Zwischen Impfung, Screen und Bühne
Der Entstehungskontext des Sammelbandes „Im Fokus: Freies Kinder- und Jugendtheater. Studien zur Situation 2017–2022“
von Geza Georg Adasz, Valerie Eichmann und Stefanie Fischer
Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater
Um die schwerwiegenden Folgen der Einschränkungen und Lockdowns in der COVID-19-Pandemie abzufedern, stellte die Bundesregierung mit der NEUSTART KULTUR-Förderung einen beispiellosen Rettungsschirm bereit: Zwei Milliarden Euro wurden für den Erhalt der Kunst- und Kulturlandschaft in Deutschland bewilligt. Rund 21 Millionen Euro davon waren exklusiv den Freien Darstellenden Künsten für junges Publikum gewidmet. Für viele Freie Theater waren diese Fördergelder existenzsichernd. Schulen und Kitas, die nicht nur Zielgruppen, sondern für mobile Bühnen auch Vorstellungsorte sind, waren auch 2021, als erste Lockerungen ein kulturelles Leben allmählich wieder zuließen, noch lange von strikten Auflagen zum Infektionsschutz wie klassenweiser Quarantäne und Homeschooling betroffen. Zudem hatten viele Lehrkräfte nicht die Kapazitäten, außerunterrichtliche Aktivitäten zu planen, oder wurden von den Unwägbarkeiten dieser Zeit daran gehindert. Weiterhin waren Familien stark belastet durch die Herausforderung, Homeoffice und Homeschooling miteinander zu verbinden und standen unter psychischem Druck, etwa durch die Angst vor Ansteckung, durch finanzielle Sorgen aufgrund von Kurzarbeit, anschwellenden Energiepreisen und Inflation. All diese Faktoren beschnitten die Kulturellen Teilhabemöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie gravierend.
Die Förderung NEUSTART KULTUR – Junges Publikum hatte zum Ziel, die Freien Kinder- und Jugendtheater bei der Bewältigung dieser Herausforderungen zu unterstützen und so die Kulturellen Teilhabemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche während und auch nach der Pandemie zu sichern. Gefördert wurde in drei Modulen:1
. Modul A umfasste den Erhalt des Spielbetriebs für Theater mit eigener Spielstätte
. Modul B förderte Gastspiele beispielsweise von mobilen Theatern
. In Modul C wurden Projekte zur Publikumsgewinnung und -entwicklung gefördert.
Die ASSITEJ hat als Fachverband der Darstellenden Künste für junges Publikum die Weiterleitung der Fördergelder an die Freien Kinder- und Jugendtheater bei der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien (BKM) beantragt und ist seit März 2021 hierfür zuständig. Damit lag auch die Bearbeitung aller Förderanträge und Verwendungsnachweise bei der ASSITEJ. So entstand im Rahmen der Realisierung des Förderprogramms eine in ihrer Tiefe einmalige Datenbasis, die erstmals Einblick in die betriebswirtschaftliche Struktur der Freien Kinder- und Jugendtheater gibt. Zusammen mit einer qualitativen Interviewbefragung geförderter Freier Kinder- und Jugendtheater durch das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) erscheint nun herausgegeben von der ASSITEJ mit Im Fokus: Freies Kinder- und Jugendtheater. Studien zur Situation 2017–2022 ein Sammelband, der auf Basis der durch die Förderung erhobenen Daten empirische Einblicke in die Arbeitsrealität und Struktur der Freien Kinder- und Jugendtheater in Deutschland gibt. Ein Beispiel:
Da in den Modulen A und B nur der Erhalt des bisherigen Spielbetriebs gefördert werden konnte und nicht etwa eine Ausweitung oder Steigerung der Vorstellungsanzahl, können die beantragten Fördersummen in Höhe von rund 16 Millionen Euro (Modul A: 6 258 327,24 Euro, Modul B: 9 864 124,36 Euro) als Richtwert für die Ausgaben für künstlerisches Personal der Theater in Vor-Corona-Jahren gelesen werden.* Bezogen auf die Gesamtzahl der betrachteten Theater ergibt das eine durchschnittliche Budgethöhe je Theater von nur knapp 60 000 Euro jährlich. Nicht-künstlerische Kosten für etwa Verwaltung, Technik und Infrastruktur sind an dieser Stelle noch nicht mitgerechnet. Es drängt sich daher an dieser Stelle die Frage auf: Wie realisieren die Freien Kinder- und Jugendtheater damit ihren Spielbetrieb?
In den nachfolgenden Beiträgen wird diesem wie nachgegangen. Dazu werden die Ergebnisse der zwei oben genannten Studien vorgestellt und im Kontext aktueller kulturpolitischer Debatten beleuchtet. Gemeinsam mit anderen Autor*innen und dem Fachbeirat, der die Entstehung von Im Fokus: Freies Kinder- und Jugendtheater. Studien zur Situation 2017–2022 begleitet hat, werden Tendenzen, Hypothesen und auch Handlungsempfehlungen für Politik und Verwaltung in den folgenden Beiträgen dargelegt. Das Ziel ist, nicht nur eine Deskription des aktuellen Zustands zu geben, sondern auch Anstoß für Veränderungsprozesse zu liefern.
Wenn über Kunst, Kultur und Kulturelle Bildung gesprochen wird, wird meist schnell auf die Bedeutung solch meritorischer Güter für eine Gesellschaft verwiesen:** Kunst und Kultur bieten der Gesellschaft einen Mehrwert, indem sie beispielsweise zur Reflexion anregen, zum Perspektivwechsel einladen oder identitätsstiftend wirken können. Sie tragen so zu einer Verbesserung unseres gesellschaftlichen Lebens und Seins bei, weswegen sie öffentlich gefördert werden sollen. Die Darstellenden Künste für junges Publikum richten sich in diesem Sinne speziell an Kinder und Jugendliche, um ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe an Kunst und Kultur zu ermöglichen.
Diese Aufgabe findet breiten gesellschaftlichen Zuspruch. So sehen beispielsweise 89 Prozent der Bevölkerung die Aufgabe der Stadt- und Staatstheater darin, ein Programm für Kinder- und Jugendliche anzubieten.2 Freie Theater unterstützen diesen gesellschaftlichen Willen und fungieren als wichtiger Pfeiler für die kulturelle Grundversorgung in der Fläche neben den staatlich geförderten Theatern. Sie müssen daher gleichwertig behandelt und in ihrer individuellen Form strukturell gestärkt werden, um das bestehende kulturelle Angebot für junges Publikum zu erhalten und idealerweise noch zugänglicher, diverser und nachhaltiger zu machen. Betriebswirtschaftliche Rentabilitätsansprüche können und sollten daher an die Freien Kinder- und Jugendtheater ebenso wenig angelegt werden wie an öffentlich subventionierte Theater.
Dennoch ist es wichtig, die Struktur und den Status Quo empirisch zu erfassen, um eine möglichst transparente Grundlage für kulturpolitische Entscheidungen zu schaffen. Bis auf wenige allgemeine Zahlen, wie sie beispielsweise das Statistische Bundesamt im Spartenbericht Darstellende Kunst zusammenträgt, bleiben aber die Kennzahlen zu Aufführungszahlen, Personalkosten, Einnahmen und Ähnlichem der Freien Theater überwiegend privatrechtliche Geheimnisse. Daraus folgt, dass sich die Kulturpolitik in einem Dilemma wiederfindet: Obwohl die Arbeit der Freien Theater im Allgemeinen Anerkennung findet, gibt es keine konsistente, vergleichbare quantitative Erhebung zum Betrieb aller Freien Theater in Deutschland, wie es beispielsweise die Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins ist. Für Freie Theater, ihre Künstler*innen und ihre Vertreter*innen ist es folglich schwerer, im Gespräch mit potenziellen Förderern ihre Bedarfe fundiert darzulegen, sodass die Entwicklung passgenauer Förderprogramme gut gelingt.
Im Fokus: Freies Kinder- und Jugendtheater. Studien zur Situation 2017–2022 bezieht sich daher vorrangig auf finanzielle und damit zusammenhängende soziale Aspekte des Freien Kinder- und Jugendtheaters, um dazu beizutragen, diese Lücke zu schließen, wohl wissend, dass Kunst und Kultur nicht in wirtschaftlichen Maßstäben allein betrachtet und gemessen werden kann.
Eine für alle? Was die neue Studie der ASSITEJ für alle Kinder- und Jugendtheater bedeuten kann
Jedes Jahr gibt der Deutsche Bühnenverein die Theaterstatistik mit zentralen Wirtschaftsdaten der öffentlich geförderten Theater, Orchester und Festspiele heraus. Hierin sind alle öffentlichen Theaterunternehmen, Spielstätten und Theaterfestivals in vergleichbarer Weise gelistet. Diese Auswertung von Kennzahlen über den Spielbetrieb erscheint seit Jahrzehnten konstant und ist ein wichtiges Instrument der kulturpolitischen Lobbyarbeit. Weiterhin kam 2018 mit der Studie Kunst und Macht im Theater von Thomas Schmidt eine repräsentative und aufmerksamkeiterregende Analyse der Arbeitsbedingungen an öffentlichen Theatern heraus. Die Freien Theater mit ihren fluiden und multidimensionalen Produktionszusammenschlüssen sind hingegen nur schwer zu erfassen, sodass es nur wenig repräsentatives Material gibt. Der Fonds Darstellende Künste hat mit dem Report Darstellende Künste – Wirtschaftliche, soziale und arbeitsrechtliche Lage der Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland (2010) ein zentrales Kompendium über die sozioökonomische Situation der Theaterschaffenden herausgebracht, das den Finger in die Wunde der prekären Arbeitsverhältnisse in der deutschen Theaterlandschaft legt. Der Systemcheck des Bundesverbands Freie Darstellende Künste schließt hier seit 2021 mit Fokus auf die Freie Theaterlandschaft und ihrer sozialen Absicherung an. Dies sind nur einige Beispiele für empirische Erhebungen, die wesentlich dazu beitragen, die Interessen von Künstler*innen vor der Politik zu vertreten.
Einen dezidierten Blick auf das Theater für junges Publikum vermisst man darin jedoch und so ist die 2017 von der ASSITEJ herausgegebene Publikation Zur Lage des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland die erste Studie, die die Struktur und Arbeitsweisen dieser Theater untersucht. Der Fokus liegt hierbei auf den grundsätzlichen Fragen: Wer, wo und wie ist die Kinder- und Jugendtheaterlandschaft? Dabei wurden öffentliche wie Freie Theater betrachtet und der Umriss eines heterogenen Feldes gezeichnet.
Im Fokus: Freies Kinder- und Jugendtheater. Studien zur Situation 2017–2022 ist nun ein weiterer Schritt hin zu einer vertieften Auswertung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Freien Kinder- und Jugendtheater. Der Sammelband gibt erstmals Einblick in die Betriebsstruktur dieser Theater und betrachtet ein empfindliches System, dessen Netz aus Theatern mit eigener Spielstätte, Tourneetheatern, Solokünstler*innen, etc. wesentlich zur kulturellen Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen, besonders in ländlichen Räumen, beiträgt.
Dieses Netz agiert zum Großteil unter dem Radar der kulturpolitischen Wahrnehmung. Die neuen Studien der ASSITEJ sind damit nicht nur Evaluation eines Förderprogramms, sondern erfassen auch, welchen Beitrag die Freien Kinder- und Jugendtheater für die Kulturelle Teilhabe, Bildung und künstlerische Selbsterforschung von jungen Menschen leisten. Ziel der Erhebungen ist es, Vertreter*innen und Engagierten für das Kinder- und Jugendtheater damit ein Instrument für ihre kultur- und bildungspolitische Arbeit zu geben, um die Darstellenden Künste für junges Publikum für die Zukunft zu stärken.
Die Herausforderungen, mit denen das Freie Kinder- und Jugendtheater umzugehen hat, wie Budgetknappheit, Zunahme administrativer und bürokratischer Arbeiten, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, faire Bezahlung und soziale Absicherung sind auch zutreffend für die Darstellenden Künste in den Stadt- und Staatstheatern. Auch wenn Kinder- und Jugendtheater programmatische wie strukturelle Besonderheiten im Vergleich zu Theatern für ein allgemeines Publikum aufweisen, sind die zu erarbeitenden Lösungen für die aktuellen Probleme produktions-, betriebs- und branchenübergreifend zu denken. Studien und Analysen, wie die hier besprochenen, helfen damit der gesamten Theaterlandschaft, da sie strukturelle Probleme, Leerstellen und mögliche Lösungen aufdecken. So sind die Ergebnisse der ASSITEJ-Studie zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Freien Kinder- und Jugendtheater auch für öffentlich geförderte Theater und ihre kulturpolitische Interessenvertretung relevant. Denn, und das wird auch in den Studien der ASSITEJ deutlich, öffentlich geförderte und Freie Kinder- und Jugendtheater müssen zusammen und nicht gegeneinander gedacht werden, wenn es um den Erhalt der kulturellen Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen geht.
* Laut Fördergrundsätzen durften nur künstlerische Personalkosten gefördert werden. Als Definitionskriterium für künstlerisches Personal wurde der Normalvertrag (NV) Bühne Solo des Deutschen Bühnenvereins herangezogen. Alle Beschäftigungsgruppen, die darin unter § 1 genannt werden, wurden als künstlerisches Personal anerkannt, unabhängig davon, ob eine Beschäftigung nach NV-Bühne-Tarif vorlag.
** Meritorische Güter haben einen Mehrwert für die Gesellschaft, etwa Bildung, öffentlicher Nahverkehr, Kunst und Ähnliches, deshalb werden sie vom Staat gefördert und geschützt.
1 Siehe ASSITEJ e.V.: Fördergrundsätze NEUSTART KULTUR – Junges Publikum, letzter Zugriff am 26. Juli 2023, https://www.jungespublikum.de/wp-content/uploads/2022/10/Foerdergrundsaetze_ASSITEJ_nl_2022_10_13-1.pdf.
2 Siehe Birgit Mandel: Theater in der Legitimitätskrise? Interesse, Nutzung und Einstellungen zu den staatlich geförderten Theatern in Deutschland – eine repräsentative Bevölkerungsbefragung. Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim, https://doi.org/10.18442/077, 2020.