Vorwort
von Andrea Zagorski
Erschienen in: Dialog 8: Plattform II+III – Gegenwartstheater (10/2007)
Belgien, Deutschland, Frankreich, Kanada, Niederlande, Portugal, Rumänien und Ungarn - acht Länder, acht verschiedene Theaterkulturen und sieben unterschiedliche Sprachen. Nach Abschluss der ersten Runde der Internationalen Plattform Gegenwartstheater haben sich im Auftrag des deutschen Zentrums des Internationalen Theaterinstituts erneut Übersetzer, Regisseure, Autoren und Dramaturgen auf den Weg gemacht, neue Stücke zu entdecken - Stücke, die über nationale Grenzen hinaus Aufmerksamkeit verdienen und auch ein internationales Publikum erreichen können.
In all diesen Ländern fanden Übersetzerworkshops statt, trafen sich Autoren mit ihren Übersetzern, wurden Lesungen veranstaltet und Stücke inszeniert. Zur Auswahl standen 24 Stücke, drei pro Land, die für die Übersetzung vorgeschlagen wurden. Stücke, die durch ihre sprachliche Qualität, ihren besonderen thematischen Zugriff oder eine überzeugende Figurenzeichnung auffielen.
Nach der Publikation der Stücke der I. Plattform im Jahr 2003 vereint der nun vorliegende Band jene Theaterstücke, die in den letzten vier Jahren ins Deutsche übertragen und bereits während der Mülheimer Theatertage 2005, beim Festival NEUE STÜCKE AUS EUROPA 2006 in Wiesbaden und am Maxim Gorki Theater Berlin im Dezember 2006 in szenischen Lesungen präsentiert wurden.
Betrachtet man die hier präsentierte Auswahl näher, so fällt auf, dass alle Stücke explizit den Überlebenskampf des Einzelnen thematisieren, der sich - national differenziert - einer von Krieg, Rassismus, Korruption und Desillusionierung geprägten Welt gegenüber sieht, in der wenig Raum für Hoffnungen und noch weniger für Utopien ist. So beschreibt Fabrice Melquiot in Der Teufel ist für alle da das Schicksal eines jungen serbischen Deserteurs und sein Scheitern im Exil in Frankreich, fern von der vom Krieg zerstörten Heimat. Bei Abel Neves wird in Ich war noch nie in Bagdad der Krieg über die Berichterstattung im Fernsehen in ein portugiesisches Wohnzimmer getragen und verdeckt fast die private Katastrophe eines Paares, das schon lange aufgehört hat, miteinander zu reden. Tim Carlson entwirft in Allwissen das Szenario einer zukünftigen Gesellschaft, die durch massive Repression des Einzelnen vom Horror ihrer Kriege abzulenken versucht, und Jonathan Garfinkel lässt in Das Haus der vielen Zungen einen blinden israelischen General, dessen Ziehsohn und einen palästinensischen Dichter aufeinander treffen, deren Lebensläufe durch die endlosen Kriege im Nahen Osten geschrieben wurden und werden. Jaime Rocha stellt in Weisser Mann Schwarzer Mann zwei Portugiesen einander gegenüber, die der Definition über ihre Hautfarbe entkommen wollen - dabei zeigt sich der Rassismus von einer ganz ungewöhnlichen Seite. Ungewöhnlich sind auch die jährlichen Treffen einer Französin mittleren Alters mit ihrem Ehemann, einem jungen Nordafrikaner, die David Lescot in Ehe beschreibt. In Survival of the fittest von Ivan Vrambout läuft ein bedrohlicher Countdown für einen Sohn, der das Vorbild seines korrupten Vaters weit überbieten konnte.
Desillusioniert sind die jungen Rumänen in Der verfickte Tag von Peca Stefan. In ihrer Realität verwandeln sich Menschen in Comic-Figuren, Blut spritzt und Zynismus garantiert das Überleben. All Inclusive von Annemarie Slotboom hingegen stellt die Protagonisten bei dem Versuch dar, sich mittels eines möglichst nie enden wollenden Cluburlaubs eine neue und schönere Welt zu bauen und so ihrem eigentlichen Leben zu entkommen.
Ein Stück aus der Plattform-Auswahl der letzten vier Jahre fehlt in dieser Anthologie, es ist die Trilogie Nibelungen Wohnpark von János Térey. Der dritte Teil „Hagen, oder die Hassrede" wurde von Orsolya Kalász und Monika Rinck aus dem Ungarischen übersetzt und in einer szenischen Lesung während des Festivals „Neue Stücke aus Europa" in Wiesbaden vorgestellt. Mit über 400 Seiten im Original würde der Zyklus jedoch die Kapazitäten dieser Publikation sprengen.
Der besondere Dank gilt allen Übersetzern, die immer zwischen den Stühlen sitzen, sei es zwischen den Kulturen, den Sprachen oder in der Kunst, die durch ihre Arbeit den Stücken ein neues Leben in einer anderen Sprache geben und uns eine neue Welt erschließen.
Andrea Zagorski
Berlin, April 2007