3. Wie politisch sind Theateröffentlichkeiten?
von Matthias Warstat
Erschienen in: Recherchen 174: Interventionen politischen Theaters (07/2025)
Der Versammlungscharakter von Aufführungen bringt es mit sich, dass Theater, sofern es sich in Aufführungen manifestiert, immer öffentlich ist. Wer Theater macht, exponiert sich in einer Öffentlichkeit. Wer ins Theater geht, wird ebenso Teil einer Öffentlichkeit. Es liegt auf der Hand, dass sich aus dieser Konstellation politische Möglichkeiten ergeben. Zugleich ist die Politisierung von Öffentlichkeiten keine Selbstverständlichkeit. Im Gegensatz zu bürgerlichen und proletarischen Vereins- und Versammlungsöffentlichkeiten galten Theateröffentlichkeiten im 19. Jahrhundert weithin als harmlos und politisch indifferent. Das Theaterpublikum sollte sich unterhalten und belehren lassen, und die polizeiliche Zensurpraxis hatte dafür zu sorgen, dass es im Zuschauerraum politisch ruhig blieb. Frühe Formen politischen Theaters, etwa in Gestalt der ersten Tendenz- und Agitationsstücke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zielten jedoch von Beginn an auf eine Aktivierung und Politisierung des Publikums.1 Im großen Stil wurden Theateröffentlichkeiten dann im 20. Jahrhundert politisiert und aktiviert, nämlich insbesondere im Russland der Revolutionsjahre, in der Frühzeit der jungen Sowjetunion und daran anschließend auch in Deutschland. Die Proletkult-Bewegung arbeitete schon während des Bürgerkriegs in Russland 1918 bis 1920 an einer revolutionären Umgestaltung nicht allein des Berufstheaters, sondern bemühte sich um den Aufbau einer neuen Theaterpraxis der breiten Massen in Fabriken, Kollektiven und Klubs.2...