Dialektik und tragische Kollision
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Lob des Realismus (05/2015)
„Überhaupt aber ist die Erfindung der Situation ein wichtiger Punkt, der denn auch den Künstlern gewöhnlich große Not zu machen pflegt.“
G. W. F. Hegel „Ästhetik“49
Dialektik und tragische Kollision
Wer versucht, seine Gegenwart mithilfe eines dialektischen Denkens zu verstehen, wird immer wieder erstaunt sein, wie faszinierend es ist, die Widersprüche in den vordergründig geschlossenen Erscheinungen zu erkennen, und wie schwer es ist, ebendiese Entdeckungen für seine Mitmenschen anschaubar zu machen. Vielleicht liegt hierin einer der Gründe, warum das öffentliche Nachdenken und Sprechen sich weitestgehend von der Arbeit des dialektischen Denkens verabschiedet hat. Es braucht Zeit, die heute so knapp ist, um die forschenden Bewegungen der Dialektik zu vollziehen. Doch mit der fehlenden Effizienz ist ihr Verschwinden, das einer Kapitulation des Denkens gleichkommt, nicht zu erklären. Vielleicht ist diese Kapitulation nicht nur dem Zwang des Neoliberalismus geschuldet, sondern auch die Folge der weicheren Revolution, die die ästhetischen Formen in der Moderne vollzogen haben. Der Angriff der Avantgarden auf die Repräsentation von Realität ist womöglich viel wirkungsvoller als von ihr selbst gewünscht. Ihre Repräsentationskritik hat sie quasi überholt, da sie ein unbeabsichtigtes Bündnis mit einer ganz anderen Art von Realitätsverstellung eingegangen ist. Das kapitalistische Denken und Fühlen ist darauf angewiesen,...