Was dazwischenkommt beim Intervenieren
(Nazis, Renovierungen, alltägliches Vergessen)
von Kai van Eikels
Erschienen in: Recherchen 156: Ästhetiken der Intervention – Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters (04/2022)
Die ökonomisch-militärische Intervention und die künstlerische Intervention haben gemeinsam, dass ihre stärkste Wirkung meist nicht in den Veränderungen besteht, die sie innerhalb des Interventionsfeldes erwirkt, sondern in der Definition dieses Feldes. Interventionen weisen das, worin sie intervenieren, als interventionsbedürftig aus. Sie formulieren ein ›So kann es nicht weitergehen‹, und was immer im Einzelnen aus ihnen und durch sie herauskommt, trägt dazu bei, die Evidenz dieses So-nicht-weitergehen-Könnens zu erhärten. Interventionen sind kritisierbar, aber sie sind gewissermaßen unwiderlegbar. Man kann die Verhältnismäßigkeit ihrer Mittel bezweifeln, gegen diesen oder jenen Punkt der Begründungen Einwände erheben, verborgene Motive hinter den offiziellen argwöhnen, Fälle aus der jüngeren Geschichte aufzählen, in denen vergleichbare Aktionen das gesetzte Ziel verfehlten. Wer indes der Logik der Intervention als solcher das Einverständnis verweigern wollte, wäre zum Komplizen all jenes Schlimmen gestempelt, das der Fortgang des indizierten Geschehens bringt. Intervenieren treibt diejenigen, die nicht mitziehen, in die Fänge einer Unterlassungsschuld.1
Wo künstlerische Interventionen sich politisch legitimieren, übernehmen sie damit noch etwas anderes von der ökonomisch-militärischen Intervention: den Verweis auf eine Notwendigkeit, die das Willkürliche der Entscheidung zum Intervenieren in sich aufnimmt und entweder aufhebt oder bis auf Weiteres zum Schweigen bringt. Beschließt ein Staat, eine Allianz von Staaten oder ein über geeignete Mittel verfügender Verband eine Intervention, so geschieht das nicht im Namen der Freiheit, sich für das Richtige zu entscheiden. Die Intervention ist niemals das Richtige. Sie zieht am Rand des Erwägens auf als dasjenige, das bleibt, nachdem Beweise zeigen, dass schonenderes Vorgehen zu einflussarm war, um schlechte Entwicklungen umzulenken oder aufzuhalten. Und sie präsentiert sich im Licht des Vorläufigen, sogar dann, wenn sie es darauf absieht, etwas mit ökonomischem Druck oder militärischer Gewalt zu beenden. Wenn es so etwas wie eine genuine Figur der Intervention gibt, dann die eines provisorischen Bis-zum-Äußersten-Gehens. Es ist, als würde die Formel von der ultima ratio, die einmal den Krieg zugleich auf Abstand und in Reichweite halten sollte, in die Mitte eines Status quo hineingezogen, der Ausnahme und Normalität immer schon miteinander verrechnet.
Zur Rhetorik sowohl der Ablehnung wie auch der Akzeptanz von ökonomisch-militärischen Interventionen gehört die Formel, es könne »letzten Endes nur eine politische Lösung« geben. In der Perspektive (oder perspektivischen Illusion) von Clausewitz’ Diktum, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, steht das zwischenzeitlich anders fortgesetzte Politische in seiner wiederhergestellten Ausgangsverfassung am Zukunftshorizont. Das Politische ist in dieser rhetorischen Ordnung das, was man will, die Intervention das, was die Umstände gebieten und was man solange wird durchhalten müssen, bis die Umstände wieder soweit dem Gewollten entsprechen, dass richtige Politik möglich erscheint. Die Zwischen-Zeit der Intervention kennzeichnet ein Aussetzen jener Offenheit für Alternativen, die politisches Handeln von forcierten Maßnahmen abhebt. Insofern Regieren heute ohnehin Entscheidungsfreiheit oft durch Sachzwänge moderiert, weil kein Regierungsmitglied es sich trauen darf, als Subjekt einer Willkür hervorzutreten, fällt der wahrnehmbare Unterschied zwischen Intervention und regulärem Politikbetrieb weniger einschneidend aus. Die Dringlichkeit der Intervention hebt sich nicht unbedingt auffallend von dem ab, was ›schmerzliche‹ Kürzungen im Sozialbereich zwecks überfälliger Haushaltskonsolidierung oder das Schließen einer ›skandalösen‹ Gesetzeslücke rechtfertigt. Doch auch dort, wo das Andere des anderen Mittels im Kontinuum der Beteuerungen verschwindet, impliziert jede Intervention ein suspendiertes politisches Handlungsfeld. Die Einschränkung der eigenen Freiheit darin, dass man, wie die begleitende Erklärung versichert,2 Unumgängliches tut, adressiert sich an diejenigen, die im Interventionsfeld agieren, als Disqualifikation (und zwar erfolgt die Adressierung in der dritten Person, denn die Vernünftigkeit dieses Erklärens zieht die Grenzen um ein ausschließendes Eigenes fester): Die machen es uns einstweilen unmöglich, die Politik zu machen, die wir wollen würden. Die nehmen uns die Option, das Gute zu wählen. Sie haben deshalb die Intervention auf eine Weise verdient, die unser Bedauern wie eine justa causa ausschauen lässt.
Künstlerische Interventionen sind in diesem Zusammenhang zunächst einmal deshalb interessant – im Sinne von merk- und fragwürdig –, weil die Figur des Künstlers oder der Künstlerin, wie das »ästhetische Regime«3sie hervorgebracht und gepflegt hat, ganz die umgekehrte Beziehung von Notwendigkeit und Freiheit verkörpert.
Ästhetik trägt in ihrer liberalen bürgerlichen Bestimmtheit die Behauptung, das Notwendige werde im Willkürlichen aufgehoben oder für eine Weile zum Schweigen gebracht (zu einem mitteilsamen Schweigen, aber die Mitteilung erfolgt durch das, was ein künstlerischer Wille an die Oberfläche des Signifikanten geholt und dort zu einer Anordnung kommen lassen hat). Die Auslieferungen ans Objektive, wie die Avantgarden und Neoavantgarden des 20. Jahrhunderts sie vorführen, ziehen künstlerische Subjektivität zwar auf ein immer Schmaleres zusammen; aber dieses Schmale zieht sich wie ein unübersehbarer Faden durch sämtliche objektive Verkettungen, seien es aleatorische Entscheidungen mittels des I-Ching, schmelzende Eisblöcke an der Straßenecke oder apparativ erzeugte »Körpertreffer«4. Das gilt auch für politisch engagierte Kunst. Wenn etwa Mierle Laderman Ukeles den Arbeitern der New Yorker Abfallentsorgung die Hand schüttelt,5 blinkt da der Glanz eines aus freien Stücken erstatteten Dankes mitten in dem System auf, das die Menschen beim Verrichten ihrer Notdurft betreut. Das körperliche Danken, das Ukeles über viele Jahre fortführt (und das seinerseits eine performative Infrastruktur bildet für viele works, die sie in Kooperation mit den Müllleuten realisiert), reagiert auf die Abwertung gerade jener Arbeitstätigkeiten im bürgerlichen Kapitalismus, die sich des Notwendigen annehmen. Maintenance work wird schlecht bezahlt und genießt geringes gesellschaftliches Prestige. Was die Kunst dieser Wirklichkeit nötiger und in vielerlei Hinsicht unfreier Arbeit zu geben hat, ist die außerordentliche Würde ihrer Zuwendung aus freien Stücken.
Was Ukeles tut, verfährt insofern gegenläufig zur Intervention: Sie lässt den Arbeitsalltag weitergehen, fügt ihre eigenen Arbeiten hier und da in den Betrieb ein, ohne diesen zu stören. Sie integriert sich organisatorisch, unterhält sogar ein eigenes Büro im Koordinationszentrum. Ihre Motivationen sind politisch, und ihr Maintenance Art Manifesto artikuliert die Botschaft, die von ihrer künstlerischen Einlassung ausgeht, sehr explizit.6Doch das Politische spiegelt sich nicht in einem ›Es ist notwendig, dass ich da interveniere, weil…‹. Das Dringliche hält Verbindung zum subjektiven Entschluss, zu einem Spiel von Neigungen und Präferenzen, die in der Entschließung ›weltfest‹ werden. So unerhört es sein mag, dass die Gesellschaft diesen Leuten die symbolische und finanzielle Anerkennung ihrer lebenswichtigen Leistungen verweigert, drängt keine Sachlage dazu, ihnen zu danken. Der Dank selbst verwehrt sich dagegen, als Performativ für Interventionen herzuhalten. Fiele der Schatten eines Zweifels auf den freien Willen derjenigen, die ihn ausspricht, verlöre er sofort seinen Wert.
Ukeles’ Ansatz als Kontrastbeispiel verdeutlicht, was die künstlerische Intervention sich an Komplikationen zuzieht, wenn sie das Feld, in das sie interveniert, mit Anhaltspunkten für die Notwendigkeit versieht, dies zu tun – es, mit einem Lacan’schen Begriff gesprochen, »absteppt« im Zeichen der Erfordernis, mit sich, mit Kunst dazwischenzugehen.7 »Lassen Sie mich durch, ich bin Künstler!«, soll Christoph Schlingensief mal gerufen haben, als ein Pulk Leute ihm auf dem Gehsteig den Weg versperrte. Das parodiert präzise ein ernsthaftes Problem: Interventionskunst suspendiert aus eigenem Ermessen die Freiheit ihrer Einlassung und sie schiebt die Verantwortung für dieses Suspendieren den Umständen zu. Dieses Manöver droht das, was es stärken soll (Interventionskunst operiert oft in einer phantasmatischen Ordnung der Stärke, des Kräftemessens), in der Selbstrechtfertigung zu erschöpfen. Die künstlerische Intervention erzeugt dann nichts als die Evidenz, dass man da (künstlerisch) intervenieren musste.
Oder sie täte es, sofern zwischendurch nicht etwas Ungeplantes sich ereignet und die Situation verschiebt. Um der Entleerung durch eine aus- und aufzehrende Legitimität zu entgehen, ist die künstlerische Intervention angewiesen auf die Eigenproduktivität des Zwischenzeitraumes, den ihr Sich-Hineinzwängen in etwas, das ›draußen‹ vorgeht, eröffnet. Und das nicht nur in Bezug auf eine Tiefe, Komplexität, Interessantheit und Erlebnisintensität, sondern ihre ästhetisch-politische Dignität hängt vom Management des Zwischen ab. Bei Kunstaktionen im Interventionsmodus wird es schließlich immer darum gegangen sein, wie das Wertkonstrukt Kunst im Kampf um die Bestimmungsmacht über den Zwischenstatus, den Zwischenraum und die Zwischenzeit abschneidet: Gelingt es im Verlauf des Intervenierens, das Feld der Intervention so stabil zu halten, dass die Dringlichkeit des Eingreifens einsichtig bleibt? Und gelingt es zugleich, das, was diese Stabilität erschüttert, als Ereignis ästhetisch anzueignen?
Die Suspendierung der Freiheit hat gerade auch als Einschränkung, als teilweise Rücknahme des Ästhetischen plausibel zu erscheinen. Wie die ökonomisch-militärische Intervention sagt, ›Wir können uns reguläre Politik gerade nicht mehr leisten, tun das hier aber in der Hoffnung, später wieder politisch handeln zu können‹, so vertraut die künstlerische Intervention ihrem Publikum an: Die Wirklichkeit verbietet es uns, weiterhin reguläre Kunst zu produzieren, als sei nichts gewesen, aber wir tun das hier in der Hoffnung, später wieder an einen jener Orte zurückkehren zu können, wo das Ästhetische sich in voller Freiheit entfaltet. Intervenierende Künstler:innen haben selten vor, für den Rest ihres Lebens oder gar instituierend darüber hinaus auf den sozialen Szenen zu verweilen, die sie mit ihren Konzepten betreten. Sie werden sich da wieder rausziehen, wie von Anfang an feststeht. Und wo das mehr sein soll als bloß ein Zugeständnis an die Projekt(finanzierungs)-Dynamik, hat eben die Endlichkeit, die zeitliche Begrenztheit der Intervention teil an deren Verrückung des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft: Dass die Intervention vorübergegangen sein wird, bedarf sowohl bezüglich des Politischen als auch bezüglich des Ästhetischen der Moderation, weil diese Endlichkeit weder den Temporalvorgaben der Politik (mit der Autorität einer kollektiv bevollmächtigten Instanz beschlossene, laufend überprüf- und anpassbare Maßnahme) noch denen einer zeitgenössischen Kunst (von jemandem mit Autor:innenstatus hervorgerufenes Ereignis plus unabschließbare Reflexion des Publikums) recht entspricht.
Ich möchte im Folgenden diesen Kampf um das Zwischen, um die Bestimmungsmacht bezüglich des ›Inter-‹ an drei Beispielen kurz skizzieren – zwei Aktionen, bei denen der künstlerischen Intervention etwas dazwischenkam, das die Kontrolle über das Zwischen entriss oder im Begriff war, sie zu entreißen, sowie eine Arbeit im Vorfeld zur Aktion, die von vornherein die Kontrolle aus der Hand gab und gewissermaßen die Intervention entäußerte.
1.Cesare Pietroiusti, Pensiero unico (2003)
Ein knapp sechsminütiges Video, das auf YouTube anzuschauen ist, zeigt ein Haus in der Altstadt von Bologna.8 Die Kamera blickt von der gegenüberliegenden Straßenseite auf einen white cube-artigen Galerieraum mit schmiedeeisernen Gittern vor Fenster und Tür. Ein junger Mann mit Anzug und Krawatte steht erst frontal am Fenster, geht dann auf und ab und greift nach einem Mikro, das in einem Ständer vor ihm steckt. Er singt immer und immer wieder einige Zeilen aus den beiden faschistischen Liedern Giovinezza und Vincere.9 An der Rückwand des Raumes unterrichtet eine Uhr über die Zeitsprünge zwischen Schnitten. Die Abenddämmerung bricht herein.
Laut Selbstaussage plante Pietroiusti, bis zum Versagen seiner Stimme mit dem Singen fortzufahren. Das bietet sich einer Interpretation als ›politische Kunst‹ an, die zunächst einmal den Selbstbezug des Künstlers vermittels des eigenen Körpers in den Vordergrund stellt. Man könnte die Aktion als eine Art Exorzismus deuten, durch den der Performer seines eigenen Konzeptes versucht, das Weiterklingen des Faschistischen in sich auszumerzen. Zugleich ist das Singen aber auch eine Intervention in den öffentlichen Raum, denn das Fenster steht einen Spalt offen, und die Lautsprecher sind dicht dahinter positioniert, so dass die Stimme hinaus auf die Straße tönt. Dieser Spalt ist formgebend: Indem akustische Signale hindurchdringen, konfiguriert sich eine Szene, auf der die persönliche Dringlichkeit der Sing-Aktion Anschluss sucht und findet an eine Zudringlichkeit, die vorbeikommende Leute involviert. Auf dem Weg eine Straße entlang plötzlich diese Zeilen zu hören mag irritierend sein, bestürzend, ärgerlich – und es würde auch körperlich schmerzlich und Mitleid erregend, sobald die Stimme die Strapazen ihrer Überbeanspruchung mitteilte. In jedem Fall ruft es diejenigen, die in Hörweite geraten, an, und dieser Appell unterbricht ihre Alltagsbewegung, kommt ihnen dazwischen.
Man darf annehmen, dass Pietroiustis Arrangement daraufhin angelegt war, in die locker gestreute Menge von Passant:innen als in einen Strom von Einzelnen zu intervenieren, die Leute draußen ähnlich wie das Publikum einer Kunstveranstaltung in der Galerie am Zipfel ihrer subjektiven Verunsicherbarkeit zu packen. Vermutlich spekulierte die Intervention darauf, durch Unterbrechung der Bewegung, im Verhalten oder Verlangsamen des Schrittes, einen Zeitraum ästhetisch-politischer Erfahrung zu eröffnen, ein aus dem Kontinuum sozialer Zeit herausgehobenes Augenblicks-Zwischen, das entweder Anlass gibt, an Ort und Stelle in ein Gespräch einzutreten (man sieht im Video einige Leute, bei denen das passiert), oder aber sich im Weitergehen als Zäsur, als Erinnerung an einen Stoß erhält und so zur nachhaltigen Quelle einer Reflexion wird.
Dann passiert jedoch etwas, womit der Künstler nicht gerechnet hatte. Es gibt da draußen nicht nur Einzelne, die sich grosso modo wie ein Publikum verhalten. Es gibt auch welche, die über eine eigene kollektive Organisation verfügen: ein regionales Netzwerk von Neonazis. Die reagieren auf die Lieder mit Enthusiasmus, grölen sie teils mit und ergänzen die weggelassenen Zeilen, schwenken Schals mit faschistischen Parolen (»Boia chi molla« und »All’armi siam fascisti«) vor der zweiten Kamera im Inneren der Galerie, holen immer mehr von ihresgleichen herbei, bis eine Traube sich am Fenster zusammendrängt und welche am Gitter rütteln. Das Video endet, ohne dass noch einmal der Künstler groß ins Bild kommt. Der Kommentartext auf YouTube verrät nur: »The action ended at 11.45 pm.«
Tatsächlich brach Pietroiusti die Aktion ab, ehe er sich heiser gesungen hatte, um das Team und sich selbst vor befürchteten Übergriffen zu schützen, was man indes nur von ihm selbst oder durch gemeinsame Bekannte erfährt. Die Nazis haben also erfolgreich in die Intervention interveniert. Oder sie hätten es, falls ihre spontane Partizipation zu einer Intervention geworden wäre. Ob sie es wurde, bleibt schwer zu entscheiden. Die Stimmung im Pulk bewegt sich zwischen Jubel und Aggression. Aus dem, was das Video zu erkennen gibt, geht nicht klar hervor, dass die Männer den antifaschistischen Charakter der Kunstaktion durchschauen oder erahnen. So oder so treten sie jedoch als ein Ensemble in Erscheinung, das – im Unterschied zum Publikum – etwas wollen kann, über die Möglichkeit einer kollektiven Willensbildung verfügt, weshalb Mutmaßungen über ihre Intentionen Einfluss auf den Ablauf der künstlerischen Intervention gewinnen.
Die künstlerische Arbeit rettet sich in die Videodokumentation ihres Verendens in einem Dazwischenkommen. Das Video ist äußerst interessant, und für die politisch-ästhetische Reflexion gewinnt es an Gehalt dank des selbstorganisierten Kollektivs, das mit seinem spektakulären Auftreten das Publikum aus dem Feld schlägt. Die Nazis gehen ein in die Form eines Ereignisses. Die Wiederaneignung des von überlegener Versammlungsmacht Heimgesuchten funktioniert: Die Performance muss zwar die Kontrolle über das initiierte Zwischen abgeben, aber das daraus hergestellte Exponat justiert alles so, dass die Abgabe nicht wie eine Aufgabe erscheint. Der Künstler braucht schließlich über das, was in seine eigene Intervention interveniert hat, nur zu schweigen und das Kunstobjekt seine Wirkung ausüben zu lassen. Was sich wie ein Dokument präsentiert oder zumindest eine Bereitschaft anspricht, Aufnahmen live stattfindender künstlerischer Vorgänge als dokumentarisch zu lesen, vollzieht eben jene Operationen, die es braucht, um die Intervention an den etablierten ästhetischen Wertschöpfungsprozess anzuschließen.
2.Paul Chan, Waiting for Godot in New Orleans (2007)
Paul Chan ist sowohl politischer Aktivist als auch Künstler, insistiert aber darauf, beides zu trennen.10 2007 begibt er sich für mehrere Monate nach New Orleans, das zwei Jahre zuvor vom Hurrikan Katrina mit einer Sturmflut überzogen worden war. Insbesondere in den ärmeren, mehrheitlich von Afroamerikaner:innen bewohnten Vierteln wie dem Lower Ninth Ward geht der Wiederaufbau nur langsam voran, teils von den städtischen Behörden absichtlich verschleppt, im Bestreben, die Leute loszuwerden und Platz für lukrative Neubauten zu erhalten (Naomi Kleins Buch über Disaster Capitalism steht bald darauf auf den Bestsellerlisten11). Chan kommt mit dem politischen Vorsatz, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren und in diesen Zustand der Stagnation, des zermürbenden Wartens zu intervenieren. Er beschließt indes, diese Intervention als Künstler und mit Kunst zu realisieren, indem er an einer Straßenkreuzung mit verfallenden Häusern Aufführungen von Becketts Waiting for Godot veranstaltet.12
In der Buch-Dokumentation des Projekts schildern bzw. inszenieren mehrere Beiträge die Geburt dieser Idee aus einer Situation, die dringend eine künstlerische Intervention erfordert, weil etwas Vulgäres wie Geld nicht ausreicht. »No matter how hard we tried, we couldn’t absorb the immensity of the tragedy. […] I knew I had to do something about this, something more than giving money«13, schreibt Anne Pasternak, die Direktorin der Agentur Creative Time, die das Projekt mit Chan organisierte, im Vorwort des Bandes, gefolgt von einer Reihe rau kopierter Zeitungsausschnitte mit Schlagzeilen über die Katastrophe, die sich in mehreren Etappen in der Stadt vollzog. Chans »Artist Statement« beginnt mit einem Zitat aus Waiting for Godot: »Let us not waste our time in idle discourse! (Pause. Vehemently.) Let us do something while we have the chance!«14 Dann beschreibt er seinen persönlichen Eindruck und seine Ergriffenheit. Auf einer Bustour zieht das zu großen Teilen zerstörte Viertel an ihm vorbei: leere Straßen, gesäumt von Häuserruinen. In einem Augenblick, in dem sich die Erfahrung der Besichtigung zusammenzieht, bemerkt er die beunruhigende Stille: »[T]he barren landscape brooded in silence. The streets were empty. There was still debris in lots where houses once stood. I didn’t hear a single bird.«15 Spontan, so die eigene Darstellung, drängt sich ihm die Assoziation zu Becketts Stück vom vergeblichen Warten auf, und dann ist auch schon die Entscheidung getroffen, in die Zeit des unerträglichen Wartens die Zeit dieser Aufführung einzuschieben, das zerstreute Warten zu parzellierten Vielen für einige Abende zu unterbrechen mit einer als Kunstereignis genießbaren Darstellung des Wartens, die die Leute versammelt.
Ihre stärkste Wirksamkeit erlangen Interventionen in der Definitionsmacht, die sie über das erlangen, worin sie intervenieren, lautete die Ausgangsthese dieses Textes. Chans Aktivitäten in New Orleans, wie das im Buch zusammengestellte Material sie rekonstruiert, zeigen den intervenierenden Künstler darum bemüht, seine Bestimmung der Verhältnisse vor Ort als eine Situation des Wartens aktiv zu implementieren. Er klingelt etwa an Haustüren, stellt sich als Künstler vor, der etwas für the community tun will, verteilt Exemplare von Becketts Stücktext und fragt: »What are you waiting for?« Er produziert also selber die Evidenz jenes Wartens, dessen bedrückende Schwere den Hauptteil des Projektes legitimiert. Die Aufführung des Beckett-Stücks dagegen produziert er nicht selber (anders als Susan Sontag, die das Stück 1993 mit arbeitslosen Schauspieler:innen im belagerten Sarajevo einstudiert hatte16). Mithilfe seines Projektmanagements engagiert er eine Truppe, die Waiting for Godot gerade in New York gezeigt hat, in einem Bühnenbild, das auf Post-Katrina-New Orleans anspielt.17
Was immer man von dieser Theaterproduktion halten mag, die Leute im Viertel reagieren durchaus dankbar auf die Aufführungen, und insofern wäre das Fazit korrekt, Chans Waiting for Godot in New Orleans habe sein interventorisches Ziel erreicht, eine andere Qualität des Wartens in das alltägliche Warten einzuspielen und ›der Community‹ diese Differenz in der Zeiterfahrung des Wartens zu vermitteln. Von der darf offen bleiben, ob sie im Effekt kurzfristiger Ablenkung verpufft oder bei einigen doch die Einstellung zum Durchhalten verändert. Ein Detail sticht indes bei dieser Begegnung zwischen Paul Chan und New Orleans heraus, nämlich eine unerwartete Intervention in das Warten von dritter Seite: Kurz vor der Premiere haben zum Entsetzen des Produktionsteams an dem Haus, das als Szenerie für den Aufführungsort ausgesucht worden ist, plötzlich Renovierungsarbeiten begonnen. Chans Mitarbeiter Gavin Kroeber berichtet, wie er einen Mann aus Houston antrifft, der sich als Käufer des Grundstücks ausweist und gerade neue Fenster einsetzen lässt.18 Die vorgesehene Veranschaulichung des vergeblichen Wartens gebietet jedoch, dass das Haus als Kulisse verfallen aussieht. Creative Time zahlt dem Mann daher einen Geldbetrag gegen das Versprechen, zumindest keine nach außen sichtbaren Instandsetzungsarbeiten vorzunehmen, bis die Vorstellungen vorüber sind. Der bricht den Vertrag dennoch, woraufhin obendrein herauskommt, dass es sich keineswegs um den wahren Besitzer handelt, sondern um einen Schwindler mit gefälschten Kaufpapieren.
Die Aufführungen – so, wie sie dann stattfinden – bringen diesen kleinen Schwindel mit viel Extraarbeit des Teams zum Verschwinden. Das von Chan initiierte, in seinem Namen herausgegebene und in einem von ihm gegründeten Verlag erschienene Buch hingegen verzeichnet die Wahrheit als Anekdote des Produktionsleiters. Ähnlich wie bei Pietroiusti das Video sorgt hier das Buch als hergestelltes und vom Künstler signiertes Objekt dafür, dass die Arbeit das, was der Intervention dazwischenkommt, sich schließlich doch anzueignen vermag. Diese Wiederaneignung ist eine probate Lösung der Interventionskunst, die vielleicht zugleich ein nicht unerhebliches Problem des Formats darstellt: Der mediale Träger der Dokumentation wird dort, wo er Werkcharakter erhält oder sich in das Profil eines Werkes integriert, immer maßgeblicher gewesen sein als die Aktionen. Chan scheint strategisch bewusster als Pietroiusti schon der Nacherzählung des Unternommenen in einem von ihm kontrollierten Produkt zuzuarbeiten. Das weitgehend positive Echo auf Waiting for Godot in New Orleans verdankt sich ebenso wie der Erfolg seiner Bilder, Videos und Objekte einem professionellen Umgang mit dem internationalen Kunstbetrieb, der auf genauem Verständnis dessen beruht, was dessen Bewerter:innen und Entscheidungsträger:innen zu schätzen wissen.
Das Problem beschränkt sich aber nicht auf so ein Kalkül. Es betrifft die Bewegung, mit der interventorische Kunst politische Öffentlichkeit durch Kunstöffentlichkeit ersetzt und dabei doch unterstellt, dass die Kunstöffentlichkeit wie von selbst mit einer politischen Öffentlichkeit konvergiere (verknüpft durch eher vage Vorstellungen von ›der Stadt‹, einer regionalen oder globalen Polis). Das Video, das Buch, die Installation aus Dingen, die bei einer Intervention verwendet wurden – all diese items, die den Präsentationsanforderungen von Kunstinstitutionen entsprechen, tragen den Anspruch auf das Politische weiterhin in sich und melden ihn an die Rezeption. Haben sie durch ihr Ausgestelltwerden oder die Publikation in einem Kunstbuchverlag einmal den Status eines ästhetischen Phänomens erreicht, sind sie als Kunst vonseiten der Rezipierenden nicht mehr in Frage zu stellen, nur noch innerhalb der institutionell geschützten Sphäre des Ästhetischen zu kritisieren (mit einer Kritik, die den Wert des von ihr Ermessenen nahezu zwangsläufig erhöht, denn selbst einhellig negative Urteile vermehren den Schatz an Reflexion, der sich um eine künstlerische Arbeit häuft). Dieser Status des über Zweifel Erhabenen, das subjektiv schlecht, aber nicht objektiv keine Kunst sein kann, schließt die politischen Motive zunächst einmal in sich ein: Auch wenn Chan mit dem Vorhaben, Becketts Stück in New Orleans aufzuführen, gescheitert wäre oder die Anwohner:innen dem Theaterangebot kaum Beachtung geschenkt hätten, legte die dokumentarische Rekonstruktion des Projektes das Interventionsgeschehen in einem Modus dar, in dem die ästhetische Form die politische Integrität beherbergt. »As an artist, I am only interested in doing the impossible«, sagte Chan beim oben schon zitierten Podiumsgespräch.19 Es gibt kein offeneres Eingeständnis der absoluten Sicherheit, in der institutionell anerkannte Kunst politische Praxis wiegt, als diese Floskel.
Protest gegen das Floskelhafte der Beziehung, die Kunst zum Unmöglichen unterhält, sieht sich genötigt, das Politische gewaltsam wieder vom Ästhetischen zu trennen und etwa den Vorwurf der Ausbeutung oder Instrumentalisierung zu erheben. Einwände, die beanstanden, Chans Intervention habe nichts Nachhaltiges zur Verbesserung der Lebenssituation vor Ort erbracht, geschweige denn den Leuten im Kampf gegen die Allianz aus korrupter Lokalpolitik und Konzernen beigestanden, stellen die Aktion differenzlos neben Sozialarbeit und politischen Aktivismus. Verhält sich das Ästhetische zum Leben aber nicht immer auch parasitär? Unglücklich für das Format der künstlerischen Intervention ist dabei nicht einmal so sehr das Banausische als antibürgerliches trotziges Beharren auf einer Solidität politischen Erwirkens (die Selbstbehauptung eines politischen Kollektivsubjekts wird gegenüber der Kunstpolitik wohl oder übel diesen ›bodenständigen‹ Ton anschlagen, solange die Kunst keine Ahnung von dem haben will, was an ihrer konstitutiven Bürgerlichkeit jede Solidarität, die sie klassenübergreifend ausspricht, verrät). Indem der berechtigte Vorwurf, ans Museums- und Diskursgeeignete geklammert auf der sicheren Seite zu bleiben, jedoch der Kunst, die interveniert, den Ernst abstreitet und behauptet, sie sei eitles selbstbezügliches Spiel, vergisst politische Praxis ihre eigene Angewiesenheit auf ein Moment des Spielerischen im Ernstfall. Die Freiheit, ein für richtig Erachtetes dem vorzuziehen, was Systemzwänge gebieten, unterscheidet das politische Handeln von der Verwaltungsmaßnahme; diese Freiheit kommt nie aus der dringenden Sache, sie entsteht immer erst im Belieben einander unterstützender Personen, die sich der Sache annehmen. In einer weitgehend von ökonomischem Denken, seinem instrumentellen Miteinander und Ohneeinander geprägten Gesellschaft übernimmt die Kunst das Erinnern an den Wert beliebiger Kollektivität. Eine Kunst, die ihr politisches Moment umfassend diskreditiert, läuft Gefahr, der politischen Kollektivsubjektivierung auch den Sinn für ihre Nähe zur ästhetisch vermittelten zu entziehen.
Als Hannah Arendt, an Aristoteles anknüpfend, behauptete, politisches Handeln und künstlerisches Performen gehörten in dieselbe Kategorie der Tätigkeiten, die nicht gewünschte Zustände herstellen, sondern bei anderen den Wunsch nach Teilnahme, nach verteiltem Weitertragen oder gemeinsamer Verwirklichung wecken,20 war das von der Einsicht erhellt, dass Leichtigkeit ein wesentliches Moment politischer Macht sei. Dass künstlerische Interventionen zu leicht fallen, könnte für sie sprechen, wie es in vielen Fällen gegen sie spricht. Dazu bräuchte es eine politisch-ästhetische sophrosyne, einen Orientierungssinn dafür, mittels welcher Wendungen man das unverhältnismäßig Leichtere, das einem die künftige ästhetische Würdigung des eigenen Agierens vorab zuspielt, der Gegenwart eines kollektiven politischen Handelns vermacht. Es gilt, die Wertschätzung, die kommt, ins Zwischen der Intervention mitzunehmen und sie dort auszugeben in einer Währung, die für alle Beteiligten zählt.
3.Koki Tanaka, Precarious Task #7: Try to keep conscious about a specific social issue, in this case ›anti-nuke‹, as long as possible while you are wearing yellow color (2013)
Eine solche Umverteilung kann etwa heißen, das Objekt, nachdem ein Kunst-Kontext ihm den Mehrwert spielerisch-freier Reflexivität zugeschlagen hat, der politischen Praxis zu übergeben. Eine Arbeit des in Japan geborenen Koki Tanaka aus seiner Serie Precarious Tasks geht davon aus, dass uns bei unseren politischen Interventionen etwas dazwischenkommen wird – nämlich der Alltag, das von täglichen Geschäften angefüllte Weitergehen der Zeit. Setzt Paul Chan die von ihm empfundene, aus den Eindrücken eines Besuches herbeiimaginierte Leere des Wartens real-fiktional in Szene, so setzt Tanakas Konzept bei der eigenen Erfahrung des Beschäftigtseins, des Versäumens und Vergessens an. Seine künstlerische Initiative will nicht die zeitliche Normalität aufbrechen, indem sie einmalig ein ästhetisch-politisches Ereignis ins Dahinleben einschaltet. Try to keep conscious… platziert dort, wo dieses Normale die Gelegenheit zum politischen Handeln immerfort verschluckt, ein supplementäres Zeichen-Ding, das den Körper time and again wie ein Schluckauf heimsucht.
Im März 2011 löste das schwere Erdbeben in Tohoku, der nordöstlichen Region von Japans Hauptinsel, einen Tsunami aus, der das küstennahe Atomkraftwerk von Fukushima so stark beschädigte, dass es in einem der Reaktoren zu einer Kernschmelze kam. Wenngleich die Explosion, mit der man in den ersten Tagen nach dem Unglück rechnete, ausblieb, hinterlässt der Vorfall ein nukleares Desaster, das die Betreiberfirma nur mit gewaltigem Aufwand und unabsehbaren ökologischen Kosten unter Kontrolle hält. Dieses Ereignis, mit dem eine natürliche Erschütterung die technologischen Sicherheitsgespinste zerriss und die Beteuerungen, Kernenergie sei sicher, Lügen strafte, stieß vielerorts lokale Protestaktionen an. Bürger:innen demonstrierten gegen die Reaktivierung der zunächst allesamt abgeschalteten AKW’s, und durch die Vernetzung dieser Gruppen entstand landesweit eine informelle Anti-Atomkraft-Bewegung, die jeden Freitag Protestveranstaltungen vor der Residenz des Premierministers organisierte. Angesichts der Lethargie, mit der die japanische Bevölkerung ansonsten auf nationalpolitische Angelegenheiten reagiert, war das schon bemerkenswert. Während in Deutschland die Reaktionen auf die Fukushima-Katastrophe Kanzlerin Angela Merkel dazu bewogen, den Austritt aus der Atomkraft einzuleiten, konnten die Demonstrationen in Tokyo allerdings keinen Politikwechsel erreichen. Unter anderem wegen des wenig kompetenten Krisenmanagements des Kabinetts von Premierminister Naoto Kan erlitt die sozialdemokratische Partei, die zur Zeit des Unglücks die Regierung stellte, bei den folgenden Wahlen eine Niederlage. Die rechtsliberale LDP, die daraufhin wieder an die Macht kam, beschloss die Fortführung der Energieversorgung mittels Atomkraft.
2013 formulierte Koki Tanaka das Precarious Task #7 mit dem Wortlaut: Try to keep conscious about a specific social issue, in this case ›anti-nuke‹, as long as possible while you are wearing yellow color. Er präsentierte diese Instruktion als Überarbeitung eines instruction art piece von Jirô Takamatsu aus dem Jahr 1974 mit dem Titel Remark 5 – dort lautete die Anweisung: Try to repeat the content of a specific consciousness as many times as possible. Die Vorstellung des task erfolgte im Zusammenhang mit einer Aktion, die am 30. August 2013 in einer Galerie in Meguro, im Zentrum von Tokyo, stattfand. Tanaka legte reichlich gelben Stoff aus, dazu Scheren und Sicherheitsnadeln, so dass Besucher:innen sich gelbe Kleidungsstücke schneidern und sie anziehen konnten. Er schaltete außerdem das elektrische Licht und die Klimaanlage ab, wodurch es extrem heiß wurde (die Temperatur draußen betrug an dem Tag 36 Grad). Nach Einbruch der Dunkelheit entzündete er Kerzen. »The project ran until midnight, but because of the heat I had to lie down for an hour’s rest. Having embarked upon a political action and reconsideration of art history, the bodily response of sweating was ultimately what remained«,21 schreibt der Künstler in einer Notiz dazu.
Anders als Pietroiusti drängte Tanaka mit der Aktion nicht hinaus auf die Straße, und außer freien Getränken und einem Kunst-Event lockte auch nichts Leute in den Galerieraum hinein. Insofern hatte dieser Aktionstag keinen Interventionscharakter. Die Arbeit will aber dem Intervenieren zur Hilfe kommen. Zum einen erlaubt die politische Aufladung der gelben Kleidung durch die Assoziation mit einer Anti-Atomkraft-Haltung auch denjenigen, die keine Zeit oder Kraft oder Lust haben, an den Freitagsprotesten und anderen Demonstrationen teilzunehmen, sich selbst und anderen gegenüber ihre Partizipation zu bekunden. Es geht um die räumliche und zeitliche Erweiterung der politischen Intervention – darum, eine merkbare, materiell-symbolische Verbindung zu schaffen zwischen direkter Teilnahme und dem, was Kant »Theilnehmung dem Wunsche nach«22 nannte: ein Bindeglied zwischen Aktivismus und Publikum.
Zum anderen wendet die Arbeit, indem sie Takamatsus Remark aufgreift, sich der Schwierigkeit zu, dem aktivistischen Intervenieren eine Ausdauer zu organisieren. Da weitere spektakulär katastrophale Ereignisse ausblieben, ebbte die journalistische Berichterstattung über Fukushima nach einigen Monaten ab. Man hätte jede Woche melden können, dass wieder Millionen Liter strahlungsbelastetes Kühlwasser ins Meer gepumpt worden waren, Zehntausende zwangsevakuierter Anwohner:innen nach wie vor in Blechbaracken lebten; aber Nachrichten sind per definitionem Neuigkeiten, nicht Wiederholungen des schon Berichteten, sodass die zivilen Initiativen das Wiederholen selber leisten mussten. Wie Fridays for Future setzten die Proteste auf die Kalenderwoche als Verstetigungsmuster und hofften darauf, etwas, das jeden Freitag stattfindet, werde sich besser im Gedächtnis halten. Tanaka fügt dem ein Zeichen bei, das Erinnerung ein Stück weit von Veranstaltungsroutinen emanzipiert: Wenn ich mir etwas Gelbes zum Anziehen geschneidert oder gekauft habe, wird dieses Kleidungsstück mich fortan an das politische Vorhaben gemahnen, an dem ich zu partizipieren begonnen hatte. Beim Öffnen der Schranktür leuchtet es zwischen den gedeckten Farben der Arbeits- und Alltagsklamotten. Das Leuchten lenkt mein Bewusstsein mindestens für einen Augenblick zurück zu der Einsicht, dass die Ruine von Fukushima Dai-ichi immer noch strahlt, durch den maroden Betonmantel in Tschernobyl immer mehr Strahlung sickert und all die ›intakten‹ Atomkraftwerke jedes Jahr Tausende von Tonnen radioaktiven Müll produzieren, der Hunderttausende von Jahren hochgefährlich sein wird, ohne dass es bislang auch nur einen überzeugenden Lösungsansatz dafür gibt, was damit geschehen soll.
Wahrscheinlich schließe ich die Tür, nachdem ich etwas in gedeckten Farben herausgeholt habe, und vergesse den Vorsatz, wieder aktiver an politischen Aktionen teilzunehmen, schon beim Anziehen erneut. »Try to repeat … as many times as possible« heißt es bei Takamatsu, »as long as possible« bei Tanaka. Die Möglichkeit der Wiederholung hat ihre Grenze am Vergessen, und Strategien des Wiederholens müssen diese Grenze anerkennen – ja, sie sollten mit den Zerstreuungen durchs Vergessen kooperieren, um sich nicht in Gesten ethischer Repression zu verpulvern. Das Vergessen hält die Überraschung wach. Solange Gelbes im Schrank hängt, überrascht mich täglich eine Reminiszenz, und dieses Aufflackern einer Entschlossenheit anlässlich einer kleinen Entscheidung, die man jeden Tag trifft, teilt etwas über die von Alain Badiou geforderte »Treue zum Ereignis«23 mit, denn es erinnert vor allem auch daran, dass der Treueprozess nicht in einem sturen Durchhalten, einem (Sich-)Festhalten am objektiv Notwendigen besteht, sondern zugleich eine unentwegte Subjektivierung des Zusammenhangs verlangt. Mein politisches Handeln wird nicht zuletzt das gewesen sein, was durch die Jahre und Jahrzehnte ein verblassendes Gelb reflektiert – vielleicht selbst verblassend, vielleicht aber auch mit einer stetig oder irgendwann jäh steigenden Intensität. Dieses offene Verhältnis zur Kraft, das die Schwächen von Individualität und Kollektivität ebenso ins Spiel bringt wie die Stärken, charakterisiert die Precarious Tasks. Koki Tanakas Beitrag zur kollektiven Selbstorganisation zivilen politischen Engagements mit Try to keep conscious… ist bescheiden und die Idee so schlicht, dass man sie ohne Weiteres kopieren kann oder auch weiterentwickeln (das gilt für viele seiner Arbeiten24). Einem Kleidungsstück eine Art häusliche, ökonomische agency zu verleihen, übersetzt die Ausdauer selbst in eine Kette von Interventionen. Intervention mit Serialisierung und Verkettung zusammenzudenken gehört zum Bedenkens- und Beherzigenswerten an Tanakas Vorschlag.
1Dazu ausführlicher: Eikels, Kai van: »Ring down the curtain! Hercule Poirots letzter Fall und die Politik des Vorhangs«, in: Brandstetter, Gabriele/Peters, Sibylle (Hrsg.): Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste. Freiburg i. Br. 2008, S. 127 – 145.
2Erklären tritt in eine komplexe Kontemporalität mit den Maßnahmen, ihrem Beschluss und ihrer Durchführung. Auch die massiv militärische Intervention bleibt ohne Kriegserklärung, die ihren Anfang markierte; an deren Stelle rückt das Ultimatum. Vgl. dazu Eikels, Kai van: »Die Zeit des Ultimatums. Souveränität, neue Figuren des Anderen, Terrorismus und Weltpolizei«, in: lettre international, Winter 2003, S. 27 – 30.
3Ein Begriff, den Jacques Rancière in zahlreichen Veröffentlichungen entwickelt hat. Vgl. u. a. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006.
4Vgl. zur Delegation ans Medium Diederichsen, Diedrich: Körpertreffer. Zur Ästhetik der nachpopulären Künste, Frankfurt a. M. 2017.
5Zu Ukeles’ Arbeit siehe u. a. Jackson, Shannon: Social Works: Performing Arts, Supporting Publics, New York und London 2011, S. 75 – 103; Baraitser, Lisa: Enduring Time, London u. a. 2017, S. 47 – 68; Buchmann, Sabeth/Eikels, Kai van: »Im Körper von Kuratierten – ›You should always have a product that’s not you‹«, in: Netzwerk Kunst + Arbeit: Art works. Ästhetik des Postfordismus, Berlin 2015, S. 165 – 204.
6Ukeles, Mierle Laderman: Manifesto for Maintenance Art 1969! Proposal for an Exhibition ›Care‹, https://www.queensmuseum.org/wp-content/uploads/2016/04/Ukeles_MANIFESTO.pdf (Zugriff am 6. Mai 2021).
7Bei Lacan steppt die Kastration, der Einschnitt des Symbolischen, ein Signifikat ab, sorgt also dafür, dass Materie so erscheint, als liege sie in Form bedeutungsträchtiger Einheiten vor. Zum »Steppunkt (point de capiton)« siehe Evans, Dylan: An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, London 2002, S. 286 – 287.
8nonfunctionalthought: »Pensiero unico (2003)«, auf: https://www.youtube.com/watch?v=glK3CyhyYCg, 22. Oktober 2008 (Zugriff am 6. Mai 2021).
9Die Zeilen lauten »Giovinezza, giovinezza, primavera di bellezza« (»Jugend, Jugend, Frühling der Schönheit«) und »Vincere, vincere, vincere, e vinceremo in cielo, in terra e in mare. È la parola d’ordine, una suprema volontà« (»Siegen, siegen, siegen, und wir werden siegen am Himmel, auf der Erde und im Meer. Es ist das Wort unserer Ehre, ein höchster Wille«). Mussolini sang Vincere bei einem öffentlichen Auftritt; manche halten ihn bis heute irrtümlich für den Autor des Liedes.
10So bei einem Podiumsgespräch mit Kathy Halbreich anlässlich der Eröffnung seiner Ausstellung »Paul Chan – Selected Works« im Schaulager Basel am 12. September 2014.
11Klein, Naomi: The Shock Doctrine: The Rise of Disaster Capitalism, New York u. a. 2008.
12Zu diesem Projekt siehe u. a. Jackson, Shannon: Social Works (s. Anm. 5), S. 210 – 238; und das Statement von Hans-Thies Lehmann zu Heimspiel 2011 »Get Down and Party. Together – Partizipation in der Kunst seit den Neunzigern«, https://www.yumpu.com/de/document/read/21257393/statement-von-hans-thies-leh-mann-heimspiel-2011 (Zugriff am 6. Mai 2021).
13Pasternak, Anne: »Foreword«, in: Chan, Paul (Hrsg.): Waiting for Godot in New Orleans: A Field Guide, New York 2011, o. S.
14Chan, Paul: »Waiting for Godot in New Orleans. An Artist Statement«, in: Chan, Paul (Hrsg.): Waiting for Godot in New Orleans: A Field Guide, New York 2011, S. 25 – 37, hier S. 25.
15Ebd., S. 26.
16Siehe dazu Sontag, Susan: »Godot Comes to Sarajevo«, in The New York Review of Books, Ausgabe vom 21. Oktober 1993, https://www.nybooks.com/articles/1993/10/21/godot-comes-to-sarajevo (Zugriff am 6.5.2021).
17Den Vladimir spielt Wendell Pierce, der auch in der Rolle des Posaunisten Antoine Batiste in der HBO-Serie Treme mitwirkt, einer halbdokumentarischen Auseinandersetzung mit der Krisensituation in den betroffenen Vierteln von New Orleans (Buch und Regie: David Simon, der mit The Wire bekannt wurde). Durch diese Koinzidenz kommt die Waiting for Godot-Aufführung, die Paul Chan einkauft und für die Straßenkreuzung in New Orleans arrangieren lässt, auch in der dritten Staffel von Treme vor (Episode III. 4, »The Greatest Love«).
18Kroeber, »Gavin: Producing Waiting for Godot in New Orleans«, in: Waiting for Godot in New Orleans, S. 138 – 151, hier S. 146f.
19Siehe Anm. 10.
20Vgl. u. a. Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I (1954 – 1964), München 2000, S. 218 – 221; dazu Eikels, Kai van: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Paderborn 2013, S. 19 – 66.
21Siehe Koki Tanaka Studio, http://www.kktnk.com/projects/comprehensive_pdf_files/kt_v1_011915.pdf (Zugriff am 6. Mai 2021).
22Kant, Immanuel, Der Streit der Fakultäten, Akademie-Ausgabe Bd. VII, Berlin 2000, A 144, S. 85.
23Siehe u.a. Badiou, Alain: Das Sein und das Ereignis, Berlin, Zürich 2005, S. 263.
24Vgl. zu einer anderen Serie Tanakas: Eikels, Kai van: »Zustände ohne Zuständigkeit. Synchronisierung, Kooperation, kollektiver rhythmos bei Koki Tanaka«, in: Linsenmeier, Maximilian/Seibel, Sven (Hrsg.): Gruppieren, Interferieren, Zirkulieren. Zur Ökologie künstlerischer Praktiken in Medienkulturen der Gegenwart, Bielefeld 2019, S. 37 – 68.