Faust-Studien
von Georg Lukács
Erschienen in: Georg Lukács – Texte zum Theater (06/2021)
Puschkin nennt den »Faust« eine Ilias des modernen Lebens. Das ist ausgezeichnet gesagt, es bedarf zur richtigen Konkretisierung nur der Unterstreichung des Wortes »modern«. Denn im Leben der Gegenwart ist es nicht mehr wie in der Antike möglich, alle Bestimmungen des Gedankens und der dichterischen Gestaltung unmittelbar vom Menschen aus zu entwickeln. Gedankliche Tiefe, Totalität der gesellschaftlich-menschlichen Kategorien und künstlerische Vollkommenheit sind hier nicht mit naiver Selbstverständlichkeit vereinigt, sie ringen vielmehr heftig miteinander. Aus der Goetheschen Vereinigung dieser widerstrebenden Tendenzen ist ein im wahrsten Sinne des Wortes einzigartiges Gebilde entstanden. Goethe selbst nennt es eine »inkommensurable Produktion«.
Gestaltet wird das Schicksal eines Menschen, und doch ist der Inhalt des Gedichts das Geschick der ganzen Menschheit. Die wichtigsten philosophischen Probleme einer großen Übergangsepoche werden vor uns gestellt, aber nicht bloß gedanklich, sondern unzertrennbar vereinigt mit sinnlich packenden (oder zumindest leuchtend dekorativen) Gestaltungen letzter menschlicher Beziehungen. Diese Beziehungen werden nun in steigendem Maß problematisch. Eine ungebrochene sinnlich-geistige Einheit kann nur im ersten Teil vorwalten. Gedankengehalt, Aufdeckung gesellschaftlich-geschichtlicher und naturphilosophischer Zusammenhänge belasten, ja sprengen immer stärker die sinnliche Einheit der Formen und der Gestalten. Das ist der allgemeine Prozess der Entwicklung der Literatur im 19. Jahrhundert, der die Geschlossenheit und Schönheit der Formenwelt...