3.2. Zeit des Werdens
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Entscheidend ist also: Die Gegenüberstellung entgegengesetzter Zustände im Sinn einer kausalen und damit zeitlichen Relation wird von Leibniz nicht auf einer substantiellen Ebene angesiedelt, sondern nur auf einer reinen Phänomenebene, das heißt im Bereich der Akzidenz. Ursache und Wirkung sind damit beide auf der akzidentiellen Ebende fundiert und insofern als gleichursprüngliche Bestandteile der Immanenz bestimmt.60 Auf der Ebene der Substanz hingegen existieren die einander ausschließenden Zustände als Möglichkeiten simultan, ohne dass sie bereits in einem Kausalverhältnis verbunden wären. Allerdings handelt es sich nun genau um den angesprochenen dritten Begriff von Simultanität: Ein nicht-zeitliches und nicht-räumliches Nebeneinander von Möglichkeiten oder Zuständen, die akzidentiell nur nacheinander folgen können und sich nicht oder noch nicht aktualisiert haben.
Als Substanz konstruiert Leibniz damit eine, im Deleuze’schen Sinn, virtuelle Sphäre, in der unendlich viele Zustände nebeneinander existieren, obwohl sie sich gegenseitig ausschließen. Dort sind beispielsweise die Sätze »Adam ist ein Sünder und ist ohne Sünde« oder »Cäsar hat den Rubikon überschritten und hat ihn nicht überschritten« möglich, wobei der dritte Begriff von Simultanität genau in dem »und« ausgedrückt ist, das die Satzteile verbindet. Auf der Ebene der Akzidenz, auf der sich die einzelnen Möglichkeiten aktualisieren, machen diese Sätze hingegen keinen Sinn mehr. Dort kann man...