Theater der Zeit

Gespräch

Etwas ganz Neues – „Das ist mein Lebenselixier“

Die Idealbesetzung für Luzern – Über Programme, Provokationen und Provinz

Von Bern ist er einst hinausgezogen, Dominique Mentha, um auf den Bühnen dieser Welt die Stimme zu erheben – erst als Sänger, dann als Regisseur und schließlich lange Jahre als Intendant. Das Landes - theater Innsbruck und die Volksoper Wien hat er mit seinen Spielplänen geprägt, und als man in Luzern nach der Ära Barbara Mundel das Theater wieder dringend näher an sein Publikum anbinden wollte, ohne die Idee der sanften Erneuerung dabei aufgeben zu müssen, holte man Mentha her, der sich nach den Turbulenzen an der Volksoper in Wien gern auf ein kleineres Haus einließ. „Luzern ist vielleicht Provinz, aber sicher nicht so provinziell wie Wien“, so seine Antwort auf die Frage, ob der Wechsel von Wien nach Luzern nicht einem Abstieg gleichkomme.

von Dominique Mentha und Gabriela Kaegi

Erschienen in: Dominique Mentha - Eine Spurensuche – Theaterarbeit in Luzern, Wien, Innsbruck (05/2016)

Assoziationen: Schweiz

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Gabriela Kaegi: Dominique Mentha, zwölf Jahre haben Sie nun in Luzern gewirkt. Sozusagen „materialisiert“ wird diese Zeit und Ihre Arbeit unter anderem in dem Stapel Saisonprogramme, der jetzt vor uns liegt: zwölf Zentimeter hoch und knapp drei Kilogramm schwer. „Adieu“ steht kurz und bündig vorne auf dem letzten Saisonprogramm. Adieu – das steht für eine endgültige Verabschiedung und bedeutet Lebewohl, aber es bedeutet auch auf Nimmerwiedersehn.
Dominique Mentha: Das stimmt. Aber es ist nicht nur mein persönliches Adieu, sondern das ganze Team geht ja mit mir weg. Drum haben wir gemeinsam nach diesem Titel gesucht. Mir gefällt, was wir gefunden haben, denn es ist unprätentiös und leicht. Adieu sagt man zu allen Menschen, und auch wenn es vielleicht endgültig ist, so ist das doch noch lange kein Drama. So ist eben das Leben.

Mit „Singen – Sprechen – Tanzen“ haben Sie vor zwölf Jahren Ihre Luzerner Zeit eröffnet. Singen, Sprechen und Tanzen, das ist ein klares Bekenntnis zum Dreispartenbetrieb, und der wiederum steht für ein Theatermodell, das aus dem 19. Jahrhundert stammt! Es gibt viele Modelle aus dem 19. Jahrhundert …

und viele von ihnen taugen ja auch nichts mehr!
Für Luzern ist das Dreispartenhaus genau richtig. Wie sollte das denn in einer Stadt wie Luzern sonst gehen? Ich kann doch hier nicht ununterbrochen Oper spielen! Und fürs Publikum ist es äußerst attraktiv, wenn es unterschiedliche Künste angeboten bekommt. Auch künstlerisch ist es viel schöner, wenn man mit Tänzern, Sängerinnen und Schauspielern zusammenarbeiten kann. Es gab hier jüngst eine Diskussion, ob man nicht eventuell das Schauspiel abschaffen sollte, Basel mit seinem Schauspielhaus sei doch nur eine knappe Zugstunde entfernt. Mein Publikum in Luzern würde das aber nicht goutieren: Es mag die Abwechslung, es mag aber auch die Kontinuität eines Ensembles. Einfach eine Sparte wegzustreichen – was für eine Verarmung wäre das!

Theater, sagen Sie, Dominique Mentha, ist Gedächtnis, Innovation und Unterhaltung.

Das ist ein Lebenstheatersatz von mir, den ich sehr früh erfunden habe und der mir durch alle Spielzeiten und Programme geholfen hat. Die Erinnerung – ich mag lieber den Begriff Gedächtnis – ist für den Menschen wichtig, und wir müssen heute aufpassen, dass sie uns erhalten bleibt. Jede meiner Produktionen soll also auch einen Teil unserer Geschichte pflegen, gleichzeitig soll sie aber auch etwas Neues bieten wie die Musik oder die szenische Umsetzung und so einen gedanklichen Anstoß geben. Unterhaltung schließlich habe ich gewählt, weil ich mich so oft darüber aufrege, dass sie kaum ernst genommen wird. Zugegeben, der Begriff Unterhaltung ist nicht wirklich klug, „unter“ – das sagt ja eigentlich schon, dass es sich um etwas Niedriges handelt und dass von oben darauf herabgeschaut wird. Dabei soll das Theater zum Denken anregen. Und zum Lachen! Ich glaube, die Bezeichnung „Über-Haltung“ würde viel besser passen, auf jeden Fall möchte ich in jeder Aufführung etwas davon haben.

Das Theater hatte, als Sie 2004 nach Luzern geholt wurden, schlechte Auslastungszahlen: In den vier Jahren der Direktion Mundel sind sie, trotz eines interessanten und von der internationalen Presse gelobten Programms, auf rund 50 Prozent geschrumpft. Sie sollten das Publikum zurückholen und das Theater neu positionieren – in der Stadt, in der Region, möglichst in der ganzen Schweiz. Heute beträgt die Auslastung rund 80 Prozent. Man kann durchaus sagen, dass Sie Ihre Aufgabe erfüllt haben. Das haben schon andere versucht und haben es nicht geschafft. Wie ist Ihnen „dieses Wunder von Luzern“1 gelungen?
Früher hat man das Luzerner Theater als Sprungbrett bezeichnet. Das ist ein Begriff, der mir zu einseitig ist und der mir auch nicht so gut gefällt. Darum haben wir den Gegenbegriff „Entdeckertheater“ geprägt. Luzern ist heute das Haus, in dem das Publikum etwas Aufregendes entdecken kann: junge Talente, zeitgenössische oder unbekannte Musik, neue Stücke oder theatrale Formen.

Und aus dieser Mischung von „jung, neu, unbekannt“ hat sich im Lauf der Jahre so etwas wie eine Handschrift entwickelt. Heute spricht man diesbezüglich von einer „Luzerner Dramaturgie“ im Spielplan.
Schön, dass Sie das sagen. Dazu eine Vorgeschichte: Als es darum ging, dass ich das Haus übernehme, hat es geheißen: Wir haben ein kleines Publikumsproblem. Worauf ich antwortete: Wie seltsam! Ihr holt euch dafür einen Intendanten, der in Innsbruck zu Beginn 30 Prozent der Abonnenten verlor und der in Wien bei gewissen Teilen des Publikums extrem umstritten war. Wie oder was soll ich denn hier machen? Für ein populistisches Programm bin ich der Falsche! Mit dem Material, das ich zur Diskussion stellen werde, könnte es vermutlich fast noch anspruchsvoller werden als zuvor. Ein Spielplan braucht gewichtige neue Stücke und gewichtige Entdeckungen – das ist ein Teil – und wenn man dann dazu die großen klassischen Stücke programmiert – und das ist der andere Teil –, dann holt man sich dafür Leute, die etwas zu sagen haben und eigenwillig denken, aber ganz sicher nicht konventionell sind. Eben wie die Regisseurinnen Tatjana Gürbaca oder Vera Nemirova und die Regisseure Tobias Kratzer und David Hermann.2

So die Theorie, wie sieht die Praxis aus?
Das war die Vorgeschichte, und so habe ich dann auch angefangen, und das Publikum in Luzern hat mir eigentlich die ganzen zwölf Jahre recht gegeben: Das ist ein Spielplan, der ansprechend ist. Abgesehen davon habe ich mich schon auch etwas abgesichert und vor meiner ersten Saison, 2004, eine Publikumsbefragung gemacht. Das Resultat war doch sehr erstaunlich: Ein Drittel der 700 Antwortenden sprach sich für Experimente und moderne Oper aus, und nur rund die Hälfte wünschte sich vor allem Musicals.

Nochmal zurück zu Ihrem Entdeckertheater. Nicht nur das Publikum, auch das Theater selbst geht ja bisweilen auf Entdeckungsreise.
Wir haben uns von Anfang an sehr um Öffnung bemüht. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir immer wieder mit Laien arbeiten, zu ihnen hingehen oder sie zu uns hereinholen. Dazu gehört aber vor allem, dass wir starke Beziehungen zu diversen Hochschulen aufgebaut haben: Dort sind die großen Namen von morgen, und wir wollen diese jungen Sängerinnen, Tänzer, Schauspielerinnen, Regisseure beim Start ins Berufsleben begleiten, indem wir ihnen, wie auch jungen Autorinnen und Autoren, hier erste Möglichkeiten geben. Und wissen Sie was? Gerade die Arbeit mit diesen jungen Leuten ist mir im Lauf der Jahre immer wichtiger und lieber geworden, sodass ich heute nicht mehr darauf verzichten möchte.

Wie oder woran erkennt man denn, ob ein junger Mensch Potential hat? So eine Jungregisseurin oder ein Jungautor bekommt ja doch immerhin Ihr ganzes Haus sozusagen zur Verfügung gestellt.
Ich bin kein Kontrollfreak, darum lasse ich sie erst einmal arbeiten. Aber natürlich weiß ich, was auf der Probe läuft. Meine Dramaturgen sitzen ja drin. Und wenn einer von ihnen zu mir kommt und sagt: Domo, geh doch mal Kaffeetrinken mit dem jungen Regisseur, dann weiß ich, dass es Zeit ist für ein Gespräch. Und wenn ich merke, dass da wirklich etwas schiefläuft, geh ich sofort auf eine Probe, und anschließend überlegen wir uns, was zu tun ist. Im Lauf der Jahre habe ich ein ganz gutes Gespür dafür entwickelt. Aber natürlich mache ich auch immer wieder die Erfahrung, dass es beratungsresistente Leute gibt oder dass ich doch etwas nicht ganz richtig eingeschätzt habe.

Immer wieder stößt man in allen zwölf Saisonprogrammheften auf den Begriff Team: Es gibt das Produktionsteam, das manchmal auch Regieteam heißt, und es gibt das Team der Mitwirkenden. Team scheint Ihnen wichtig zu sein – und das in einem so hierarchischen Betrieb wie dem Theater!
Ganz ehrlich: Ich rege mich manchmal richtig darüber auf, dass die Theater in Diskussionen gern so hierarchisch dargestellt werden.

Na ja, da steckt ja auch ein Quäntchen Wahrheit drin.
Wahr ist, dass die Theater sicher mal sehr hierarchisch waren, und manche sind es auch heute noch, das stimmt. Aber es gibt valable Alternativen, um mit einem Theaterbetrieb anders umzugehen. Ich habe schon früh, bereits in Innsbruck,3 zu meinen Leuten gesagt, dass sie sicher nicht von mir erwarten könnten, dass ich ihnen sagen werde, was sie zu tun hätten. Umgekehrt müsse es laufen: Sie kommen zu mir und sagen mir, was ich, der Direktor, tun soll. Sie unterbreiten mir ihre Ideen, dann entscheiden wir, ob sie gut sind, realisierbar oder nicht. Wobei ich betonen möchte, dass ich da schon Erwartungen habe an etwas breit und tief und intelligent Gedachtes. Aber ich kann sagen, dass ich genau auf diesem Weg immer wieder großartige Ideen höre und erlebe – Ideen, auf die ich alleine nie gekommen wäre! Und fast nichts ist so schön, wie wenn ich dann aus vollem Herz sagen kann: Das ist wunderbar, das machen wir!

Haben Sie ein Beispiel?
In der Spielzeit 2013 haben wir uns mit der „Odyssee“ beschäftigt und zwar in allen drei Sparten. In der Phase der Entwicklung und der großen Diskussionen war es plötzlich klar, dass auch wir, das Theater, damit auf Reise gehen würden. Und so haben wir viele kleinere „Odyssee“-Produktionen in Tanz, Schauspiel und in der Oper in der ganzen Innerschweiz gespielt.4 Das war ein richtig erregender Theatermoment, auf den ich sehr lange gewartet hatte. Aber ohne mein Team und die Diskussion wären wir nie darauf gekommen.

Obschon auf der Bühne des Luzerner Theaters in vergangenen Jahren auch einige Sterne aufgegangen sind,5 sagen Sie dezidiert: „Das Ensemble ist der Star!“
Ein richtiger Intendantenspruch. (lacht) Aber er stimmt. Bei uns ist das in der Tat so: Der Star ist das Ensemble. Denn ein gutes Ensemble ist viel mehr als nur eine Anhäufung von guten Stimmen. In einem guten Ensemble passen die Stimmen zusammen, und eine gemeinsame ästhetische Basis für den Gesang und die Bühne ist durch die Arbeit entstanden. Da haben wir jetzt in Luzern einen sehr hohen Standard. Hinzu kommt, dass die Leute sich dank diesem Ensemblegedanken auch wirklich respektieren und mögen. Sie arbeiten gerne zusammen, und sie sind nicht eifersüchtig, wenn sie mal nur eine kleinere Rolle bekommen. Eine gute Stimmung, ein Team, das sich mag und stützt – das fällt in jedem Fall auf die Produktion zurück, sodass ich jetzt eigentlich sagen muss: Es ist nicht nur ein Intendantensatz, der gut klingt, er stimmt auch noch – für Luzern auf jeden Fall.

Junge Leute, die sich fürs Ensemble entscheiden, sollten aber nicht länger als drei Jahre an einem Ort bleiben. Das heißt, Sie schicken sie dann auch wieder weg – gerade wenn es am schönsten ist und alles so richtig gut zusammenpasst?
Das gehört zu meiner Arbeit als Intendant. Bei den Gesprächen zur nächsten Spielzeit sage ich ihnen auch: Du bist gut, und ich bin glücklich mit dir. Aber am Ende der nächsten Spielzeit verlängere ich dich nicht. Ich sage dir das jetzt, damit du, wenn du zum Vorsingen gehst, noch im Engagement bist. Luzern hat bloß einen riesigen Nachteil: Die Stadt ist so schön und die Leute leben so gerne hier, dass sie gar nicht mehr wegwollen. Sie heiraten und gründen Familien. An meinem Theater gibts übrigens viele Kinder.

Theater haben aber den Ruf mit der Familie nicht oder nur schlecht kompatibel zu sein.
Theater sind wenig familienfreundlich, das stimmt. Aber ich habe seit meiner Innsbrucker Zeit immer versucht, das nicht einfach so hinzunehmen. Bei mir sind Kinder auf Proben stets willkommen, überhaupt freue ich mich immer, wenn Kinder mit ins Theater kommen und ich sie in der Kantine sehe. Und wenn auf dem Urlaubsschein „aus familiären Gründen“ steht, unterschreibe ich immer, und bei Engpässen biete ich Hand, so flexibel muss heute auch ein Theaterbetrieb sein. Ob ein Haus familienfreundlich ist oder nicht, das hängt stark von der Leitung ab – das muss ich jetzt auch sagen. In Innsbruck wurden wir von einer Frauenzeitschrift als das „familienfreundlichste Theater“ ausgezeichnet, und Luzern ist zurzeit das geburtenstärkste Theater.

Was schätzen Sie, was käme dabei heraus, wenn Sie jetzt, am Ende der zwölf Jahre, nochmals eine Befragung machen würden?
Es ist in der Tat jüngst noch eine Publikumsbefragung gemacht worden.6 Das Resultat hat mich total überrascht, weil die Ergebnisse so positiv ausgefallen sind: 90 Prozent des Publikums sind zufrieden mit „seinem“ Theater. Und noch viel erstaunlicher ist das Resultat jener Leute, die gar nichts ins Theater gehen: Die wollen nämlich zu 80 Prozent nichts daran verändern.

Wenn dieses Luzerner Publikum in den letzten zwölf Jahren doch ein Stück Offenheit und Toleranz, sogar Neugierde dem Theater gegenüber ent - wickelt hat, sollte man ihm nicht vielleicht mal ein Kränzchen winden?
Das ist ein guter Zeitpunkt dafür: Liebes Publikum, ich danke Euch für Eure Neugierde, Treue und Toleranz. Schön, dass viele von Euch mit uns gehen, darüber sind wir froh.
Aber ich würde dem Publikum schon auch noch sagen wollen, dass es eben daneben auch die Stücke außerhalb des populären Repertoires gibt, Stücke, die es einfach immer noch schwer haben. Früher war es so, dass die Leute da einfach nicht kamen. Der große Fortschritt heute ist, dass das Publikum deshalb nicht wegbleibt, und deshalb auch das Abo nicht kündigt. Das Publikum kommt, und ich freue mich, wenn es schimpft. Und wenn ich etwas persönlich höre, dann gehen wir zusammen Kaffeetrinken.

Sie gehören zu jenen Intendanten, Dominique Mentha, die nicht nur führen und leiten, sich kluge Programme ausdenken und neue Leute aufstöbern, Sie gehören zu jenen Intendanten, die selber auch immer wieder Regie führen. Spitz formuliert könnte man sagen: Sind Sie mit der Leitung vielleicht nicht ausgelastet?
Es gibt sehr gute Intendanten, die nicht selber inszenieren. Und es gibt gute Intendanten, die selber inszenieren. Aber ein Prinzip lässt sich daraus nicht machen.

Und wer leitet das Haus, während Sie inszenieren?
Es gibt solche und solche Stücke. Die einen fressen dich auf, andere geben dir Heiterkeit und Leichtigkeit zurück oder machen dich frei – das überlege ich mir gut im Voraus. Wenn ich hier in Luzern inszeniere, ist das alles kein Problem. Ich bin fleißig und gut organisiert, Sitzungen finden dann eben in der Früh statt, und die Proben fangen eine halbe Stunde später an. Aber ich bin auf jeden Fall da. Wenn ich hingegen auswärts inszeniere, kann es schon mal Stress geben, wenn ich zum Beispiel in einer Beleuchtungsprobe sitze und aus Luzern kommt ein Anruf, weil dort grad eine große Katastrophe passiert ist, die man besprechen muss. Aber das mache ich einmal im Jahr, so ist es vertraglich geregelt – und so geht das ganz gut.

Es zieht sich wie ein roter Faden durch die zwölf Jahre hindurch: Wenn der Direktor inszeniert, ist das entweder barocke Oper, Operette, zeit - genössische Oper oder sogar Kinderoper. Das ist ja wohl kein Zufall, dass es gerade die vernachlässigten Genres sind, derer Sie sich annehmen?
Natürlich ist das ein Signal, und genau so soll es auch verstanden werden. Kinderoper ist wichtig, das ist nicht die Angelegeheit des Assistenten. Genau das will ich damit sagen. Und als dasselbe Signal ist es zu verstehen, dass ich mich immer wieder persönlich um die Operette kümmere. Operette ist etwas vom Schwierigsten, und man rutscht dabei ganz schnell einmal aus, vor allem wenn man unbedingt einen Erfolg inszenieren will. Ich weiß, wovon ich rede!

Schließen wir doch diese Luzerner Zeit noch mit ein paar kurzen Fragen ab. Was würden Sie denn als den größten Erfolg während Ihrer Amtszeit bezeichnen?
Eine Leidenschaft, die ich habe, ist es, neue und „andere“ Spielorte zu suchen und zu finden. Gleich zu Beginn sind wir für die Eröffnungspremiere außer Haus gegangen und haben den „Kaiser von Atlantis“ in der Schiffswerft gespielt. Erst habe ich noch etwas gezögert, aber mein technischer Direktor war begeistert davon, und ich denke, es war eine gute Entscheidung. Die Werft ist für Luzern schon so etwas wie ein Ort der Identifikation, und wenn das Theater dorthin spielen geht, ist das schon auch ein Signal, dass es sich zu den Leuten hinbewegt.

Was ist der Flop Ihrer Luzerner Zeit?
Es gibt natürlich Flops, nicht alles kann gelingen. Am Anfang einer Berufskarriere ist das noch ein riesiges Drama, aber wenn man länger arbeitet, macht man die Erfahrung, dass es gar nicht so schlimm ist, weil ja die nächste Produktion unweigerlich kommt, und man damit eine neue Chance bekommt. Ich sag dann zu meinen Kollegen: Wir haben es gut, irgendwann ist auch eine verunglückte Produktion abgespielt. Wenn hingegen ein Architekt einen Flop hinbaut, dann bleibt der die nächsten hundert Jahre stehen.

Worauf haben Sie noch Appetit, wovon haben Sie noch lange nicht genug?
Barocke Oper und zeitgenössische Oper. Ich merke, mich mit etwas ganz Neuem zu beschäftigen, das sozusagen noch ohne Spur in der Geschichte ist, das ist mein Lebenselixier. Und wenn der Komponist dann, wie jüngst zum Beispiel Johannes Maria Staud, auf die erste Probe kommt, dann bin ich richtig aufgeregt, sitze da, dreh den Kopf nach hinten zu ihm und frage mich, was er jetzt wohl denkt.

Und wofür hat es nicht gereicht?
Also was ich hier in Luzern nie gemacht habe, sind die ganz großen Opern: Wagner, Strauss, das opulente Repertoire des späten 19. Jahrhunderts. Dafür ist das Haus einfach zu klein, das geht schon vom Orchestergraben her nicht, und ehrlich gesagt weiß ich auch gar nicht, ob ich eigentlich dafür begabt bin.

Sie kamen von Wien nach Luzern, von einem sehr großen Haus in ein sehr kleines. Und das direktoriale Büro, wie sah es denn in Luzern aus?
Mein erstes Büro war schon sehr bescheiden. Nichtsdestotrotz habe ich wie in allen früheren Büros das gleiche Prozedere durchgeführt: Schreibtisch raus, großer einfacher Tisch rein. Daran kann man arbeiten, sitzen, planen, diskutieren – einfach alles. Und seit wir vor ein paar Jahren die Direktion im Nebengebäude untergebracht haben mit Blick auf die Reuss und die Kapellbrücke, sage ich jeden Morgen: Ich arbeite im schönsten Büro der Stadt Luzern.

„Mein Traum wäre es, einmal Intendant eines Opernhauses am Meer zu sein“, hat der junge Dominique Mentha einmal gesagt. Nun ist der Vierwaldstättersee vielleicht nicht das Mittelmeer, aber für die Schweiz doch ein stattlicher See. Könnten Sie den Satz vielleicht leicht modifizieren, damit er für Sie noch stimmt?
Ja, das kann ich und dann würde er heißen: Mein Traum wäre es, einmal Intendant eines Opernhauses am Wasser zu werden. Denn egal, ob Meer oder See: Ich fühle mich am Wasser einfach wohl. Manchmal streite ich mich deswegen auch mit meinem Bühnenbildner Werner Hutterli, der der Meinung ist, am Fluss wäre es besser, weil sich ein Fluss mehr bewegt. Aber ich finde, dass der Vierwaldstättersee ein ausgesprochen guter See ist.

Der Frühbegabte aus Bern – Über Kinderspiele, Vätersuche und Muttersöhne

Muri heißt der Ort, und er liegt vor den Toren Berns. Einst ließen sich dort draußen im Grünen die reichen Berner Patrizierfamilien ihre Villen als Sommerresidenzen bauen. Wer in Muri wohnte oder aufwuchs wie Dominique Mentha, spricht ein ordentliches Berndeutsch. „äuä“ und „abhocke“ – das gibt es nicht. Wenn schon, heißt es „ällwäg“, das „l“ spricht man nicht kehlig oder gar als Diphthong aus, sondern es wird elegant mit der Zunge gleich hinter den Zähnen angestoßen. Aber das ist das einzige, was Dominique Mentha als Kind aus Muri verrät. Ansons ten passte die Familie Mentha eigentlich eher schlecht in die Vorstadtidylle der 1960er Jahre. Denn der Vater, ein Arzt, stirbt jung und plötzlich und hinterlässt die Mutter, eine Malerin, mit vier kleinen Kindern.

Dominique Mentha, Sie waren damals neun. Was sind Ihre Erinnerungen an diese Kindheit in Muri?
Meine Mutter hat uns vier Kinder alleine großgezogen; sie hat uns durch die Schulen und die Ausbildung geschleust. Es war auch nicht viel Geld da, aber sie hat das großartig gemacht, mit Engagement und manchmal auch mit Dominanz. Aber sie hat stets dafür gesorgt, dass in unserem Haus ein künstlerisches Klima herrschte: Wir haben alle ein Instrument gespielt und gemeinsam Hausmusik gemacht.

Gab es vielleicht Anzeichen dafür, dass der Dritte in der Folge eine besondere Begabung fürs Theater haben könnte?
Das denke ich schon, denn bereits im Kindergarten habe ich meine erste eigene Theatertruppe gegründet. Sie bestand aus lauter Mädchen, und ich war der Direktor! Ich habe auch ein Stück „inszeniert“, in dem ich selber den lieben Gott gespielt habe. Aber das fand meine Kindergärtnerin nicht so toll, und sie nahm mich zur Seite und hat mit mir ein ernstes Wörtchen geredet, worauf ich die Rolle gestrichen habe. Ich war sehr traurig! Soweit ich mich erinnern kann, war Theaterspielen einfach immer da und gehörte zu meinem Leben, und es war ehrlich gesagt das Einzige, was ich richtig ernst genommen habe.

Um Sie herum waren also zwei Geige spielende Brüder, eine Klavier spielende Mutter, eine Klavier spielende Schwester, es fehlte also noch ein Cello zum perfekten häuslichen Musizieren?
Also das Cello, das hat mir keiner aufgeschwatzt, das hab ich mir gewünscht. Meine Mutter hat mich mit folgenden Worten in die erste Cellostunde gebracht: „Er möchte es unbedingt, vermutlich ist es eine blöde Idee, denn er ist ein Brummer.“ Aber die Cellolehrerin hat ihr widersprochen und gesagt: „Lassen sie es uns erst einmal ausprobieren.“ Und siehe da: Ich habe nicht nur richtig Cello spielen gelernt, ich habe auch aufgehört zu brummen.

Erinnern Sie sich an einen frühen oder an den ersten Opernbesuch?
Das war im Stadttheater Bern, Mozarts „La finta giardiniera“. Das fand man wohl damals passend für ein Kind. Aber erst als ich „Don Giovanni“ sah, erlebte ich meinen ersten, einen wirklich erregenden Opernmoment, und von da an war es um mich geschehen.

Was genau hat Sie bei „Don Giovanni“ so elektrisiert?
Als am Ende die Posaunen erklingen und der Komtur auftritt und sein „Don Giovaaaanniii“ singt. Heute denke ich manchmal, dass es wohl nicht wirklich gut war, aber das ist nicht wichtig: Es hat seine volle Wirkung gehabt. Als ich dann meiner Mutter sagte, dass ich jetzt gerne Gesangsunterricht nehmen möchte, fand sie – wie beim Cello –, das gehe nicht, ich könne nicht singen, ich sei Asthmatiker. Aber Jakob Stämpfli7, dem ich vorsingen durfte, war da anderer Meinung und schickte mich zu Jakob Keller8 in die Gesangsstunde. Das war großartig, und ich war sehr glücklich, und von Asthma war keine Rede mehr. Dann, nach der Matura, war klar, dass ich Gesang studieren möchte, und meine Mutter, die eigentlich aus Biel kam, fand, ich solle doch zum Studieren dorthin gehen. Dann könne ich Sänger werden und später Direktor des Konservatoriums! Aber Jakob Keller fand, dass ich zum Studium ins Ausland müsse. Ich glaube, er fand mich ein bisschen verwöhnt und behütet. Und so habe ich meine Aufnahmeprüfungstour durch Deutschland gemacht und wurde gleich bei der ersten Prüfung in München aufgenommen. So kam ich in die Klasse von Ernst Haefliger9, und das war wie ein Traum für mich.

Und dann waren Sie zum ersten Mal weg von Zuhause, hatten die erste eigene Wohnung und lebten in der Großstadt. Ein richtiges Studentenleben …?
Das fand ich am Anfang überhaupt nicht lustig, im Gegenteil: Als Erstes bin ich in eine Depression gerutscht, irgendwie war ich doch etwas aus dem Nest gefallen. Die große Stadt, es war November, alles war grau – und ich allein! Das war richtig schlimm. Aber Schritt für Schritt habe ich mir dann die Stadt erobert, ich bin mit Kollegen durch die Stadt gezogen, durch die Kneipen, und hin und wieder hab ich sogar auf den Kneipentischen getanzt. Dann kamen die ersten Liebesabenteuer; und als das erste Jahr vorbei war, war ich in München und im Studentenleben angekommen, und es war fantastisch.

Noch während Sie bei Ernst Haefliger in der Opern- und Konzertklasse Gesang und bei Wolfgang Büttner Schauspiel studieren, beginnen Sie parallel dazu ein Regiestudium. War es Ihnen vielleicht gar nicht so ernst mit dem Singen?
Ich hab mal zu Ernst Haefliger gesagt, dass ich mich langweile, weil ich ja nicht acht Stunden am Tag üben könne. Da gab er selbst mir den Rat, doch noch Regie zu studieren. Ich habe in München das Aufnahmeexamen gemacht, bestanden und konnte fortan bei August Everding studieren.
Der Regieunterricht steckte allerdings noch ziemlich in den Anfängen und der Aufbau des Prinzregenten theaters hatte eben erst angefangen. Später konnten dort alle etwas lernen, Sängerinnen, Schauspieler, Musicaldarstellerinnen, Dramaturginnen und Regisseure. Everding hatte eine unglaubliche Kraft, war direkt und sehr persönlich. Mir hat er zum Beispiel gesagt: „Sie gehören zu den Menschen, die Ihre Reden nicht aufschreiben sollen. Bleiben Sie mündlich und direkt. Machen Sie es wie ich, reden Sie aus dem Bauch.“

Keller, Stämpfli, Haefliger, Everding – lauter ältere Männer, die für Ihre Bildung und Ausbildung zuständig waren.
Ja, wenn ich sie alle zusammenzähle, komme ich zum Schluss, dass ich halt doch einfach einen Vater gesucht habe. Aber sie alle haben mich gemocht und gefördert.

Und irgendwann stand Dominique Mentha da mit zwei Diplomen in der Tasche als Sänger und als Regisseur. Und dann?
Ja, da muss ich sagen, dass ich einmal mehr Glück hatte und einmal mehr auf einen äußerst intelligenten und väterlichen Mann getroffen bin: auf Arno Wüstenhöfer10, damals Intendant in Bremen. Bei ihm hab ich mich beworben als Regieassistent. Ich konnte mich vorstellen und bekam die Stelle. Später hat mir Wüstenhöfer einmal gesagt, dass es schon auch ein paar andere gute Bewerber gegeben hätte, aber ich sei so nett gewesen und mein Mantel wäre so gut geschnitten gewesen …! In meiner Bremer Zeit habe ich bei Herbert Wernicke, David Pountney, Gustav Rudolf Sellner und Rudolf Noelte assistiert, lauter gute Leute kamen hierher, von denen ich gelernt habe.
Ansonsten war es ein richtiger „Assi-Job“ mit allem, was dazugehört: Abendspielleitung, Vermittlung zwischen fremden Regisseuren und dem Haus, Einweisungen, Ansagen, das Führen des Regiebuchs, das Einrichten der Probebühnen, Kaffeekochen etc. etc. Ich war 16 Stunden am Tag im Theater, ich verdiente wenig, aber es war schön! Und es dauerte ja auch nicht lange. Nach der zweiten Saison bekam ich die erste eigene Inszenierung: natürlich die Operette! Es war „Eine Nacht in Venedig“ und im Rückblick würde ich sagen, dass der erste Akt vielleicht ein bisschen fad war, aber ab dem zweiten Akt ging dann richtig die Post ab. Dann folgten bereits auswärtige Regien: In Würzburg habe ich für meinen ersten Skandal gesorgt, weil meine „Bohème“ ganz ohne alle Requisiten und Künstlerdachstübchendekor auskommen musste. Mimì starb auf einer Parkbank und Rodolfo malte wie ein junger Wilder. Vor der Premiere holte mich jedenfall der Intendant Achim Thorwald11 zu sich ins Büro und meinte: „Sie werden zwar morgen ausgebuht, aber möchten Sie hier in Würzburg Oberspielleiter werden?“ Das hab ich dann zwei Jahre gemacht, und in der gleichen Funktion war ich danach in Münster.

Aber der Gedanke, einmal ein Theater oder eine Oper zu leiten, den gab es da bereits? Und Sie fanden ihn auch nicht ganz abwegig?
Natürlich habe ich mir solche Gedanken gemacht. Als Regisseur gehörte ich nicht zu jenen, die locker vier oder fünf Inszenierungen pro Saison aus dem Boden stampfen und dabei auch jedes Mal noch eine neue Sicht auf ein Werk finden können. Was mich an der Leitung eines Hauses interessiert hat, und es immer noch tut, ist die Möglichkeit, gemeinsam mit einem Team ein Programm zu gestalten, Theater für eine Stadt oder für eine Region zu machen. Darum ließ ich mich darauf ein, als ich in Münster einen Anruf aus Innsbruck bekam, ob ich die Leitung des Tiroler Landestheaters übernehmen möchte. Als ich dann aber nach einigen Gesprächen und Besuchen merkte, dass es jetzt wirklich ernst wird, holte ich mir doch noch Rat und rief den mittlerweile pensionierten Arno Wüstenhöfer an. Ich schilderte ihm die Situation und seine spontane Reaktion am Telefon war ein schallendes Gelächter. Das traue er mir durchaus zu, sagte er, aber dass es so schnell gehen würde, das hätte er sich dann doch nicht vorgestellt.

Warum packen Sie eigentlich jetzt die Koffer? Luzern ist doch eine schöne Stadt, auch für Altintendanten?!
Ich weiß genau, warum ich gehe: Ich hab das hier zwölf Jahre gemacht, jetzt will ich damit in Ruhe gelassen werden, genauso, wie ich auch nicht stören will. Ich werde ja auch noch weiter arbeiten, meine Studenten in Graz betreuen. Und natürlich inszenieren – als freier Regisseur.

Das heißt: Jetzt kommt vielleicht doch noch die Zeit für Sie, in der Sie jährlich drei oder vier Inszenierungen machen werden, was Sie ja nie wollten! Finden Sie zu Ihrer alten Kraft zurück? Finden Sie weiterhin die frechen, direkten und frischen Perspektiven in den alten Opern stoffen?
Ich hoffe doch! Aber als erstes freue ich mich und bin neugierig. Natürlich fühle ich mich leichter, weil ich keine Verantwortung mehr für ein Haus und die Leute habe. So kann ich schon noch einiges schaffen, und bis 70 muss ich das ja auch nicht mehr machen.

Würden Sie wieder diesen Weg wählen?
Der war zwar nicht immer gerade, und es war auch nicht nur eine Sechsspurautobahn. Aber egal wie, ich habe keine Schmerzen an diesem Weg. Und eines weiß ich: Es wäre ein anderer, wenn ich es wieder tun würde.

Die Neubesetzung für Innsbruck – Über den lieben Gott, das liebe Geld und den Schweizer Giftzwerg

25 Jahre lang hatte der Kammerschauspieler und Regisseur Helmut Wlasak in Innsbruck das Theater geleitet. Er liebte Strauss und Mozart, Nestroy und Shakespeare und die traditionelle Operette. Sein Theater war schön, dem Werk stets treu, tat nicht weh, und die Leute gingen auch gern hin. Aber als er 1992 in Rente ging, war die Zeit gekommen für einen Kurswechsel. Aus über 40 Bewerbern wählte man den Jüngsten aus: den Schweizer Dominique Mentha. Kriterien für die Entscheidung – so heißt es in der Lokalpresse – seien „seine Regieerfolge, sein Österreichbezug, die profunden Kenntnisse der deutschen und österreichischen Literatur, das Talent für Theaterorganisation, sowie die Erfahrung in Menschenführung“12. Kein Wort über sein Alter, seine Herkunft oder gar über seine bereits gemachten Theaterskandale. Kein Wort auch darüber, dass man mit dem Intendantenwechsel offenbar auch einen radikalen Richtungswechsel wollte. Das, so scheint es, hat das verantwortliche Wahl - gremium, der Theaterausschuss, für sich behalten.

Und dann also saßen Sie auf Ihrem Intendantensessel in Innsbruck. Wie sah denn Ihr erstes eigenes direktoriales Büro aus?
Es war ein Büro, das mir von Anfang an gefallen hat. Offenbar war da ein guter Architekt am Werk gewesen, auch die Inneneinrichtung – nur bestes Design: Le Corbusier, Eames, Starck. Allerdings hat mein Vorgänger die ganzen Möbel im Keller lagern lassen, weil er so etwas nicht mochte. Also habe ich sie wieder heraufgeholt, und ich fühlte mich gut darin. Zudem hat mir das Theater einen großen Tisch kaufen müssen, ich hatte nie einen Schreibtisch, aber immer einen großen Tisch, an dem ich gearbeitet, Sitzungen gemacht und Gespräche geführt habe.

In der ersten Spielzeit sorgten Sie mit dem Spielplan und den Inszenierungen für einen solchen Wirbel, dass 1500 Menschen ihre Abon - nemente gekündigt haben, so „verstört“ waren sie offenbar durch Ihr Theater.
Das stimmt. Und ganz ehrlich gesagt, war das auch richtig so und höchste Zeit. Denn nach der Langzeitintendanz meines Vorgängers hatten sich die Leute an eine gewisse Ästhetik gewöhnt und auch an gewisse Repertoirevorstellungen. Aber natürlich habe ich eine solche Reaktion nicht erwartet, auch in den Vorstellungen gab es bisweilen richtige Tumulte. Bis heute bin ich aber der festen Überzeugung, dass eine sanfte Erneuerung oder eine in Häppchen nicht besser gewesen wäre. Nach so langer Zeit war die radikale Änderung das einzig Richtige.

Tumulte in der Vorstellung? War das so ähnlich wie damals bei der Uraufführung des „Sacre du printemps“, 1913, als sich die Pariser Damen mit ihren Handtäschchen ohrfeigten?
So gerade nicht. Aber meine erste Schauspielpremiere, „Das Liebeskonzil“ von Oskar Panizza13, hat schon ordentlich Wirbel verursacht. Der Bürgermeister erschien mit Polizeischutz, vor dem Thea - ter hatten sich Gläubige versammelt, die demonstrativ beteten, und der Staatsanwalt wollte die Generalprobe besuchen, um zu prüfen, ob dieses Stück „blasphemisch“ sei oder nicht, was natürlich zur sofortigen Absetzung geführt hätte. Zum Glück konnte ich ihn davon überzeugen, dass sein Besuch für mein Ensemble, das sowieso schon unter Druck stand, noch zusätzlichen Stress gebracht hätte. Er kam dann zur Premiere, und der Vorwurf war vom Tisch. Das Absurde an dieser Geschichte ist, dass wir damit nicht verstören oder gar provozieren wollten. Wir wählten „Das Liebeskonzil“ aus, weil es in seiner Anmutung wie ein barockes Stück daherkommt, das im Himmel, beim lieben Gott spielt, und auch Jesus, Maria und der Teufel kommen vor14. Es hat etwas von der Üppigkeit jener Zeit, die ja im Tirol mit den vielen barocken Kirchen sehr präsent und prägend ist.

Sie wurden geholt, um das Tiroler Theater zu öffnen und zu verändern. Wollten Sie auch die Welt im Tirol verändern?
Nein, das wollte ich nur bedingt. Ich weiß ja, dass man die Welt nicht mit Theater verändern kann, leider. Aber ich wollte Statements in die Welt setzen, über die man sich erregt und aufregt oder die zumindest die Menschen zum Nachdenken bringen. Wobei ich aber betonen möchte, dass ich diesen 1500 Menschen, die ich mit meinem Theater vor den Kopf gestoßen habe, schon auch zur Verfügung stand und ihnen Raum gab, um ihre Meinung oder ihren Ärger kundtun zu können.

Wie haben Sie das gemacht?
Bei diesen heiß diskutierten Stücken stand ich Abend für Abend nach der Vorstellung im Foyer, zusammen mit meinem Verwaltungsdirektor15, was ich ihm noch heute hoch anrechne, denn ich bin sicher, dass ihm diese Art Theater auch nicht wirklich gefallen hat. Aber er war da, und wir standen gemeinsam vor dem Publikum und wurden beschimpft. „Giftzwerge“, haben sie gesagt, und mich haben sie einen „präpotenten Deppen“ genannt und gerufen: „Mit Ihnen trinke ich sicher kein Glas Wein.“ Aber das ist ja alles nicht so schlimm. Schlimm ist es erst, wenn die Leute nicht mehr ins Theater kommen, auch nicht, bloß um zu schimpfen. Wir haben uns im Team ernsthaft darüber Gedanken machen müssen, wie wir unsere Ideen besser vermitteln können, damit uns nicht noch weitere 1500 Abos gekündigt würden. Ich war jetzt grad wieder im Tirol, und immer noch kommen viele Leute auf mich zu, um mir zu sagen, dass es eben doch eine gute Theaterzeit gewesen sei.

Ich habe mir die Fotografie des frischgebackenen Intendanten Dominique Mentha angeschaut, wie er sich in der Tiroler Presse präsentiert: Ein junger, netter Mann, freundlicher Blick, ein bisschen verträumt, ein schüchternes Lächeln, fast etwas harmlos sieht er aus mit dem verwuschelten Haar. Könnte es sein, dass man Sie falsch eingeschätzt hat?
Keine Ahnung! Aber das Foto, so wie eben beschrieben, hat schon etwas mit mir zu tun. Ich bin überhaupt kein Revoluzzer, aber ich bin auch nicht unendlich kompromissbereit, und ich weiß, dass der Theaterausschuss vor meiner Wahl noch bei August Everding vorgesprochen hat. Und der hat ihnen geraten, den Mentha zu nehmen. Er hat ihnen aber auch gesagt, dass sie sich mit ihm sicherlich Aufregungen einhandeln werden. Worauf die Herren beschlossen, dass es genau das sei, was sie jetzt bräuchten.

Schon mit der ersten Spielzeit ließen Sie keinen Zweifel daran, dass die Zeit des gemütlichen Bestätigungstheaters definitiv vorbei war: Das Schauspiel eröffnete mit Elfriede Jelinek, sicher kein bekömmlicher Text, dann „Das Liebeskonzil“ von Panizza. Im Tanztheater gabs unter der neuen Tanzdirektorin Eva-Maria Lerchenberg-Thöny16 das Stück „Lamento“, in welchem eine Sintifrau auf der Bühne saß, die einzige Überlebende des KZ Ravensbrück, im Musiktheater vor allem Anspruchsvolles wie Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ oder so Unbekanntes wie Carl Nielsens „Maskarade“, eine österreichische Erstaufführung. Selbst bei der Operette war alles Neuland. Also lauter innovative, unbekannte, anspruchsvolle oder ungemütliche Produktionen. Ehrlich gesagt: Ich kann mir die Leute gut vorstellen, die dieses Saisonprogramm studieren, den Kopf schütteln und sich fragen: Was für ein Verrückter ist denn da gekommen?
Ich kann mich gut erinnern, dass ich bei einem meiner Vorstellungsgespräche mit dem Zug durchs Inntal gefahren bin, auf Hügel und Dörfer geschaut, die Lichter in den Bauernhöfen gesehen und mir dabei schon die Frage gestellt habe, ob ich vielleicht verrückt sei, und was ich hier eigentlich wolle.

Und die Leute in diesen Bauernhöfen, das waren auch diejenigen, die regelmäßig ins Theater gingen?
Ja, das waren diese Leute. Die, wie schon gesagt, vielleicht zuerst verstört waren, aber sich trotzdem eine Restneugierde auf „ihr“ Thea ter erhalten haben und dann zum Teil ja auch wiedergekommen sind. Von diesen Menschen habe ich etwas gelernt: Wenn man sein Publikum provoziert, dann darf man es nicht einfach allein lassen. Das ist für mich wie zu einem pädagogischen Credo geworden, und sicher hat der eine oder die andere schließlich gedacht, dass der Mentha ja gar nicht so schlimm sei.

„Der Mentha“ kann doch ganz zufrieden sein mit seinen Innsbruckern: Die haben sich noch richtig aufgeregt über das Theater. Das gibts doch heute leider kaum mehr.
Ja, das stimmt schon, diese Zeiten sind vorbei. Und natürlich ist es viel schlimmer, gar keine Reaktion zu haben und schweigend wegzubleiben. Dennoch finde ich es fantastisch, wenn es Abende gibt, an denen einfach nur einhellige Begeisterung herrscht.

Keine Milde, auch nicht in der Saison danach! So dass ein Journalist von einem „bühnenreifen Kulturkampf“ schrieb, der in Ihren Spielplänen stattfindet.
Es wurden noch ganz andere Sachen über mich geschrieben. Ich sei „der Peymann vom Tirol“ oder „Tirol gehört den Tirolern“. Dazu die Aufforderung, ich solle doch bitte das Land verlassen, und als Kommentar zu meinen Inszenierungen schickte mir ein besonders Aufgebrachter einen stinkenden Käse. Dennoch: Noch immer höre ich, wenn ich heute im Tirol bin, dass das Theater heute nicht mehr halb so aufregend sei wie damals. Das ist, was bleibt und was mich jedes Mal immens freut.

Sie sagen, das Direktorenhandwerk haben Sie in Innsbruck gelernt. Was sind Ihre drei wichtigsten Erkenntnisse – sozusagen für die Nachwelt?
Schwierig! Ob ich in Berlin, Stuttgart oder Innsbruck Direktor bin, ist ja nicht ganz dasselbe. Aber sagen wir, zu einer Grundausstattung gehört ganz sicher die Neugierde für den Ort, an dem man Theater macht, vielleicht sogar eine gewisse Liebe: Was ist hier los, lautet die Frage, wie tickt diese Stadt, und wie ist sie gewachsen. Wie hat sie die Menschen geprägt, die hier leben, und wie ticken denn sie? Der zweite Punkt ist wieder Neugierde. Diesmal sollte sie sich aber auf Spuren und auf Spurensuche richten: Wo gibt es spannende Stücke, neue oder vergessene, das ist für mich gleichwertig, und wo finde ich die jungen fantastischen Regisseure, Sängerinnen und Schauspieler. Und Punkt Nummer drei, conditio sine qua non, ist ein starkes Kommunikationstalent, das sich nach außen und nach innen richtet, an die eigenen Leute, aber auch an Politiker, Wirtschaftsleute, an Behörden und Sponsoren, für sie alle muss man ein gutes Gespür haben. Und wenn man es hat, gehts einem besser.

Wie war dann schließlich der Abschied in Innsbruck? Sie haben sich ja nicht angepasst oder künstlerische Kompromisse gemacht?
Viele meinen, das sei mein Trick: Nach außen mild und lieb, aber innen drin ein Sturkopf. Ja, irgendwann hat man diesen Sturkopf und seine Arbeit sogar zu mögen begonnen, man sprach sogar von einem Glücksfall, dass da einer stand, der sich nicht nach dem Wind drehte. Wir haben uns auch in die damaligen politischen Diskussionen eingemischt, das war, als es in Österreich bereits brodelte, kurz bevor die Freiheitlichen in die Regierung einzogen sind. Der Politologe Anton Pelinka fasste es bei meinem Weggang mit folgenden Worten zusammen: „Die Ära Mentha steht für das Festschreiben von Öffnung. […] Das Landestheater als Ort, an dem vorwiegend Nicht-Tirolerinnen und Nicht-Tiroler für ein vorwiegend Tiroler Publikum vorwiegend Nicht-Tiroler Kultur vorführen – hinter diesen Standard wird das Landestheater nicht mehr zurückfallen können. Zum Vorteil Tirols.“17

Die Fehlbesetzung für Wien? – Über Schmalz, Schmutz und Schmäh

Bis nach Wien drang der Ruf des Theatererneuerers Dominique Mentha. Als es um die Neubesetzung des Intendantenpostens der Wiener Volks oper ging, vor allem aber um die Neuausrichtung, Verjüngung und Entstaubung des Hauses, da ließ man den Schweizer anreisen, mehrmals. Beim dritten Mal, als er bereits auf dem Heimweg nach Innsbruck war, wurde er am Flughafen ausgerufen und ans Telefon gebeten. In der Leitung war der Bundeskanzler, Viktor Klima (SPÖ); der begrüßte ihn: „Herr Direktor, bitte bleibens.“ Das war der Anfang. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Volksoper eher ein Sprungbrett für ehrgeizige Intendanten gewesen, als dass sie mit ihren Inszenierungen von sich reden gemacht hätte – ein „Schmalzoleum“, wie sie auch genannt wurde, wo Operette noch richtige Operette sein durfte, mit Champagner und Frack, mit einem hübschen Ballett und einem schönen Liebespaar am Ende. Warum also um alles in der Welt, fragt man sich, nimmt jemand mit der künstlerischen Vorgeschichte eines Dominique Mentha einen solchen Posten an.

Warum, Dominique Mentha?
Die Volksoper hat ja lange einen neuen Direktor gesucht, und ich habe immer mal wieder zu meiner Umgebung gesagt, dass ich das eigentlich ganz gerne machen würde. Natürlich, weil ich schon meine Vorstellungen hatte, was man mit diesem Haus machen könnte. Das habe ich auch den zuständigen Gremien schließlich so präsentiert und alle, auch der Bundeskanzler Österreichs, fanden das richtig und gut. Es war klar, dass dieses Haus ein neues Image brauchte und eine dringende Verjüngung, denn es waren gerade mal drei Prozent des Publikums, die unter 20 waren, dafür aber 60 Prozent im Rentenalter.

Also einmal mehr: verjüngen und entstauben. Das geht ja wie ein Leitmotiv durch Ihre Intendantentätigkeit.
Das ist schon so. Bei der Volksoper wollte man den Operettenbegriff erweitern, was ich mit Freude und radikal gemacht habe. Ferner, habe ich mir gesagt, steht nirgends geschrieben, dass man nicht auch zeitgenössische Musik an einer Volksoper spielen darf. „Volk“ heißt ja nicht einfach ländlich und simpel, es gibt auch ein urbanes und anspruchsvolles Volk. Und so gab es dann bei uns neues Musiktheater von österreichischen Jazzmusikern, es gab Uraufführungen, es gab DJs, die Musik für den Tanz bearbeitet haben, wir haben richtig viel zeitgenössische Musik gemacht.

Wie sah denn diesmal das direktoriale Büro aus?
Es war ein großer Raum in der biederen und ziemlich verbauten Volksoper. Als erstes hab ich auch wieder den Schreibtisch wegtragen und mir einen großen Tisch bringen lassen. Was hier ganz besonders war: Der Direktor hatte eine eigene Toilette, eine eigene Dusche und –: einen direkten Zugang in die Direktionsloge!

Wenn man liest und hört, was Sie damals so alles gesagt haben, bevor es losging in Wien, wird man den Eindruck nicht ganz los, dass Ihnen vielleicht doch ein bisschen mulmig zumute war. Auf jeden Fall wirken gewisse Sätze von Ihnen fast so, als würden Sie einen Schutzschild vor sich hertragen. Noch vor Amtsantritt sagten Sie zum Beispiel: „Vielleicht sitze ich ab 1. September in der Hölle.“
Und zwar, weil es noch während meiner Vorbereitungszeit einen einschneidenden politischen Kurswechsel in Österreich gab: Der SPÖ-Kanzler Klima, der mich berufen hatte, trat zurück, Wolfgang Schüssel, sein Nachfolger von der ÖVP, ging mit den Freiheitlichen, der Haider-Partei eine Koalition ein und berief Franz Morak18 zum Kulturstaatssekretär. Da war mir schon klar, dass es nicht wirklich lustig werden würde. In der Hölle hat man keine Unterstützung, von niemandem.

Und auf die Volksopernfassade ließen Sie mit roter Farbe pinseln: „Singen mitten im Lärm der Welt.“
Was würde denn besser zur Volksoper passen? Das Haus steht an einer mehrspurigen, sehr befahrenen Durchgangsstraße, gleich daneben die U-Bahn, die an dieser Stelle über der Erde fährt und so rattert, dass man sie im Haus hört. Wer den Satz erfunden hat, weiß ich nicht mehr, aber er kam aus dem Team und sein Inhalt war gemeinsam erlitten.

Reden wir mal grundsätzlich über die Operette, für deren Erneuerung Sie sich schon lange stark machen. Gleich zu Beginn Ihrer Tätigkeit in Wien berufen Sie einen internationalen Operettenkongress ein.
Das war im Jahr, als der Euro eingeführt wurde. Geld, das ist eine Identität für Europa, die Kunst und das musikalische Lachtheater eine andere, sagten wir uns. Einer meiner wichtigsten Berater war der Literaturwissenschaftler und Theatermann Volker Klotz, der schon in seinem Buch19 über die Operette von der „unerhörten Gattung“ schreibt, „dem aufsässigen Bühnenstück, das wider erstarrte und verhockte Lebenshaltungen anrennt“. Es geht also um eine gesellschaftspolitisch relevante Kunst. Wir haben unzählige Ausgrabungen und Wiederentdeckungen gemacht und sind darauf gekommen, dass das musikalische Lachtheater an keiner Grenze haltmacht: In Spanien sind es die Zarzuelas, in England sind es die Werke von Gilbert und Sullivan, in Italien war es Pietro Mascagni, der Operetten komponierte – hüben und drüben aufsässige Stücke mit politischer Ausstrahlung! Und das ist der Grund, warum sich die Auseinandersetzung mit der Operette lohnt. Wie schön, wenn die Leute lachen und gleichzeitig Erkenntnis gewinnen, einen Zusammenhang erkennen. Insofern ist das eine wunderbare Kunstform. Ihr Problem ist, dass sie zeitgebunden ist: Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war ihre Blüte. Heute haben immer wieder Komponisten, Librettisten versucht, Operette zu schreiben, aber ich habe nie etwas gesehen oder gehört, wofür sich das Wagnis gelohnt hätte.

Ist das so, weil man die Welt heute nicht mehr auf den Kopf stellen kann? Der Ärmste ist der Schlauste, der König ist der größte Trottel, das arme Mädchen vom Land erlöst die Welt von dem Bösen und die Frauen übernehmen die Macht. Sind das Verdrehungen, die heute nicht mehr so absurd sind, dass man es sich gerne anschaut? Weil es das alles ja schon irgendwie gibt?
Es könnte auch sein, dass es für viele Menschen zu wenig ernsthaft ist. Wenn man heute sagt: „die Frau an die Macht“, dann ist das kein Witz, sondern eine ernsthafte Forderung. Aber wenn man das dann einpackt in Operettenmelodie und in den Dreivierteltakt, dann empfindet man das bloß als Lüge.

Lassen Sie mich kurz eine Szene beschreiben. Sie stammt nicht aus einer Operette, auch nicht aus einem Kabarett, auch wenn es sich beinahe so anhört. Also: Drei Wiener Theaterdirektoren sitzen gemeinsam an einem Tisch, vor ihnen steht ein Topf voller Geld, den müssen sie unter sich aufteilen. Ioan Holender20 sagt: Ich bin Direktor der Wiener Staatsoper, ich kriege am meisten. Klaus Bachler21 sagt: Und ich leite das Burgtheater Wien, ich kriege am zweitmeisten. Und der Volksoperndirektor sitzt als Dritter und Jüngster dabei, blickt auf den jämmerlichen Rest und denkt: In welch miesem Film bin ich denn da gelandet. (langes Schweigen)
Die beiden Herren hatten natürlich eine starke Lobby in Wien, und sie haben sich untereinander vorher abgesprochen. Sie wollten mir weismachen, dass es eben einfach so sei und dass die Staatsoper 45Prozent und das Burgtheater 35 Prozent aus diesem Topf bekämen. Der Volksoper wären also 20 Prozent verblieben. Das fand ich insofern ungerecht, als ich doch für die Volksoper explizit den Auftrag bekommen hatte, etwas Neues zu machen. Und was neu ist, das kostet immer mehr. Neu bedeutet auch, dass man nicht von Anfang an alles einnimmt, was man möchte. An der Volksoper gab es nie Tanztheater, es gab auch nie Kinderoper oder gar zeitgenössische Musik. Natürlich kostet das alles mehr als eine schlecht gemachte Operette aus dem Repertoire. Also ich habe mich an diesem Tisch gewehrt, so gut ich konnte, und als letzter Weg blieb mir dann nur, meinen Kollegen die Unterschrift für diese Übereinkunft zu verweigern. Das hat mir den Ruf eines wehrhaften Eidgenossen, und der Volksoper eine minimale Subventionserhöhung eingebracht.

Ihre Wiener Jahre gehen so zu Ende, wie sie angefangen haben: mit einem Telefonat. Diesmal ruft der Kultursekretär Morak an und teilt Ihnen mit, dass man Ihnen den Vertrag nicht zu verlängern gedenke.
Das war schon schmerzvoll. Ich habe in der Zeit grad in Mannheim inszeniert und wurde nach Wien zu einer Sitzung gerufen, dort erfuhr ich dann, dass ich gekündigt war.

Und dann?
Dann fuhr ich zurück nach Mannheim und habe weiter inszeniert. Ich glaube nicht, dass es eine wirklich gute Produktion geworden ist.

Worauf sind Sie, nichtsdestotrotz, stolz, was Sie in Wien erreicht haben?
Ich bin stolz auf die Veränderung des Tanzes. Ich habe mit Liz King eine Choreografin aus der freien Szene ans Haus binden können, und sie hat gleich mit ihrer ersten Produktion, „Schwanensee re - mixed“, einen richtig großen Erfolg gelandet: Sämtliche Vorstellungen waren ausverkauft. Außerdem bin ich stolz auf den Mut, zeitgenössische Oper gemacht zu haben, Matthias Pintschers „Thomas Chatterton“, und Walter Braunfels, Luigi Dallapiccola und Strawinsky aus der klassischen Moderne. Ich war stolz, dass ich den Dirigenten Thomas Hengelbrock für das Amt des Generalmusikdirektors herholen konnte, wenigstens für zwei Saisons. Und es hat mir gefallen, wie wir den Begriff Operette erweitert haben. Auch, dass wir das doch eher abweisende Haus geöffnet haben für Schulen und junge Leute. Lauter Dinge übrigens, die alle wieder verschwunden sind.

Und was haben Sie persönlich daraus gelernt?
Dass man den Humor nicht verlieren darf, auch wenn es schwierig ist und manchmal überhaupt keinen Spaß mehr macht. Wichtig waren die Leute um mich herum, die loyal waren, mit denen das Arbeiten stets Freude gemacht hat. Alles in allem kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass ich auch in den schlimmsten Zeiten kein einziges Mal schlecht gelaunt am Pförtner vorbei das Haus betreten habe.

1 Ein Begriff, den der einstige Operndirektor von Basel und heutige Intendant der Deutschen Oper Berlin, Dietmar Schwarz, geprägt hat.
2 Vier Regisseurinnen und Regisseure, die Dominique Mentha entdeckt und über Jahre konsequent gefördert hat und die heute alle an großen internationalen Opernhäusern inszenieren.
3 Am Tiroler Landestheater in Innsbruck war Dominique Mentha von 1992 bis 1999 Intendant.
4 „Odyssee Innerschweiz. Eine Theaterexpedition durch fünf Kantone“: Claudio Monteverdis Oper „Il ritorno d’Ulisse in patria“ sowie die Schauspielproduktion „Stiersaldvätterwee“ von Guy Krneta, das Opernprojekt „Ansichten einer Reise“ von Studierenden der Hochschule Luzern – Musik und die Produktion „Tanz 12: Waiting and Wandering“ von Caroline Finn und Ihsan Rustem wurden in Schwyz, Altdorf, Sarnen, Buochs und Luzern gezeigt.
5 Die Sopranistin Regula Mühlemann ist das jüngste Beispiel; für frühere Jahre wären die Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner oder der Tenor Ramón Vargas zu nennen.
6 Theater Werk Luzern, der Zweckverband großer Kulturbetriebe des Kantons Luzern, hat im Frühling 2015 eine „Analyse zur Situation und zum Potenzial des Luzerner Theaters“ in Auftrag gegeben. Dabei wurden rund 1000 Theater besucherinnen und Theaterbesucher mittels online-Fragebogen sowie 500 Nichtbesucherinnen und Nichtbesucher per Telefon nach ihrer Einstellung und ihrer Beziehung zum Luzerner Theater sowie nach dessen Bedeutung für die Bevölkerung befragt.
7 Jakob Stämpfli (1934 – 2014), Bass, war Konzertsänger, Gesangsprofessor und Leiter des Konservatoriums Bern (1992 – 1999).
8 Jakob Keller (1911 – 1992), Bass, war von 1944 bis 1972 am Stadttheater Bern engagiert. Er sang sowohl die majestätisch schwarzen Basspartien (Sarastro aus „Die Zauberflöte“, Grande Inquisitore aus „Don Carlos“) wie auch die Spielbassrollen (Osmin aus „Die Entführung aus dem Serail“, Hans Stadinger aus „Der Waffenschmied“).
9 Ernst Haefliger (1919 – 2007), Tenor, hat vor allem durch seine Bach- und Liedinterpretationen Geschichte geschrieben.
10 Arno Wüstenhöfer (1920 – 2003), Schauspieler, Regisseur und Intendant in Lübeck, Wuppertal und Bremen, war derjenige, der Pina Bausch als Chefchoreografin und Ballettdirektorin an sein Haus geholt hat.
11 Achim Thorwald, heute freischaffender Regisseur, leitete das Stadttheater Würzburg und danach die Städtischen Bühnen Münster, das Hessische Staatstheater Wiesbaden und das Badische Staatstheater Karlsruhe.
12 Vgl. Innsbrucker Stadtnachrichten, 14. März 1990.
13 Der Autor musste sich im Erscheinungsjahr 1894 vor Gericht verantworten, wurde in 99 Fällen der Gotteslästerung für schuldig befunden und zu einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt. 1982 verfilmte Werner Schroeter das satirisch-groteske Theaterstück; die österreichische Regierung verbot den Film mit der Begründung, dass er die christliche Religion beleidige. Erst 1994 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass das Verbot eine Beschränkung der Kunstfreiheit sei.
14 In dieser „Himmelstragödie in fünf Aufzügen“ geht es um Gottvater (senil), Christus (debil) und die Jungfrau Maria (abgebrüht), die Nachricht von den skandalösen Zuständen auf Erden und insbesondere am päpstlichen Hof erhalten. Die Trinität schließt mit dem Teufel ein Geschäft ab: Dieser soll zwar eine schreckliche Strafe erfinden (Syphilis), aber die Seelen der Menschen erlösungsfähig belassen. Dafür kriegt er im Gegenzug ein prächtiges Portal vor die etwas heruntergekommene Hölle, das Recht auf unangemeldete Sprechstunden mit Gott und vor allem die Freiheit, seine Gedanken zu verbreiten.
15 Harald Mayr wirkte von 1970 bis 2012 als geschäftsführender kaufmännischer Direktor am Tiroler Landestheater Innsbruck.
16 Eva-Maria Lerchenberg-Thöny wandte sich früh dem zeitgenössischen Tanz zu, gründete ihr eigenes Ensemble, das „Tanz-Tanztheater München“, das sie nicht nur leitete, sondern für das sie auch als Choreografin, Autorin und Regisseurin tätig war. Als Tanztheaterdirektorin und Chefchoreografin am Tiroler Landestheater Innsbruck leitete sie die erste zeitgenössische Tanzkompanie an einer österreichischen Bühne.
17 Anton Pelinka: „Statement zum Abschied des Intendanten“, in: Zugabe, Monatspublikation des Tiroler Landestheaters, Innsbruck 1999.
18 Franz Morak (ÖVP) war ab 1974 Schauspieler am Burgtheater Wien und wurde, mit Beginn der schwarz-blauen Koalition, im Februar 2000 Staatssekretär für Kunst und Medien in Österreich.
19 Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, Kassel 2004.
20 Ioan Holender war von 1992 bis 2010 Direktor der Wiener Staatsoper.
21 Klaus Bachler war von 1999 bis 2008 Direktor des Burgtheaters und ist heute Intendant der Bayerischen Staatsoper München.

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