Theater der Zeit

Alles vom Gorki wird bleiben

von René Pollesch

Erschienen in: Zeitgenoss*in Gorki – Zwischenrufe (03/2023)

Was die Zuschauerinnen im Theater sehen, selbst wenn die Schauspielerinnen direkt vor ihnen stehen, ja selbst ein anderer Mund, bis er unseren berührt, liegt in der Vergangenheit. Zwar ist das, was wir vor uns sehen, nur ein paar ­Nanosekunden älter als wir selbst – der eigene Mund, die eigene Präsenz –, aber immerhin etwas älter. Für einen Moment sollten wir das nicht vernachlässigen, dass alles vor uns in der Vergangenheit liegt, auch wenn es nur ein paar Nanosekunden sind. Das Licht ist sehr schnell, aber eben nicht unendlich schnell, sondern 300 000 Kilometer in der Sekunde. Wäre es langsamer, wäre alles noch komplizierter, habe ich mal gelesen, dann wären die Eltern jünger als ihre Kinder. So aber liegt alles um uns herum in der Vergangenheit. Nichts ist gleichzeitig. Weil Energie nicht unendlich ist und das Licht nicht unendlich schnell. Wir sind also nie Zeitgenossen. Meine eigene private Idee, warum für die Menschen die Zeit im Alter schneller vergeht, ist: weil die meisten nur noch besoffen sind.

Für alle Binaritätsidioten da draußen, zwei Zitate von ­Biologinnen: Jedes Lebewesen ist seine eigene Gattung (Darwin), und möglicherweise in einem gemeinsam zu bewohnenden Haus der Differenz (Haraway). Das Gorki Theater ist der große Wunsch...

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