Theater der Zeit

Vorwort

von Carena Schlewitt und Tobias Brenk

Erschienen in: Recherchen 110: Dokument, Fälschung, Wirklichkeit – Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater (04/2014)

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Im Jahre 1985 brachte die Gruppe zinnober in ihrem Laden am Kollwitzplatz in Ostberlin die Produktion traumhaft heraus, ein Stück, in dem die Spieler – heute würde man von Performern sprechen –, nachdem sie sich monatelang mit ihren Träumen beschäftigt hatten, ihr persönliches Dokument, den „Abdruck“ ihrer subjektiven Befindlichkeit einschließlich aller Ängste, wie sie für die DDR-Gesellschaft typisch waren, zur Aufführung brachten. Diese Art der Selbstbefragung, Selbstdokumentation war ein Novum. Im Kontext der damaligen Gesellschaft handelte es sich um einen Sprengstoff, der aus nichts anderem bestand als aus existenziellen Fragen des „inneren“ Überlebens.

Im Jahre 1987 machte in der Theaterwelt Ostberlins eine außergewöhnliche Rundfunkarbeit die Runde: Es handelte sich um den Untergang des Egoisten Fatzer von Bertolt Brecht in der Bearbeitung von Heiner Müller für den Rundfunk der DDR. Besetzt waren einige Spieler der Theatergruppe zinnober, Künstler wie Wolfgang Krause Zwieback, Autoren wie Jörg-Michael Koerbl, Regisseure wie Frank Castorf und schließlich Heiner Müller selbst. Gesprächsstoff war nicht nur die Tat - sache, dass der DDR-Sender das Fatzermaterial akzeptiert hatte, sondern man staunte auch über die ausgewählten Protagonisten. Es handelte sich zwar um Profis im Kunst- und Kulturbereich, doch im Rund - funkmedium waren sie Amateure, die dort zum ersten Mal auftraten. Es waren nicht die klassischen Schauspielstimmen zu hören, sondern Stimmen, deren Intonation zumindest in einigen Fällen nicht geschult war, in diesem Hörmedium angemessen zur Geltung zu kommen. Umso mehr interessierte man sich dafür, diesen anderen Stimmen zuzuhören und ihren Gestus, ihren Charakter, ihre speziellen Stimmlagen, Dialekte und Betonungen im Medium des Fatzermaterials zusammenzubringen.

Ab Mitte der 1990er Jahre machten Stücke wie Boxerinnen von Gudrun Herbold, Q&A – Questions & Answers (zum Eichmann-Prozess) und Camera Silens von Hans-Werner Kroesinger oder die ersten Arbeiten von She She Pop, Trust: Schließlich ist es Ihr Geld und She She Pop: Live, von showcase beat le mot Radar, Radar, nichts ist egal, von Stefan Kaegi/Bernd Ernst Kirchner und von Haug/Kaegi/Wetzel Kreuzworträtsel Boxenstopp deutlich, dass sich – zunächst in der freien Szene – ein grundsätzlicher Umbruch in der Frage des Materials und in der theatralen Umsetzung dieses Materials anbahnte.

Die Vorboten eines dokumentarischen Theaters, dessen Terminus wir hier bewusst weit fassen, erinnerten zwar partiell an Theaterformen der 1960er Jahre (Peter Weiss, Heinar Kipphardt), auf die man sich auch durchaus bewusst bezog, doch zugleich handelte es sich um einen komplett neuen, stark erweiterten und vergrößerten Ansatz. Die Gründe, weshalb es zu einer neuen „Welle“ dokumentarisch operierender Theaterformen kam, sind vielseitig. Sie fußen zum einen in einer „Krise der Repräsentation“, welche die Künste und insbesondere das Theater nach 1989 befallen und zugleich befruchtet hat. Nach 1989 und den damit einhergehenden gesellschaftlich-politischen Umwälzungen sah sich das dramatische, am historischen Kanon orientierte Theater vor die Aufgabe gestellt, dem Auseinanderbrechen eindeutiger (geo-)politischer Positionen und Identitäten Rechnung zu tragen. Die Dekonstruktion eines mit sich identischen Subjekts, wie es das Schauspiel vielerorts noch repräsentierte, erreichte nun zwangsläufig auch die deutschsprachigen Bühnen. Ein Weitererzählen der immer wieder erzählten Dramen war nicht mehr einfach zu legitimieren, insbesondere nicht für jene nachkommende Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die zu dieser Zeit im Begriff waren, ihre Formen und Bühnensprachen zu entwickeln.

Fast könnte man davon sprechen, dass ein neues Genre aus der Taufe gehoben wurde. Generell haben Veränderungen in der Ausbildungsstruktur von Theaterausbildungsstätten wie Gießen und später Hildesheim und nachfolgend anderen theater- und kulturwissenschaftlichen Instituten dazu beigetragen, bewusst die Entwicklung neuer Theaterformen zu fördern. Als Beispiel sei hier das 1982 von Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann gegründete Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen genannt, in dem nach Theaterformen jenseits der Dramatik und jenseits des Schauspiels geforscht wird. Berühmt wurde Wirths Direktive, sich ein Theater „ohne Schauspieler“ vorzustellen.

Die Abwesenheit von Schauspielern zwang die Studenten von Beginn an zu einem Austesten anderer darstellerischer Mittel und Stoffe. Wo die klassische Regie- oder Schauspielausbildung in die Inszenierung von meist überlieferten Stücken mündete, erzwang bzw. ermöglichte die Gießener Struktur die Erfindung neuer Texte und Formen. Hier wurde früh u. a. mit dokumentarischem Material experimentiert; Stücke wurden auf der Basis von eigens gesammeltem Interview-Material entwickelt; die Studenten nutzten als Performer ihre eigenen Biografien als Material. Das Theater von Rimini Protokoll, das gänzlich ohne Schauspieler und ohne dramatische Texte funktionieren kann, wurzelt in den Strukturen der Probebühne Gießen. Künstler, Dramaturgen, Kuratoren und Kritiker waren sich einig, dass dies die neue Form ist, der kom - plexen Wirklichkeit einer international, interdisziplinär und global neuen Welt gerecht werden und so auch ein nachwachsendes und zukünftiges Theaterpublikum gewinnen zu können. Die Gruppe Rimini Protokoll und deren Arbeit mit „Experten des Alltags“ wurde zu der Marke dieses neuen Theatergenres. Unermüdlich machen sie immer wieder neue Orte, Themen und Szenarien ausfindig, mit deren Hilfe sie auf der Bühne aus den verschiedensten Puzzleteilen ein Panoramabild unserer Zeit erstellen.

Nach der ersten Euphorie für eine neue Realität auf der Bühne zeigte sich, dass die Fülle der Produktionen, die heute mit dem Material, der Form und der Methode des neuen Genres arbeiten, noch kein neues Theater begründen, das etwa mit den Durchbrüchen früherer Innovationen wie des Theaters des Sturm und Drang, des Naturalismus, des Epischen Theaters Brechts verglichen werden könnte. Oder doch? Selbst die Bezeichnungen für dieses Theater, die sich seit den 1990er Jahren mit jeweils fließenden Übergängen durchgesetzt haben, wie etwa Live Art, Poptheater, Medientheater oder Dokumentartheater, zeigen, dass sich eine eindeutig wiedererkennbare Form noch nicht herausgebildet hat. Aber das muss kein Nachteil sein.

Ein wichtiger, nicht wegzudenkender Faktor in der Förderung der neuen Theaterformen ist sicher auch die zunehmende Professionalisierung in der freien deutschsprachigen Theaterszene durch die Vernetzung verschiedener Produktionshäuser wie dem TAT oder dem Mousonturm (Frankfurt/M.), Kampnagel (Hamburg), Podewil Berlin (bis zu seiner Umwandlung), HAU (Berlin), sophiensaele (Berlin), FFT (Düsseldorf), Gessnerallee (Zürich) und vielen anderen, auch kleineren Häusern sowie Festivals. Sie ermöglichten das Etablieren neuer Theaterformen, wie es zuvor nicht denkbar war. Hierbei spielte zweifelsohne das Berliner HAU die Rolle des Hauptkatalysators, dessen Team 2003 mit einer „hysterischen Sucht nach Wirklichkeit“ (Matthias Lilienthal) angetreten war und die drei Bühnen des HAU zum Zentrum für neue Theaterformen machte, von welchen die dokumentarische Form sicherlich die von der Öffentlichkeit am meisten beachtete war. Die Vernetzung der Produktionshäuser ermöglichte einen verdichteten Austausch (und eine gegenseitige Beobachtung) unter Künstlern, Kuratoren und Rezipienten, der die kommunikative Basis des sogenannten „Doku-Trends“ bildete und bildet.

In Gesprächen mit dem Regisseur Boris Nikitin, der Fragen des Verhältnisses von Realität, Dokument und Fake in seinen Arbeiten dezidiert behandelt, sind wir auf die Frage gestoßen, welchen Unterschied es macht, klassische oder gegenwärtige Stücktexte zu sprechen, die eigene Biografie als Alltagsspezialist, sei es als Boxer, als Busfahrer oder als Banker auf der Bühne zu präsentieren oder als Schauspieler aufzutreten, der selber ein Alltagsspezialist ist. Stellt auch das dokumentarische Theater Illusionen her und fallen diese dort vielleicht viel weniger auf als in der Inszenierung literarischer Texte? Welche Übersetzungsleistungen durch Künstler, Alltagsspezialisten und Zuschauer finden in welcher Theaterform an welchen Nahtstellen statt? Welche Rollen spielen jeweils der Text, die Bühne und die allabendliche Begegnung mit dem Publikum? Mit jeder Frage, die wir stellten, tauchten zehn neue Fragen auf. Schließlich schlug Nikitin vor, eine Dokumentartheaterwoche mit Symposium zu konzipieren, um wenigstens einen Teil dieser Fragen mit anderen Künstlern, Wissenschaftlern und dem Publikum diskutieren zu können.

Der vorliegende Materialband fasst die Dokumentartheatertage Basel, It’s the real thing, mit Textbeiträgen von Künstlern und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zusammen, ergänzt durch weitere Autorenbeiträge, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, sowie durch Dokumente und Fotos. Wir begreifen diesen Materialband als einen Schritt unter vielen, die erforderlich sind, um das, was wir in unserer täglichen Theaterarbeit tun, ein wenig zu reflektieren.

Wir bedanken uns ausdrücklich bei Boris Nikitin, der unermüdlich unsere gemeinsame Fragestellung vorantrieb, seine Künstlerkollegen einlud, ihre Arbeiten zu zeigen, und Wissenschaftler bat, nicht nur aus der Theaterperspektive über das Thema Realität, Fake und Dokument nachzudenken. Und wir danken dem Publikum, das uns bei diesem durchaus sperrigen Experiment geduldig und kenntnisreich begleitet hat.

 

Carena Schlewitt & Tobias Brenk

Basel, Januar 2014

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