3.2. Körperwissen, vor und nach 1600
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Zunächst einmal ist es, wenn man noch einmal an Dürers Pförtchen denkt, nicht schwierig zu erkennen, inwiefern das in seine scheinbar geschlossenen Konturen gefasste Körperbild immer schon Resultat einer vorgängigen Zerreißung ist. Schließlich fungiert das Gitterwerk des Velum im ersten Schritt als Zerstückelungsinstrument, mit dem das Bild des Modells zerlegt und in quadratische Einzelteile zerschnitten wird. Sehr explizit heißt es in Albertis »Della pittura«:
So wie du in diesem Quadrat die Stirn, und in jenem die Nase, in einem andern die Wangen, im darunterliegenden das Kinn und so jeden Gegenstand am entsprechenden Ort siehst, wirst du entsprechend jeden Gegenstand auf eine Tafel oder auf eine Wand, die in entsprechende Quadrate eingeteilt ist, genau übertragen können. (DP 114)
Deutlicher kann man nicht sagen, dass das Körperbild, bevor es als sinnvoll Zusammengesetztes betrachtet und erfahren werden kann, erst einmal in kleine Stücke zerteilt und zerhackt werden muss. Allerdings lässt das einheitliche Endprodukt die Spuren dieser vorgängigen Zerstückelung unsichtbar werden. Es hebt sie in der geschlossenen Gestalt auf – dem Bild, das ein Zeichner qua Velum anfertigt, kann man nicht mehr ansehen, dass ihm eine Zerlegung des Modells in kleine Quadrate vorangegangen ist.
Diese vorgängige Zerreißung betrifft aber nicht nur das Abbild des...