Vorwort
von Torsten Buß und Enrico Lübbe
Mit Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen beschäftigten wir uns erstmals im Herbst 2014 intensiv. In diesem Text thematisiert Jelinek die letztlich gescheiterte Schutzsuche von Geflüchteten in der Wiener Votiv kirche im Zeitraum 2012/13 und nimmt diesen Vorfall zum Anlass für einen vehementen, wütenden und zugespitzten Angriff auf den Umgang der Wohlstandsgesellschaft mit den Geflüchteten aus dem Mittelmeerraum, auf die Konstrukte der gedanklichen und geographischen Abschottung und die Angst vor dem Fremden.
Als Blaupause für Die Schutzbefohlenen zog Elfriede Jelinek Die Schutzflehenden von Aischylos unter ihren Text, eines der ältesten überlieferten Dramen der Menschheit, das gleichfalls eine Fluchtsituation verhandelt: Dieser erhaltene erste Teil einer ansonsten verlorengegangenen Trilogie beschreibt das Schicksal der Töchter des Danaos, die aus ihrer Heimat Ägypten über das Mittelmeer an den Strand von Argos fliehen und den dortigen König Pelasgos um Schutz bitten. Pelasgos befragt sein Volk – und die Argiver entscheiden, den Töchtern des Danaos Asyl zu geben.
Elfriede Jelinek spiegelt und bricht den Aischylos-Text vielfach, kompiliert ihn und fügt Ausrisse davon in ihren Textfluss ein. Die Lektüre des kompletten Aischylos-Textes ließ uns ein kraftvolles, faszinierendes, so archaisches wie aktuelles Drama entdecken. Mit einem überraschenden Ende, an dem sich in die allgemeine Freude die Sorge mischt, ob das Schicksal sich mit dieser Rettung schon erfüllt hat.
In Dietrich Ebeners Übertragung fand sich am Schluss der Satz aus dem Chor: „Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt.“ Dieser Satz gab uns den entscheidenden Impuls, beide Texte zusammenzudenken und zusammenzubringen auf der Bühne. In diesem Satz fanden wir das Scharnier, das ebenso die Gedankenwelten beider Texte verbindet wie auch die Welt der griechischen Antike mit der Gegenwart.
Eine humanistische Utopie aus der Antike (die eigentlich keine Utopie darstellt, sondern tatsächlich antike Gepflogenheit) und Jelineks Blick auf die Gegenwart aufeinandertreffen zu lassen und beide Texte, die sich mit je eigener Kraft und Ästhetik gemeinsamen Fragen nähern, zu zeigen und in Korrespondenz zu stellen, erwies sich für uns als entscheidender Zugriff, sodass wir uns im Dezember 2015 entschieden, das Doppelprojekt Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen für die Spielzeiteröffnung 2015/16 zu planen.
Wir fragten daraufhin Elfriede Jelinek, ob sie sich eine Kombination beider Texte vorstellen könne. Sie war von dieser Konstellation überrascht, aber gab uns schließlich ihre Zustimmung unter der Bedingung, dass wir beide Texte getrennt voneinander und nacheinander spielen.
Das Schauspiel Leipzig war das erste Theater überhaupt, das beide Texte gemeinsam aufgeführt hat – und das erste ostdeutsche Theater, das diesen Text Elfriede Jelineks auf die Bühne gebracht hat.
Als verbindendes Element der Inszenierung hatten wir die Idee eines Chores aus Leipzigerinnen und Leipzigern, die tragendes Element der beiden Texte werden sollten. Auf unseren Aufruf hin meldeten sich so viele Interessierte, dass schließlich über fünfzig Choristinnen und Choristen an der Aufführung mitwirkten, die überwiegende Zahl von ihnen stand zum ersten Mal auf einer Theaterbühne.
Als im Frühsommer 2015 am Schauspiel Leipzig die szenischen Proben begannen, war das Flüchtlingsthema bereits in der Öffentlichkeit, die zuvorderst (und sehr heftig) diskutierte Frage war jedoch, ob Griechenland im Euro bleibt oder ein „Grexit“ drohe.
Wir gingen in die Spielzeitpause und setzten die Proben Ende August fort. Die tagesaktuellen Themen hatten sich inzwischen völlig verschoben und zum Teil verschärft. Der Grexit war in den Hintergrund gerückt, Griechenland sei nun „gerettet“, hieß es. Nach einem ungewöhnlich heißen Sommer wurde der drohende Klimawandel kurzzeitig fokussiert, aber auch bald wieder ad acta gelegt.
Ein anderes Thema sorgte jetzt hartnäckig und nun auch in vielen europäischen Staaten, die nicht unmittelbar ans Mittelmeer angrenzen, für anhaltende Unruhe: die sogenannte „Flüchtlingskrise“. Bilder von der Urlaubsinsel Kos hatten die Ferienmonate bestimmt und zeigten nachhaltig Wirkung.
Wir setzten unsere Probenarbeit fort, die in den kommenden Wochen permanent von der Tagesaktualität tangiert wurde: Ende August fand man in Österreich einen Kühlwagen mit 71 toten Flüchtlingen auf – zur gleichen Zeit probierte unser Chor die Sätze aus dem Jelinek-Text: „Es kommen viele gar nicht erst an, […] sie ersticken im Kühlwagen.“
Anfang September ging das Bild eines auf der Flucht ertrunkenen Jungen um die Welt. Auf den Proben fielen die Jelinek-Sätze: „Lasset die Kleinen zu mir kommen, wir entziehen ihnen geschickt ihr Sein, wenn sie nach der Mama schrein, wir ersäufen sie, und auf den Sarg setzen wir dann ein liebes Bärli drauf, ja, wir setzen noch eins drauf!“
Wieder einige Tage später, der Premierentermin rückte näher, wurden am Münchner Hauptbahnhof unter großem Beifall Schokolade und Kinderspielzeug an ankommende Flüchtlingsfamilien verteilt. Auch in Leipzig gaben viele Menschen der „Refugees welcome“-Bewegung ein Gesicht. Doch die Willkommenseuphorie kühlte durch diverse Gegenstimmen wieder ab.
Was uns beschäftigte, beschäftigte anscheinend auch Elfriede Jelinek, die zu der Zeit auf ihrer Webseite begann, Aktualisierungen und Fortschreibungen ihres Textes Die Schutzbefohlenen zu veröffentlichen. Gerade aufgrund unserer Probenerfahrungen entschieden wir uns aber, weiterhin den Text in seiner Version aus dem Jahr 2013 zur Grundlage zu nehmen, der bisher schon in verstörender Weise der Aktualität gewachsen war.
Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen hatten am 2. Oktober 2015 Premiere und erlebten in der Spielzeit 2015/16 dreizehn Vorstellungen in Leipzig und zwei Aufführungen bei den 70. Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Und obwohl auf der Bühne auf tagesaktuelle Vorkommnisse nicht explizit Bezug genommen wird, wurde jede Aufführung von tagesaktuellen Ereignissen tangiert; was uns während der Probenarbeit widerfahren war, setzte sich während der folgenden Monate kontinuierlich fort.
Ende Oktober stellte die Leipziger AfD-Stadtratsfraktion die Anfrage an den Oberbürgermeister, ob das Schauspiel Leipzig seine politische Neutralität verletze. Wir hatten an unsere Hausfassade, die direkt auf der Marschroute des Leipziger Pegida-Ablegers Legida liegt, ein Goethe- Zitat plakatiert: „Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.“ Die Stadtratsfraktion argumentierte: „Die Zeiten derartiger öffentlicher Vorgaben für ‚richtige Politik‘ sollten eigentlich längst der Vergangenheit angehören.“ Die Anfrage wurde vom Leipziger Oberbürgermeister abgewiesen.
Am 19. Februar 2016 pöbelte eine aufgebrachte Menge in Clausnitz gegen Geflüchtete, die in einem Bus mit der Destinationsanzeige „Reisegenuss“ ankamen. Zwei Tage später spielten wir wieder Die Schutzflehenden/ Die Schutzbefohlenen mit den Sätzen im Schlussmonolog: „Verreisen Sie doch mal mit uns. Ach nein, das wollen Sie lieber nicht.“ Im anschließenden Publikumsgespräch formulierte ein männliches Chormitglied unter Tränen, wie sehr er sich momentan als Sachse schäme.
Zwischen Oktober 2015 und Mai 2016 brennen Flüchtlingsunterkünfte – auffällig häufig in Sachsen. Deutsche und europäische Politiker fordern, die Grenzen zu schließen – manche fordern sogar, an den Grenzen auf Flüchtlinge zu schießen.
Es wäre vermessen zu behaupten, dass wir bei der Planung des Projekts Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen ahnten, in welchem Umfeld diese Inszenierung einmal stattfinden wird, in welcher politischen Situation sie aufgeführt, von welchen Ereignissen sie begleitet wird.
Worüber wir uns jedoch von Anfang an klar waren: Wir wollen und können mit einem so hochpolitischen Thema nur Fragen stellen und versuchen, einen Resonanzraum zu öffnen. Wir können zur Diskussion anregen. Antworten zu wissen und zu geben, kann nicht unser Ziel, kann ohnehin nicht der Anspruch des Theaters sein. Die Bühne ist ein Ort einer künstlerischen Auseinandersetzung, die, im besten Fall, einen größeren Rahmen und Perspektiven eröffnet, Fragen stellt, die über die Tagespolitik hinausgehen. Wir sind weder Politiker noch arbeiten wir in einem Medium, das mit der Schnelligkeit anderer Medien auch nur annähernd Schritt halten kann. Die Ereignisse scheinen sich oft zu überschlagen. Täglich, fast stündlich verschieben sich gesellschaftliche Parameter.
Das Theater hat eine andere Zeitlichkeit, die wiederum die Möglichkeit bietet, komplexer, tiefergehender, aus anderen Blickwinkeln Themen zu beleuchten und zu hinterfragen.
Während der Vorarbeiten führten uns die Themen der Texte von Aischylos und Jelinek zu Recherchen und Hintergrundgesprächen, die uns einen neuen und genaueren Blick auf viele Aspekte brachten, und so entschlossen wir uns, diese Recherchen und Fragen öffentlich zu machen und jede Aufführung mit einem Gespräch zu begleiten, auch um die Aktualität und Reaktionsfähigkeit nicht zu verlieren. Im Juni 2015 fragten wir bei Jens Bisky an, ob er sich die Moderation einer begleitenden Expertengesprächsreihe vorstellen könne, auf der Themen, die eng oder auch weiträumiger mit dem Thema Flucht, Asyl und Migration zu tun haben, diskutiert werden.
Daraus entstand die Veranstaltungsreihe, die von Oktober 2015 bis Mai 2016 am Schauspiel Leipzig stattfand und deren Gespräche der vorliegende Band aufarbeitet und dokumentiert. Eine Gesprächsreihe, die Themen und Fragestellungen aus der Vergangenheit ebenso wie aus der Gegenwart diskutierte, mit Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Wissensgebieten und Arbeitsfeldern.
„Nichts ist nur Schwarz oder Weiß“, dieser Gedanke von Albrecht Engelmann formuliert, was immer wieder die Sichtweise auf die Themen in den Gesprächen bestimmte, so dass über die Zeit ein differenziertes Bild der gegenwärtigen Debatte entstand – nicht zuletzt auch in der Diskussion mit dem Publikum.
Über die Dauer dieser Gespräche wiederholte sich, was bereits die Proben und Aufführungen zeigten: Die Situation, auf der die Expertinnen und Experten agierten, änderte sich stetig. Schnelle Lösungen wollte und konnte keiner der Gäste präsentieren. Aber manche Themen beschäftigten viele unserer Gäste: die Frage nach Grenzen und dem Umgang damit, das westdeutsche Dogma des ‚Nicht-Einwanderungslandes‘ und die Nach-Wende-Problematiken in Ostdeutschland. Hervorgehoben wurde immer wieder die Bedeutung des gegenwärtigen bürgerschaftlichen Engagements sowie die Vermutung, dass ohne eine politische Verständigung und rechtliche Grundierung (oder besser gesagt: Vision) zu Aspekten wie etwa der Grenzthematik, der Einwanderung und der Integration, vieles Schwerer wird.
Es wurde immer wieder deutlich: Es ist eine Zeit des Umbruchs zu einer dauerhaft veränderten Gesellschaft, die diese Herausforderung nur gemeinsam und sorgsam wird gestalten können. Die Leipziger Expertengespräche als Materialsammlung sowie als Diskussionsbeitrag zur aktuellen Situation zugänglich zu machen, ist die Idee dieses Bandes.
Enrico Lübbe und Torsten Buß
Leipzig, im Juni 2016