Auftritt
Konstanz: Gegenwelt Gretchen
Theater Konstanz: „Faust I“ von Johann Wolfgang von Goethe. Regie Johanna Wehner, Bühne Elisabeth Vogetseder, Kostüme Miriam Draxl
von Bodo Blitz
Erschienen in: Theater der Zeit: Bruder Karamasow – Frank Castorf über Russland (02/2016)
Assoziationen: Theater Konstanz
Goethes „Faust“: vom Bildungsbürgertum lange schon als Klassiker geadelt, damit seines irritierenden Potenzials nicht selten beraubt. Wenn Elisabeth Vogetseder die holzgetäfelten Wände des Konstanzer Zuschauerraumes in ihrem Bühnenbild zitiert, dann hat das durchaus programmatischen Charakter: Es lässt sich lesen als radikale Variation des Vertrauten. Die Holzwände der Bürgerstube taugen auf der Bühne zur schiefen Ebene, nicht mehr zur tragenden Seitenwand bürgerlicher Selbstbespiegelung.
Johanna Wehner komponiert ihre Inszenierungen gerne über die Textfassung. Direkt ist ihr „Faust“, mit klarem Schwerpunkt auf der Gretchentragödie, temporeich zu Beginn. Und durchweg beiläufig im Ton, alltäglich trotz beibehaltener Verssprache. Ein Text, der mehr als bekannt ist und den die Figuren im Stile der Selbstvergewisserung häufig wiederholen, prüfen, befragen. Regie wie Schauspieler nutzen die Freiheit des Wie, auch des Wer. „Prolog im Himmel“? In der Moderne nicht gebraucht. Mephisto als „Teufel“, mit Hinkefuß und Hundeschweif? Ein Märchen, an das wir nicht mehr glauben. Konsequent löst Wehner Mephisto auf, pluralisiert ihn über dreifache Besetzung und gibt ihn als innere Stimmen der Faustfigur zu erkennen. Optisch variantenreich gelöst über die spielerischen, aufeinander verweisenden Kostüme von Miriam Draxl. Individuelle Nuancen innerhalb konformer Schnittmengen sorgen für Witz, wie überhaupt das Spielprinzip durchgängiger Bezogenheit etwas Leichtes, Abwechslungsreiches mit sich bringt. Die Attraktivität bösartiger Verführung muss nicht erst hergestellt werden; sie liest sich so von Anfang an.
Und die Faustfigur? Sie ist nicht der einsame Gelehrte in seiner Studierstube, sondern zum Gesellschaftsprinzip des „Vorwärts und Hinauf“ verallgemeinert, innerhalb der Textfassung wiederkehrendes Zitat. Ingo Biermann verkörpert dieses moderne Lebensprinzip, seine Hektik und Hybris. Der Konstanzer Faust hält Stillstand nicht aus und wird alles tun, was ihm möglich erscheint. Wehner rückt uns diesen Faust nahe heran. Er agiert eigenständig, aber schnell im Einklang mit seinen Alter Egos auf der Bühne, den Mephistofiguren. Im Sog unbegrenzter Möglichkeiten können sich alle vier Teilidentitäten wiederfinden. Diese Lesart betont das Typenhafte am Faustcharakter. Sie geht auf Kosten der Fallhöhe, der Tragik dieser Figur. Ein Innehalten? – Bei dieser Figurenzeichnung nicht vorgesehen. Wehner schafft Mephisto ab und verkleinert Faust, verlagert ihn ins Kollektive.
Es bedarf der Gegenwelt, um ins Grübeln zu kommen. Und diese Gegenwelt hat Johanna Wehner auf wunderbare, berührende Weise mit und für Gretchen konturiert. Das Konstanzer Gretchen vermag Gegenwart auszufüllen, auf intuitive, ja authentische Weise. Johanna Link spielt dieses Gretchen fragil und gleichzeitig beherzt, mit sich im Einklang, aus der Zeit gefallen und doch zugänglich. Sie zieht Fausts Blicke auf sich, ohne das zu wollen. Füllt den Bühnenraum, ohne kokett zu sein. Sehnsuchtsvoll versucht sie den Finger als Fremdkörper abzustreifen, der ihr im „Liebt mich, liebt mich nicht“-Spiel die unerwünschte, negative Antwort anzeigt. Denn sie vertraut dem Versprechen Fausts, die gemeinsame Nacht leuchte für die Ewigkeit. Zweifelhaft bleibt, warum dieses starke Gretchen überhaupt der falschen Intuition folgen konnte. Klar geht Johanna Links Gretchen in den „letz- ten Tag“ im Kerker, gefasst und gereift. Keine Wahnsinnige, eine Traumatisierte. Wenn sie Faust die Identitätsfrage stellt – „Bist Dus?“ –, dann schaut Ingo Biermann als Faust an seiner Kleidung herab, zweifelnd, bar jeder Antwort. Als suche er sich erst jetzt.
Der Tragödie zweiter Teil, den Johanna Wehner im Mai 2016 auf die Konstanzer Bühne bringen wird, hier könnte er beginnen. In der Wertedichotomie der Inszenierung von „Faust I“ hat sich die Regie klar entschieden: gegen das gesellschaftskonforme „Weiter, immer weiter“, für das Existenzielle, die folgenreiche Begegnung, auch wenn beides tödlich endet. //