Theater der Zeit

Vorwort

von Malte Ubenauf und Ute Müller-Tischler

Erschienen in: Anna Viebrock – Das Vorgefundene erfinden (06/2011)

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Anna Viebrock gehört zu den wichtigsten Künstlerinnen des postdramatischen Theaters. Ihre Bühnenbilder sind komplexe Raumlösungen voll anziehender Kraft und Poesie, die aus der intensiven Auseinandersetzung mit dem Theaterraum und den noch spürbaren Atmosphären vergangener Gesellschaften hervorgegangen sind. Ihr Material sei das gesamte 20. Jahrhundert, beschreibt sie einmal ihre Herangehensweise, weil man heute noch sehen könne, wie ein Jahrzehnt auf das andere reagiere. Und in der Tat werden ihre Bühnen und Theatercollagen einhellig von Theaterkritik und Publikum als einprägsame Kunst der Erinnerung empfunden. Anna Viebrocks Arbeiten machen Geschichte auf der Bühne lebendig über Vorgefundenes, Details aus hinterlassenen Raumeinrichtungen und aus verschiedenen Epochen zusammengestellten Architekturelementen. Sie erhalten wie nie zuvor im Theater eine unbedingte Aufmerksamkeit und erzeugen jene rätselhafte Aura und traumatische Präsenz historischer Gegenwart, für die Anna Viebrocks Theaterräume berühmt geworden sind.

Geboren 1951 in Köln, wächst Anna Viebrock in Frankfurt am Main auf. Nach ihrem Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf in der Bühnenbildklasse von Karl Kneidl hatte sie ihr erstes Engagement als Bühnenbild- und Kostümbildassistentin am Schauspiel Frankfurt. Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre entwickelte sie in der Zusammenarbeit mit den Schweizer Regisseuren Christoph Marthaler und Jossi Wieler ihre eigene, sehr persönliche Handschrift: Anna Viebrocks Arbeiten zeichnet ein feinnerviger, subversiver Realismus aus, eine atmosphärische Verdichtung durch täuschend echte Oberflächen und eine fast metaphysische Raumauffassung. Diesen Realismus, dem sie in ihrer Zürcher Zeit der frühen nuller Jahre und in ihren Regiearbeiten für das Sprech- und Musiktheater treu geblieben ist, hat der Ausstellungskurator Hubertus Adam als „antiillusionistischen Illusionismus" beschrieben. Viebrock lässt ihre Theaterräume meist wie reale Architektur wirken und stellt eine „Ästhetik des Eintauchens" her, auch in ihren neueren offenen Raumarbeiten. Sie operiert mit befremdlich wirkenden Proportionen von Dingen und Bühnenelementen sowie unklaren Raumbeziehungen, die Innen- und Außenwelt verkehren. Ihre Bühnenbilder sind überreale, fast monumentale Rauminstallationen, hybride Architekturkonstruktionen, die den szenischen Zusammenhang von dramatischem Stoff und Ort der Handlung nicht nur organisieren, sondern gleichsam erfinden und entwickeln. Ihre fantastisch realen Wartezimmer, Flugzeugkabinen, Schalterhallen oder Kirchenräume stecken voll surrealer Logik und überraschender Mechanik, die jedem Anschein von Alltäglichkeit zuwiderlaufen. Ihre vieldeutig-verschlüsselten Bildaussagen, in denen sich eigene Seherlebnisse und allgemeine Geschichtserfahrungen durchdringen, bleibt in der zeitgenössischen Theaterkunst bis heute unerreicht.

Der vorliegende Band „Das Vorgefundene erfinden" ist eine das gesamte Werk umfassende Monografie der Bühnenbildnerin und Regisseurin Anna Viebrock. Die großen, farbigen Bildertableaus von über dreißig beispielhaften Inszenierungen aus fast dreißig Jahren werden ergänzt durch Modell- und Entwurfsfo tos, Recherchebilder und Abbildungen, welche dem Betrachter die Entwicklung ihrer Raum- und Regiekonzeption vor Augen führen. Anna Viebrock kommentiert selbst im Gespräch mit ihrem Dramaturgen Malte Ubenauf, das die beiden für dieses Buch im Frühjahr 2011 geführt haben, die jeweilige Inszenierung und gibt Auskunft über ihre Gedankenwelt, ihre Arbeitsweise, die konkreten Bühnenlösungen und Regieideen. Begleitet werden Anna Viebrocks Kommentare durch Essays und Analysen der ihr besonders in den letzten Jahren verbundenen Künstler und Autoren wie Jür

Das Buch möchte einen umfassenden Einblick in die visuelle Dramaturgie der Arbeit Anna Viebrocks mit prägenden Regisseurinnen und Regisseuren wie Christoph Marthaler, Jossi Wieler, Meg Stuart oder Hans Neuenfels vermitteln. Es zeigt die komplexen, mehrdimensionalen Raumlösungen herausragender Inszenierungen, Entwürfe und Vorarbeiten ihrer wichtigsten Bühnenbilder unter anderem für das Zürcher Schauspielhaus, die Opéra national de Paris, für die Bayreuther und Salzburger Festspiele, die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, das Theater Basel und für die Stuttgarter Staatsoper. Und es verfolgt, wie sie in ihren eigenen Raumentwürfen zunehmend die künstlerische Gesamtleitung übernimmt und selbst Regie führt u. a. an der Opéra national de Paris, am Theater Basel, an der Staatsoper Hannover, dem Schauspiel Köln und am Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin.
Wir danken allen, die uns in den letzten Monaten zur Seite standen. An erster Stelle bedanken wir uns bei Anna Viebrock für das umfangreiche Material, welches sie uns zur Verfügung gestellt hat, für ihre Mitarbeit bei der Sichtung und Auswahl der Fotografien und für ihre Bereitschaft, den Abdruck zahlreicher, bisher unveröffentlichter Arbeitsmaterialien und persönlicher Dokumente zu ermöglichen. Ihre konkreten Werkkommentare und Selbstauskünfte für diese Monografie sind theatergeschichtlich von unschätzbarem Wert. Bedanken möchten wir uns auch bei der Grafikerin Sibyll Wahrig, die das Buch umsichtig gestaltete und einen fabelhaften Blick für Fotoauswahl und Bildkomposition hat. Außerdem möchten wir es nicht vers äumen, den Autorinnen und Autoren zu danken, deren persönliche Texte dazu beigetragen haben, die Herangehensweise von und die Arbeitsatmosphäre um Anna Viebrock deutlich zu machen. Ohne die brillanten Bühnenaufnahmen von David Baltzer, Clärchen und Matthias Baus, Matthias Horn, Walter Mair, A.T. Schaefer, Judith Schlosser, Dorothea Wimmer, Ruth Walz und Leonard Zubler wäre dieses Buch nur halb so überzeugend, wenn nicht sogar unmöglich gewesen. Und nicht zuletzt ist uns der Dank an Nicole Gronemeyer wichtig, unserer Lektorin, deren kluges und behutsames Urteil wir schätzen gelernt haben.


Ute Müller-Tischler und Malte Ubenauf
Berlin, Mai 2011

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