Thema: Theater und Religion
Das entleerte Heilige
Über die Nähe des Theaters zum religiösen Ritual
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Nüchterner Rausch – Der Schauspieler Steven Scharf (04/2013)
Assoziationen: Wissenschaft
Das Theater geht vom Mythos aus“, lautet eine Notiz Bertolt Brechts, die man in zwei Richtungen entfalten kann. Dass das Theater vom Mythos ausgeht, bedeutet, dass es den Mythos voraussetzt. Es kann aber auch heißen, dass es nur dort Theater ist, wo es den Mythos bereits hinter sich gelassen hat. Das Theater steht demnach in einem sehr eigentümlichen Verhältnis zu mythischen Formen, etwa zu Festen und Ritualen: Diese mögen zwar nicht vom Theater zu trennen sein, aber zugleich ist ihre Geltung mit ihm bereits eingeschränkt, wenn nicht erloschen.
Nun muss man sehr genau zwischen Mythos und Religion und dann noch einmal zwischen den einzelnen Religionen unterscheiden. Vielleicht darf man aber dennoch die Behauptung wagen, dass die großen Schwellenzeiten des Theaters – die Zeiten also, in denen das Theater sich neu entworfen hat – immer wieder mit einem „Ausgehen vom Mythos“ zu tun hatten (oder haben). Denn es waren tatsächlich immer wieder mythische und/oder religiöse Formen und Rituale, die das Theater in seinen Neuformulierungen gleichermaßen vorausgesetzt wie verlassen hat. Zuerst mag man hier an die antike Tragödie denken, die sich am Ort eines entleerten Heiligen einrichtete. Dasselbe gilt aber auch, unter christlich gewandelten Bedingungen, für die frühe Neuzeit: Dass die Theater im 17. Jahrhundert in dunkle Innenräume einzogen, die noch heute unser Verständnis der Bühnenanlage prägen, und dass sie dabei zugleich eine gigantische Darstellungsvertikale entdeckten, auf der zwischen Schnürboden und Unterbühne unzählige Himmels- und Höllenwesen auf- und abfahren durften, war eine unmittelbare Reaktion auf den Rückzug des christlichen Gottes – Walter Benjamin hat diesen Vorgang in seiner Suche nach dem „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ auf die Formeln des „Ausfalls aller Eschatologie“ und der „Immanentwerdung der Welt“ gebracht.
Dabei sah Benjamin im Barockzeitalter einen engen Verwandten seiner eigenen Epoche, der großen Krise des frühen 20. Jahrhunderts, zugleich eine weitere „Schwellenzeit“ des Theaters. Und in diesem Kontext kann es wiederum nicht verwundern, dass ausgerechnet die entschiedensten Theateratheisten der letzten hundert Jahre immer wieder von religiösen Formen „ausgingen“, sich in besonderer Weise an ihnen abgearbeitet haben. Wie groß etwa die äußeren Unterschiede zwischen Bertolt Brecht, Einar Schleef und Christoph Schlingensief sein mögen – was sie verbindet, ist die Tatsache, dass sie alle mit religiösen Ritualen nicht nur gearbeitet, sondern diese zum integralen Element je eigener politischer Ästhetiken gemacht haben. Dabei standen bei Brecht wie bei Schlingensief sicher christliche und vor allem katholische bzw. jesuitische Traditionen im Vordergrund. Aber auch Schleef hat sich keineswegs nur um die Neuerfindung der antiken Tragödie als einer Form bemüht, die jenseits der christlichen Geschichte liegt und sich sogar feindlich zu ihr verhält. Vielmehr hat er, etwa mit seinem Interesse an „Parsifal“ und am Abendmahl, auch nach chorischen Dimensionen des Christentums gefragt, deren genaues Verhältnis zum griechischen Chordenken nach wie vor zu klären wäre. Entscheidend ist, dass es in jedem einzelnen dieser Fälle niemals einfach um Parodien religiöser Praktiken ging, und schon gar nicht um ihre wohlfeile Kritik. Stattdessen stand immer die Frage im Vordergrund, ob in ihnen nicht auch ein „theologischer Glutkern“ (Walter Benjamin) verborgen liegt, emanzipative Potenziale, die von der Theologie selbst metaphysisch artikuliert und darum ideologisch verstellt wurden. Gibt es eine Möglichkeit, Gott abzuschaffen, aber den Gottesdienst beizubehalten? – So lautet darum eine der großen Fragen, die das Theater sich seit Beginn des letzten Jahrhunderts immer wieder stellt.
Aber was kann das konkret heißen? Worin könnte etwa das emanzipative Moment eines katholischen Gottesdienstes liegen? Vielleicht lässt sich eine Antwort am besten in den Extremen finden. So erinnert zum Beispiel ein besonders exzessives Ritual der katholischen Kirche, die Priesterweihe, nicht nur an die berüchtigte „Sterbelehre“ der Brecht’schen „Lehrstücke“, sondern auch – um einen weiteren Theateratheisten des 20. Jahrhunderts ins Spiel zu bringen – an das Theater der Grausamkeit Antonin Artauds. Im Zentrum des Vorgangs steht eine Selbstenteignung, wie man sie ähnlich aus der Szene „Die Auslöschung“ in Brechts „Maßnahme“ kennt: Zunächst müssen die Priesterkandidaten vor der versammelten Gemeinde erklären, alles hinter sich zu lassen und insbesondere die Bande zur eigenen Familie durchzuschneiden. Sie kappen also sämtliche Verbindungen nach draußen, ein Moment, den man als eine schreckliche, vielleicht sogar selbstmörderische Erfahrung völliger Freiheit lesen könnte – jedenfalls ist es kein Wunder, dass dies im Allgemeinen jener Augenblick ist, den Familien und Freunde der werdenden Priester am wenigsten ertragen. Als Nächstes müssen die Weihekandidaten sich dann flach und bäuchlings auf den Boden pressen; sie gehen damit körperlich in jenen Zustand über, den man, wieder mit Brecht, als „kleinste Größe“ bezeichnen könnte. Doch zugleich beginnt auch die Gemeinde in einem minutenlangen Wechselgesang, für die stumm auf dem Bauch Liegenden alle möglichen Heiligen anzurufen. Damit greift also der Chor ein, ein Moment, der eine weitere wichtige Einsicht erlaubt: Wer den Sprung wagt, die Familie (und alles andere) hinter sich zu lassen, der steht nicht einfach vor dem Nichts oder vor der „schwarzen Wand des Todes“ (wie das die Existenzialisten formulierten). Vielmehr wird er zum Element einer chorischen Konstellation oder Umgebung, ein Gedanke, der sich politisch wenden lässt. Denn es gehört – wie wiederum Schleef plastisch beschrieben hat – zu den großen Katastrophen der Neuzeit, dass sie die Zone jenseits familiärer Bindesysteme nicht mehr als chorische Zone begreift, sondern sie zum Reich der Einzelkämpfer und Ich-AGs gemacht hat: mit der Folge, dass die ortlos gewordenen Chöre regelmäßig in degenerierter Gestalt wieder auftauchen, zum Beispiel in Form von Drogengemeinschaften, deren Droge auch der Blutrausch sein kann.
Nun ist natürlich das Problem mit religiösen Formaten wie der Priesterweihe, dass hier die „Selbstentleerung“ wie auch das Eingreifen des Chores immer im Auftrag einer Institution erfolgen, die behauptet, einen direkten Draht nach oben zu haben. Diese Institution kann auch Partei oder Unternehmen heißen – in jedem Fall gerät man mit ihr in die Nähe terroristischer Vereinigungen. Dagegen besteht die wahre „Grausamkeit“ eines „Gottesdienstes ohne Gott“ darin, dass er niemanden kennt, in dessen Auftrag man sich enteignen und entleeren (lassen) könnte. Es geht hier also um etwas viel Schwierigeres: um eine Feier der eigenen Endlichkeit, bei der man ethische Imperative wie den nach einer Selbstrücknahme nicht darum auf sich nimmt, weil es einen allmächtigen Gott gibt, sondern weil es ihn nicht gibt. Ein wahrer Liebestod findet immer unter leerem Himmel statt … Ähnlich ließe sich vermutlich über die berühmte „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ nachdenken, mit der Schlingensief nach Bekanntwerden seiner Krebserkrankung sich selbst als „zukünftig Verstorbenen“ feierte.
Gerade dieses Beispiel zeigt aber auch, wie schwierig und zugleich erschreckend es ist, Gott abzuschaffen und dennoch am Gottesdienst festzuhalten. Das Gegenteil ist jedenfalls bequemer – wie man übrigens auch am jüngst erfolgten Rücktritt des Papstes sehen kann: Ausgerechnet Benedikt XVI. hat – denn das bedeutet die Aufgabe seines Amtes in Wirklichkeit – den Gottesdienst abgeschafft, um dabei unbeirrt an Gott festzuhalten. Wenn darum polnische Katholiken den Rücktritt mit der Begründung ablehnten, „Jesus sei doch auch nicht vom Kreuz gestiegen“, dann müsste es zu den Reflexen des Theaters gehören (sofern es kritisch sein möchte), nicht einfach die Unmenschlichkeit und Verblendung solcher „Hardliner“ anzuklagen. Vielmehr sollte es sich der Frage stellen, worin diese Stimmen recht haben. Es dürfte der einzige Weg sein, der Ideologie des Papsttums wirklich in die Quere zu kommen. //