Alles ist eine Frage der Perspektive. Das ist natürlich erst einmal ein Gemeinplatz, praktisch eine Selbstverständlichkeit. Aber wie so vieles, was wir für selbstverständlich nehmen, verlieren wir auch diese Erkenntnis leicht aus den Augen. Gerade bei Film- und Fernsehbildern ist der Blickwinkel entscheidend. Sie suggerieren Wirklichkeit und sind doch nur ein meist mit Bedacht gewählter Ausschnitt, der die Wahrnehmung des Betrachters und damit auch seine Vorstellungen von Wahrheit und Wirklichkeit lenkt. Wo die Kamera steht, wen sie wie lange betrachtet, das sind nicht nur formale Fragen. Sie haben eine ganz konkrete politische und gesellschaftliche Relevanz.
Wie sehr der Blick der Kamera das Denken und Fühlen des Zuschauers prägt, konnte man auf höchst eindringliche Weise bei dem kleinen, von Elena Liebenstein und Raban Witt kuratierten Festival Schlingensief 2020 erleben. Als „Spektakel zum Erinnern, Feiern und Weitermachen“ sollte es nicht nur eine Gedenkveranstaltung für den am 24. Oktober 1960 in Oberhausen geborenen und vor zehn Jahren verstorbenen Künstler sein. Es sollte, wie Elena Liebenstein im Gespräch sagte, „ein in der Stadt und im Theater sichtbares Spektakel sein, dass die Methodik von Christoph Schlingensief aufgreift“. Wobei die Frage, ob es überhaupt so etwas wie eine „Methode Schlingensief“ gab, sich kaum eindeutig beantworten lässt....