Magazin
Pioniere des Zeitgenössischen Zirkus
Das ATOLL Festival in Karlsruhe als Motor der Szene
von Tom Mustroph
Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)
Assoziationen: Baden-Württemberg

Die Sparte ist jung, vor allem in Deutschland. Einen Standort, der auf jahrzehntelange Programmierung von Zeitgenössischem Zirkus zurückblicken kann, gibt es aber doch. Es handelt sich um das Tollhaus in Karlsruhe, das seit 2016 das ATOLL Festival ausschließlich für Zeitgenössischen Zirkus veranstaltet und erste Zirkusproduktionen bereits in den achtziger Jahren zeigte.
„Wir sind da schon Pioniere“, sagt Geschäftsführer Bernd Belschner mit einer Mischung aus Stolz und Selbstverständlichkeit. „Auf der Suche nach neuen Entwicklungen in der Kulturszene haben wir schon in den achtziger Jahren Produktionen entdeckt, erst in Deutschland, dann aber auch aus den umliegenden Ländern. Damals gab es die Clown-Power-Bewegung, Künstler wie Jango Edwards, und jonglieren konnten die auch“, sagt Belschner zu Theater der Zeit und wirft mit seinen Händen imaginäre Objekte durch die Luft. „Ich fand das immer toll. Und so haben wir uns immer stärker auf diese Szene konzentriert. Man muss auch sagen, dass es uns nie auf die eine Nummer ankam, auf einen, der mit zehn Bällen jongliert und dann noch die Wasserflasche dazu nimmt. Spannend war vielmehr, dass man ohne viele Worte Geschichten erzählen konnte, die visuell wahrnehmbar und emotional berührend sind. Das war für mich eine große Motivation, in diesem Bereich zu suchen.“
Starke visuelle Effekte waren denn auch beim diesjährigen Festival zu sehen. Die Akrobat:innen des Circus Baobab aus Guinea etwa erzählten in „Ye! – Wasser“ allein mit ihren exzellent trainierten Körpern und einer Ansammlung von leeren, halbvollen und vollen Plasteflaschen über die Themen Wassermangel, Migration und sexuelle Gewalt. Es beginnt mit einer Performerin, die eine Flasche Wasser hoch über dem Kopf hält. Um beide, die Flasche wie die Frau, streitet sich ein knappes Dutzend muskulöser Männer, die aufeinander fallen, dabei präzisen Schlägen ausweichen, indem sie Salti in die Luft schlagen und eine Choreografie der Gewalt hinlegen, die die Münder in dem mehr als 600 Menschen fassenden Saal offenstehen lässt. Später bauen sie Pyramiden aus ihren Leibern, zweistöckige, gar dreistöckige Pyramiden sowie Kuppelbauten, die eine Performerin hoch oben krönt.
„Ye!“ war einer der Höhepunkte des Festivals. Die Produktion zeigte, dass Zirkus mittlerweile auch in Afrika heimisch und da sogar in der Jugend- und Straßenkultur verankert ist. „In Conakry gibt es Hunderte Akrobaten, die ihre Kunststücke am Strand und auf den Straßen erproben und zeigen. Auch wir kommen daher, haben dann aber eine Ausbildung an der Zirkusschule erhalten und sind jetzt professionelle Artisten“, erzählte Fode Kaba Sylla, einer der Künstler, Theater der Zeit.
Mit einem Cyr-Rad und jeder Menge Plastikfolie operierte das belgische Collectif Malunés und erzählte dabei die Geschichte zweier Wesen, von denen das eine ohne die Hilfe des anderen schlecht sein kann. Vincent Bruynickx war mit angewinkelten Knien in Plastefolie umwickelt, sodass die Füße direkt am Körper ansetzten und nur sehr eingeschränkte Bewegung möglich war. Sein Bühnenpartner Vejde Grind entwickelte einen ganzen Spannungsbogen von Neugier auf dieses Wesen über Ablehnung bis hin zu hingebungsvoller Fürsorge.
Ebenfalls aus Belgien kamen Post Uit Huisdalen, die Schlagzeugrhythmen mit Jonglagen kombinierten. Als erschwerendes Moment ließ sich Jongleur Stijn Grupping einfallen, die Bälle nicht direkt in die Luft zu bringen, sondern sie an dreieckigen Bühnenelementen abprallen zu lassen.
Konzeptionell interessant war Alexander Vantournhouts Parcours „Screws“. Im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM,) das für diesen Abend vom Festival bespielt wurde, ließ er Artisten mit Schuhen mit Spikes operieren und hängte sie kopfüber an ihren Schuhen an einem Reck auf. Mit ungewöhnlichen Objekten wie Holzstücken und Hämmern ging das Trio Michael Zandl, David Eisele und Kolja Huneck in „Sawdust Symphony“ um.
Das ATOLL Festival präsentierte mit insgesamt 16 Produktionen einen sehr umfassenden Einblick ins internationale Geschehen des neuen Zirkus. Der Gastgeber Tollhaus ist auch über das Festival hinaus ein wichtiger Produktionsstandort für die Branche. Auf dem Gelände des ehemaligen Schlachthofs am Ostrand von Karlsruhe verfügt das Tollhaus neben zwei Bühnen sowie Open-Air-Standorten für Zelte auch über große und hohe Residenzräume, die für Artisten sehr gut geeignet sind. „Allerdings wissen wir nicht, inwieweit wir sie auch im Winter nutzen können angesichts der steigenden Heizkosten“, schränkt Johannes Frisch, Sprecher des Tollhauses, gegenüber Theater der Zeit ein. Für wichtig halten die Tollhaus-Betreiber weitere Investitionen in die Branche. „Es hat sich in den letzten Jahren schon einiges entwickelt. Aber noch immer sagen mir Künstler aus Deutschland, die im Ausland studiert haben, dass sie von Auftritten hier im Lande nicht leben können und sich deshalb weiter aufs Ausland konzentrieren. Und der Weg von Projektanträgen in eine kontinuierliche Förderung ist mühsam“, meint Belschner. //