„Eine Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand umfassend aufbauen!“
Das Ensemble Modern als Beispiel
von Heiner Goebbels
Erschienen in: Recherchen 96: Ästhetik der Abwesenheit – Texte zum Theater (08/2012)
Es gehört zu den bewundernswerten und für mich immer schwer verständlichen Qualitäten eines Ensemblemusikers, einen ständigen Widerspruch aushalten zu können: den Widerspruch zwischen der großen, auch körperlichen Intensität, die vom Einzelnen – im Zusammenspiel mit den anderen Musikern und gepaart mit höchster Fokussierung, Konzentration und Virtuosität – erwartet wird, und der Abstraktion, die ihm abverlangt ist, da er aus seiner eigenen Spielerposition keinen wirklichen Überblick über den Gesamtklang, den Gesamteindruck, die Anlage der Komposition und letztlich das Gelingen einer Aufführung haben kann.
Ein Musiker bildet dafür komplexe Fähigkeiten aus, die ihn in die Lage versetzen, sich einem musikalischen Gesamtzusammenhang zur Verfügung zu stellen und den individuellen Ausdruck dazu ins Verhältnis zu setzen. Man nennt das Professionalität. Das ist vermutlich ähnlich wie beim Fußball – nur dass dort das Ergebnis auf der Hand liegt.
Vielleicht liegt aber genau in diesem Widerspruch ein Grund, der viele Musiker dazu verleitet, sich um diesen Überblick gar nicht weiter zu bemühen. Der Triangelspieler, der nicht einmal die Frage beantworten kann, bei welcher Symphonie er gerade mitgespielt hat, ist inzwischen eine Seltenheit und als kuriose Spitze des Problems nur noch für einen Witz gut. Die Konzentration auf gewerkschaftliche Absicherungen und Arbeitszeiten als wichtigste Verteidigungslinie...