Auftritt
Landestheater Tübingen: Heimat in der ganzen Welt wiederfinden
„…worin noch niemand war – ein Heimatabend“ von Jörn Klare (UA) – Regie Sascha Flocken, Bühne und Kostüme Doreen Back, Musik Jan Paul Werge
von Elisabeth Maier
Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Dossier: Uraufführungen Landestheater Tübingen (LTT)

Auf dem Kunstrasen stehen Gartenzwerge. Eine Fototapete mit grasenden Kühen zieht die Blicke auf sich. Im Zentrum dieser Kulisse ist ein Fenster mit heruntergezogener Jalousie. Durch einen Schlitz gafft der Schauspieler Rolf Kindermann ins Publikum. In diesem Augenblick fällt die Idylle auseinander. Bespitzeln die Menschen einander? Mit subtilen Bildern wie diesem bringt Regisseur Sascha Flocken die Uraufführung „…worin noch niemand war – ein Heimatabend“ am Landestheater Tübingen auf die Bühne. In der verstörenden Produktion betrachtet der Autor und Journalist Jörn Klare den Heimatbegriff aus einer weltoffenen Perspektive. So deutet er gängige Narrative um.
Für rechtsradikale und wertkonservative Gruppen ist „Heimat“ ein Kampfbegriff. Das macht es schwer, unbefangen damit umzugehen. Für geflüchtete Menschen aber ist das Wiederfinden einer Heimat mit tiefer Sehnsucht besetzt. Und auch für einen linken Denker wie den Philosophen Ernst Bloch, der in Tübingen lebte, ist Heimat ein großes Thema. Diese Widersprüchlichkeit reizt den Autor und Journalisten Jörn Klare, der seit 2016 Theaterstücke schreibt. Im März 2016 kam beim Ullstein Verlag der Band „Nach Hause gehen: eine Heimatsuche“ heraus. Diesen Weg hat der 60-Jährige auch körperlich nachempfunden. Der Wahl-Berliner ging an 31 Tagen 600 Kilometer zu Fuß in seine Ursprungsheimat Hohenlimburg.
Mit Biss taucht das fünfköpfige Ensemble des Landestheaters in die musikalisch-literarische Revue ein. Der Abend beginnt mit der „Winterreise“ des Komponisten Franz Schubert: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.“ Das kommentieren die Schauspieler mit ihren eigenen Erfahrungen: „Schwaben ist scheiße!“ sagt Insa Jebens. „RT ist noch beschissener“ kontert Gilbert Mieroph, der die Stadt Reutlingen nicht mal aussprechen mag. Das gnadenloseste Urteil über die Universitätsstadt fällt Rolf Kindermann: „Tübingen ist am allerbeschissensten.“ Was sich anhört wie vergnügliches Geplänkel, hat einen ernsten Hintergrund. Die Wortfetzen spiegeln eine Leere, die der Verlust einer Heimat mit sich bringt. Wie sich das anfühlt, wissen Schauspieler:innen nur zu gut, wenn sie von Engagement zu Engagement ziehen.
Ironische Schlenker wagt Doreen Back bei den Kostümen wir auch beim Bühnenraum. Die Akteur:innen tragen trendige Nadelstreifenanzüge mit Ketten und Ansteckern. Das steht im krassen Kontrast zu den Heimatbildern aus der Wirtschaftswunderzeit, die aus Familienalben entlehnt scheinen. Videoclips schlagen Brücken zum dokumentarischen Charakter des Auftragswerks, das Klare für die Tübinger Bühne geschrieben hat.
In Gesprächen mit Vertriebenen, Geschäftsleuten und Geflüchteten hat Jörn Klare den Heimatbegriff sehr unterschiedlich betrachtet. Insa Jebens fühlt sich in die zerrissene Seele eines Dorfkinds hinein, das sich in der früheren Heimat fremd fühlt. Sarah Liebert lenkt den Blick auf junge Menschen in Afghanistan, die in ihren Dörfern jeden Tag um ihr Leben fürchten müssen. Mit Laptop und zwei Koffern reist Gilbert Mierophs digitaler Nomade um die Welt. In der global vernetzten Lebenswirklichkeit findet „Heimat“ zunehmend in den Köpfen statt. Dass sich auch ein großer, aber zerrissener Dichter wie Friedrich Hölderlin nach Heimat sehnte, bringt Leo Kramer schön und kraftvoll zum Klingen. In seinem Gedicht „Heimat“ sehnt sich der Dichter, der Zeit seines Lebens nach einem Halt in der Welt suchte, nach den „Wäldern der Jugend“ zurück.
In der knapp zweistündigen Revue gelingt Jörn Klare das Kunststück, die Komplexität des Heimatbegriffs zu erfassen. Von den Schlachtfeldern im Libanon bewegt sich der Abend zurück in die verschlafenen Dörfer, in denen junge Menschen verkümmern. Dass die fünf Schauspieler die Komödienkunst brillant beherrschen, kommt dem entgegen. Jan Paul Wege hat eine Musik geschrieben, die sich von der leichten Liedkunst der Romantik über das Volkslied in schwere, bedrückte Klanglandschaften bewegt. Die Vielstimmigkeit, wie sie Klare in den Texten anlegt, spiegelt sich in den Kompositionen wider. Obwohl Klare seinen „Heimatabend“ in der Universitätsstadt Tübingen verortet, schweift sein Blick in die Welt. Das macht dieses Musiktheater so besonders.
Erschienen am 15.10.2025