in Paulus Mankers Alma. Hier wird es zuvorderst darum gehen, die von Freydefont und Sermon mit dem immersiven Aufführungsdispositiv verknüpfte Desorientierung an einem Beispiel zu konkretisieren und emotions- und affekttheoretisch mit Blick auf Situationen der Vereinnahmung zuzuspitzen (4.1). Wie Punchdrunks Sleep no more seine Zuschauer*innen zuvorderst über das Soundscape in die Wirklichkeitssimulation involviert, analysiere ich im Zusammenhang mit der strukturellen Erzeugung von Nostalgie. Hier greife ich für die polyperspektivische Szenenanalyse auf eine Beispielsequenz zurück, die bereits von anderen Theaterwissenschaftler*innen und Fan-Blogger*innen durch vielfache Bezugnahmen als eine besonders wirkmächtige hervorgehoben wurde (4.2). Am Beispiel von SIGNAs Das halbe Leid werde ich darstellen, wie Zuschauer*innen über körpergebundenes Geruchsdesign in die Weltversion des gleichnamigen fiktiven Sozialvereins involviert und innerdiegetisch von dessen Therapiemethoden eines Mit-Leidens vereinnahmt werden (4.3). Die fiktive Welt der Himmelfahrer lernen teilnehmende Zuschauer*innen von SIGNAs Das Heuvolkzuvorderst über das Befolgen von Handlungsanweisungen kennen. Über die Teilnahme an Ritualen und ein Sich-Einlassen auf geltende Regelsysteme werden Zuschauer*innen Kompliz*innen einer innerdiegetisch vorangetriebenen kollektiven Subjektivierung, die sie qua Vereinnahmung zuweilen auch selbst erfasst – vor allem, wenn sich fiktive Himmelfahrer-Welt und Realität des SIGNA-Kollektivs über die Erzeugung einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit verschränken (4.4). Anhand ausgewählter, polyperspektivischer Miniaturen aus Wir Hunde soll dargestellt werden, wie SIGNA ihre Zuschauer*innen über körperliche Berührungen in eine fiktive Weltversion involvieren, in der eine Transspezies namens Hundsch existiert. Auch hier kann die Teilnahme an Gesprächen oder innerdiegetischen Ereignissen wie einer Hundsch-Abrichtung dazu führen, dass Zuschauer*innen über Berührungsangebote oder -verbote zuvorderst auf der Ebene der Diegese vereinnahmt werden, z. B. indem der Verein über die strukturelle Erzeugung von Angst und Unwohlsein Zuschauer*innen an der Ausgrenzung der sogenannten Wolfshundsche beteiligt (4.5). Im letzten Analysekapitel werde ich aufzeigen, wie Zuschauer*innen als fiktionalisierte Besucher*innen des Themenparks Supremacy-Land über das (Wieder-)Erkennen, Dekodieren und wissensbasierte Einordnen von Zeichen, Symbolen, Rhetoriken und stereotypen Repräsentationen körperlich, affektiv, viszeral und diskursiv von einem System Weißer Suprematie und dessen rassistischer Weltsicht vereinnahmt werden (4.6).

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Das Ding mit dem Körper. Zeitgenössischer Zirkus und Figurentheater
Theaterregisseur Yair Shermann