Theater der Zeit

Auftritt

Heidelberger Stückemarkt: Das schreckliche Geschwür der Vergangenheit

„2 x 241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger“ von Frankfurter Hauptschule – Regie FX Mayr, Bühne Anna Wohlgemuth, Kostüme Korbinian Schmidt, Videodesign Cyrill Oberholzer

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Dramatik Theaterkritiken Baden-Württemberg Dossier: Neue Dramatik Frankfurter Hauptschule FX Mayr Theater und Orchester Heidelberg

„2X241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger“ von Frankfurter Hauptschule in der Regie von FX Mayr beim Heidelberger Stückemarkt. Foto Susanne Reichardt
„2X241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger“ von Frankfurter Hauptschule in der Regie von FX Mayr beim Heidelberger Stückemarkt.Foto: Susanne Reichardt

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Das Abdriften der Gesellschaft in rechtsradikale Tendenzen und Rassismus nimmt das Künstlerkollektiv Frankfurter Hauptschule mit Humor. „Wir haben euch was mitgebracht: Spaß Spaß Spaß“. In Deutschlandflaggen gehüllt, denken die Spieler:innen in der Produktion des Theaters der Stadt Heidelberg über die Risse in der Gesellschaft nach. Das Format ist ungewöhnlich. „2 x 241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger“ lautet der Titel des Texts, mit dem die Künstler:innen 2024 den Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts gewannen. Dabei überschreitet die Gruppe, die in der Bildenden Kunst verwurzelt ist, lustvoll Grenzen zwischen Bild und Drama.

Gemeinsam mit Arad Dabiris postmigrantischem Drama „Druck!“ – uraufgeführt am Nationaltheater Mannheim – hat das Kollektiv im vergangenen Jahr den Preis des Theaterfestivals gewonnen, das die Vielfalt neuer Dramatik zeigt. „Die Stücke der jungen Generation sind politischer geworden“, sagt Holger Schultze, der Intendant des Heidelberger Theaters, über die Auswahl bei den Dramenwettbewerben der vergangenen Jahre. Er habe genug von der „Nabelschau im eigenen Schreiben“, sagte der Autor Sean Pfeiffer nach der Lesung seines Stücks „Ein Kinderspiel“, in dem es um die Zerstörung von Lebenswelten im Krieg geht. Beim Schreiben habe er Bilder von sterbenden Menschen im Gaza-Streifen vor Augen gehabt. Belanglosigkeit und den Fokus auf eigene Befindlichkeiten gibt es für die junge Generation der Dramatiker:innen längst nicht mehr. Gastland ist in diesem Jahr China. Am Samstag, 3. Mai, steigt im Zwinger 3 des Theaters der internationale Dramenwettbewerb.

Politische Themen dominieren auch die Auswashl des Gastspielprogramms. In der Jury für den Autor:innenwettbewerb sitzt in diesem Jahr Thomas Köck, eine der starken Stimmen gesellschaftskritischer und politischer Dramatik. Seine Stücke werden auf deutschsprachigen Bühnen viel gespielt. Im Vorfeld der Nationalratswahlen in seinem Heimatland Österreich hat er politische Verflechtungen und das Erstarken der rechtsextremen FPÖ gerade in ländlichen Regionen dokumentiert. Auf die Entwicklungen in der Alpenrepublik schaut Köck klug und kritisch, aber dennoch mit Humor. In ihrer Inszenierung von „Chronik der laufenden Entgleisungen“ an den Schauspielhäusern Graz und Wien blickt Marie Bues hinter die Fassade eines zerfallenden Europas.

Die klare politische Haltung prägt auch die Arbeit der Frankfurter Hauptschule. Die Künstlergruppe aus dem Umfeld der Frankfurter Städelschule, der staatlichen Hochschule für Bildende Kunst in Frankfurt, lehnt ihren Namen an die berühmte Frankfurter Schule von Philosophen und Soziologen an, die ab 1924 das wissenschaftliche Denken revolutionierte. Das Künstler:innenkollektiv sprengt nicht nur Grenzen der Dramatik. Inspiriert vom Universalkünstler Martin Kippenberger, der 1988 seinen Band „241 Bildtitel zum Ausleihen für Künstler“ veröffentlichte, betrachten sie die Wirklichkeit. Für FX Mayr, der als Regisseur neuer und ungewöhnlicher Theaterformate zu Höchstform findet, ist der Text eine Steilvorlage.

Mit großen Videobildern erschafft der Österreicher mit seinem Regieteam ein surreales Universum. Cyrill Oberholzer und Anna Wohlgemuth setzen mit ihrer Videokunst auf die Nahaufnahme. Züngelnde Schlangen, riesenhaft vergrößerte Grashalme und wildes Wasser heizen die Stimmung auf. Die Spieler:innen Lisa Förster, Steffen Gangloff, Katharina Kaiser und Esra Schreier spiegeln die großen Filmbilder mit einer kraftvollen Choreografie. Schreie ihrer Körper reißen die zauberhafte Fassade von FX Mayrs Gesamtkunstwerks auf. Das macht den Abend, den das Team auf 75 intensive Minuten zusammengerafft hat, so berührend.

In der berauschenden Vielfalt den roten Faden zu finden, gelingt dem Regisseur dennoch nicht. Die Streiflichter, mit denen die Spieler:innen das Publikum konfrontieren, werden akribisch heruntergezählt. Solchen Formalismus bricht Mayr mit einer Choreografie, die berührt. Eine klare Linie kristallisiert er damit aber noch nicht heraus. Stark sind die Assoziationen, die er weckt – zumindest punktuell. Dass sich in der Textvorlage der Frankfurter Hauptschule mehr als ein Wimmelbild gesellschaftlicher Entwicklungen verbirgt, visualisieren auch Korbinian Schmidts Kostüme. In roten, ausgeleierten Jogginganzügen läuft sich das Ensemble warm. Später kleidet sie der fantasiereiche Ausstatter in Gewänder, die an antike Staatsgrößen erinnern. In den insgesamt 482 Bildern geht es weniger ums Chillen und um das Lebensgefühl der Spaßgeneration. Das bringt Schnipsel 134 auf den Punkt: „Seit ich weiß, dass Hugo Boss im Dritten Reich SS-Uniformen geschneidert hat, trage ich keine SS-Uniformen mehr.“ Die nicht bewältigte Vergangenheit quillt aus dem Text wie ein schreckliches Geschwür.

Erschienen am 30.4.2025

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