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Widerständiges aus Niederbayern
Juden, Muslime, Frauen: Die 2. Landshuter Sperr-Tage denken das Thema Ausgrenzung komplex weiter
von Sabine Leucht
Erschienen in: Theater der Zeit: Abgründe des Alltäglichen – Das Staatstheater Braunschweig (06/2019)
Sperrig, ausgesperrt, Martin Sperr: Die nach Letzterem benannten Landshuter Sperr-Tage lassen bewusst viele Assoziationen zu. Und es war nicht umsonst der selbst nicht unsperrige Sepp Bierbichler, der zur Eröffnung der zweiten Ausgabe darauf hinwies, dass Martin Sperr, bevor er am 6. April 2002 nur 57-jährig in Landshut starb, „schon lange innerlich gestorben war“. Es ärgerte Bierbichler, dass kein Eröffnungsredner erwähnte, wie dieselbe Stadt, die Sperr jetzt, nachdem ihn die Zeit „entschärfte“, feiere, ihn als „Widerling“ und „schwule Sau“ beschimpft, „hinausgetreten“ und vernichtet habe. Dieser Ärger trifft in Sven Grunert natürlich den Falschen. Der Intendant des Kleinen Theaters Landshut hat die Sperr-Tage 2016 auch deshalb ins Leben gerufen, um Zeichen zu setzen: für Vielfalt, Toleranz und Reflexion, in einer Zeit, in der der wiederaufkeimende Hass auf vermeintlich Andere Sperrs Stücke über Schwulenhatz und hinterwäldlerische Mitläufer wieder grausig aktuell wirken lässt.
Für Grunert ist Theater „eine Haltung“. Und das kleine Festival ist künftig ein fester Teil davon. Mit Unterstützung des Bayerischen Kultusministeriums und der Gemeinde findet es ab sofort alle zwei Jahre statt – als „Biennale Niederbayern“ und mit einem Programm, das disziplin- und themenübergreifend Widerständiges präsentiert. Das Motto vom 5. bis 7. April 2019 war „offen, kritisch, horizontal“ und „jetzt“; das kritische Volkstheater der Fleißers, Fassbinders oder Sperrs stand den filmischen und Bühnen-Dramen, Lesungen und Diskussionen vielfach nur Spalier. Sperr-Texte, die bis auf die „Jagdszenen in Niederbayern“ ohnehin kaum je auf einen Spielplan finden, kamen gar nicht, Theater im engeren Sinne kam wenig vor. Das jüdisch-arabische Puppen-Musical „Isaak und der Elefant Abul-Abbas“ eröffnete einen ganzen Tag zum Thema islamisch-jüdische Verständigung und Feindbilder. Und zum Abschluss gab es Herbert Achternbuschs Spätwerk „Arkadia“: ein selbst für Achternbusch-Verhältnisse grantiges Stück, in dem es überall nach Tod riecht. Schwer sind den Philosophen und passionierten Liebenden Sokrates und Alkibiades ihre „Fleischmäntel“ geworden, das Scheißen zu einem so wichtigen Thema wie die sich verflüchtigenden Gedanken-„Dünste“ oder „Ziegenarschlöcher“ liebende Götter. Dieses halb bittere, halb kindlich-verspielte Alterswerk ist weniger denn je auf Verständlichkeit aus. Doch Harald Wissler (Sokrates) und Werner Waas (Alkibiades) unterspielen alles Drängende und Pathetische darin. Teils mit Masken und in Bademänteln mit Gipsspuren, so als hätte man ihre Körper aus antiken Statuen herausgekratzt, kochen sie Tee und lassen die ungeheuerlichsten Nonsens-Sätze ganz selbstverständlich wirken. Sie singen wüst, lassen eine Maultrommel zirpen und all dies von jenseits der Zeit und der Schmerzen zu uns herüber wabern.
Von Achternbusch erzählt auch Bierbichler eine Anekdote: Achternbusch liegt unter seinem Auto und das Gespräch kommt auf Sperr, dem 1972 bei einem Reifenwechsel zwei Adern im Kopf geplatzt sind. Woraufhin Achternbusch mit bösem Blick und ohne ein Wort seine Arbeit hinschmeißt. Eine vergleichende Lesung aus Bierbichlers Roman „Mittelreich“ und dessen Drehbuch-Adaption für den hier ebenfalls gezeigten Film „Zwei Männer im Anzug“ eröffnete die Sperr-Tage – beides im Übrigen Paradebeispiele für bodenständig saftige und doch verdichtete Kunstsprache.
Satte Sprach- und Reflexionskunst, wenn auch weniger mundartlich gefärbt, gab es auch von der jungen Autorin Enis Maci, die aus ihrem Essayband „Eiscafé Europa“ las und mit Sperr immerhin gemein hat, dass ihr Stück „Mitwisser“ zu den diesjährigen Mülheimer Theatertagen geladen ist, die Sperr 1978 gewann. Regie-Legende Alfred Kirchner brachte ein Stück 68er-Rebellentum an die Isar, mit seiner ganz eigenen divenhaften Sperrigkeit und Episoden aus Gerlind Reinshagens Roman „Die Frau und die Stadt“ über die jüdische Dichterin Gertrud Kolmar. Mit Sarah Grunerts Lesung aus Feridun Zaimoglus „Die Geschichte der Frau“ standen damit gleich dreimal sprachgewaltig und ungeschminkt porträtierte, ungewöhnliche und auf denkbar unterschiedlichste Weise selbstbestimmte Frauen im Zentrum des kleinen feinen Festivals. //