Die dramatische Situation des epischen Theaters und der Postmoderne
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Lob des Realismus (05/2015)
Vor allem gegen dieses romantische Glotzen wendet sich nun der nächste Schritt in der Entwicklung der dramatischen Situation: die epische Situation. Um die Dialektik wieder auf die Bühne zu bringen, wird die strategische Glaubwürdigkeit des bürgerlichen Realismus zerschlagen. Der Schauspieler verschmilzt nicht länger mit seiner Figur, die Zuschauenden identifizieren sich nicht länger mit den Figuren und die Figuren innerhalb der Situationen begründen ihr Handeln nicht mehr psychologisch. Damit produziert die epische Situation einen dreifachen Widerspruch: zwischen Spieler und Figur, zwischen den Figuren, die als antagonistische Vertreter konkrete Interessen vertreten, und zwischen dem Handeln der Figuren (Alltagstheater), der Spieler (episches Theater) und der Zuschauenden (staunende Zeitgenossen). Die Mittel hierfür entstammen dem ästhetischen System der Verfremdung. Die Unterbrechung, der Schock und die Irritation machen das Bekannte unbekannt und das Normale fragwürdig. Der Betrachter wird aus seiner identifikatorischen Position der Bewunderung vertrieben und sieht sich plötzlich einem Problem gegenüber, für das es keine individuelle Lösung gibt.
Die technischen Erneuerungen der Verfremdung haben zu zwei Traditionslinien geführt, die bis in das Theater der Gegenwart reichen. Zum einen gibt es die sozialistische Verwendung der dialektischen Verfahren, um die Widersprüche aus einer bürgerlich-sentimentalen Betrachtung einerseits und ihrer kapitalistischen Verklärung zur ewigen Natur andererseits zu befreien. Zum...