Retzhofer Dramapreis 2023
Laudation von Jurymitglied Martin Brachvogel für Lena Gorelik
Assoziationen: Dossier: Retzhofer Dramapreis Lena Gorelik
Ein Zwischenfall an einer Schule. Zwei Menschen alleine in einem Umkleideraum, der eine hat eine blutende Nase, schreit vor Schmerzen. Wir sehen das nicht, es ist schon passiert, dafür hören wir aber viel davon – nicht von den Beteiligten, sondern von allen anderen. Man unterhält sich, versucht herauszufinden, was geschehen ist und warum. Zwischen den Mitschüler:innen entspinnt sich ein Reigen von Geschichten, teilweise ausagiert, die alle das Gleiche beschreiben und doch sehr unterschiedlich sind, sich oft auch widersprechen. Wahr sind sie alle, doch ist das so eine Sache mit der Wahrheit.
„Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter aus als über Paul.“ Dieser Satz ist über 300 Jahre alt und stammt vom Philosophen Spinoza, und er trifft den Kern dieses klugen, im besten Sinne mehrdeutigen Theatertextes.
Denn bis zum Schluss bleiben uns die tatsächlichen Ereignisse vorenthalten, und das ist gut so. Das Publikum kann gar nicht anders, als sich seine eigenen Geschichten zu stricken, die natürlich geprägt sind von der subjektiven Perspektive jeder, jedes einzelnen. Die Fähigkeit, zwischen Meinung und Faktum unterscheiden zu können, von sich Abstand zu nehmen, skeptisch gegenüber der eigenen Expertise zu sein, ist eine Grundvoraussetzung für einen demokratischen Diskurs.
Das hat die Autorin erkannt und in ihrem Text herausragend umgesetzt, niederschwellig, ohne richtig oder falsch, gut oder böse, ohne Opfer oder Täterschaft.
Erschienen am 29.9.2023