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Geschichten vom Herrn H.: Vom Nō lernen heißt Kunst lernen
von Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Test the East – 30 Jahre Mauerfall (11/2019)
Wie unterschiedlich doch die Erlebnisse im Theater sein können. Am Tag zuvor saß ich noch in einer der inzwischen nicht unüblichen plumpen Erklär-und-Belehr-Performances. Man wird bis ins Detail informiert: welche Bücher Regisseur und Schauspieler konsultiert haben, welche Gedanken sie sich gemacht haben und vor allem welche nicht, wie das einzuordnen ist und welche Schlüsse man daraus zu ziehen hat. Der Informationsgehalt solcher Abende liegt meist noch unter dem eines Wikipedia-Artikels, und der künstlerische Eigenwert ist ebenfalls recht überschaubar. Doch an diesem Abend ist alles anders: Jede Bewegung auf der Bühne ist streng choreografiert, alles folgt einer präzisen Dramaturgie. Man versteht alles und zugleich nichts. Denn jegliches hat eine Bedeutung, aber nur in Bezug der einzelnen Elemente aufeinander. Das Ensemble der Umewaka Kennōkai Foundation Tokio ist im Rahmen des Musikfests in Berlin zu Gast. In der Philharmonie werden drei Stücke des japanischen Nō-Theaters gezeigt: ein kultisches Tanzspiel, eine Kyōgen-Komödie und ein dramatisches Nō-Spiel. Das Nō-Theater ist über sechshundert Jahre alt und wird heute noch aufgeführt.
Zahlreiche Künstler wurden vom Nō-Theater beeinflusst. Unter ihnen auch Bertolt Brecht, der sich für seine Lehrstücke inspirieren ließ, unter anderem für den „Der Jasager“ und die „Die Maßnahme“. Das Nō-Theater als eine der Quellen des epischen...