Auftritt
Mannheim: Endlose Erschöpfung
Nationaltheater Mannheim: „Land ohne Worte“ von Dea Loher. Regie Dominic Friedel und Annemarie Brüntjen
von Björn Hayer
Erschienen in: Theater der Zeit: Vorwärts immer, rückwärts nimmer – Schwerpunkt Klassismus (02/2021)
Assoziationen: Nationaltheater Mannheim
Am Anfang war die tiefe Sehnsucht, nach den Körpern, die verschwunden waren. Jede Erinnerung an einen von ihnen gleicht nunmehr einem Ton, den Annemarie Brüntjen auf dem Flügel mal zart, mal wild anschlägt. Die Klänge verhallen in den geisterhaft leeren Rängen des Nationaltheaters Mannheim, das mit der One-Woman-Show „Land ohne Worte“ gewissermaßen sein eigenes Schicksal im Schatten der Corona-Pandemie reflektiert. Wonach Dea Lohers ursprünglich aus Erfahrungen einer Afghanistanreise entstandenes Stück fragt, ist die Bedeutung der Kunst in einer Zeit, die die Kultur längst aufgegeben hat. Wohl auch deswegen begegnet uns die Protagonistin auf der Bühne als eine Suchende. In einer verspielt-ironischen Magritte-Anspielung trägt sie ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Dies ist keine Malerin“, obwohl sie sich genau in eine solche hineinversetzt.
Wenn sie nicht gerade am Piano sitzt, verräumt sie Gegenstände auf der Bühne, philosophiert über die Schönheit und bringt sich als romantische Außenseiterin gegenüber der Mehrheitsgesellschaft in Stellung. Letztere sei ihr zufolge nur für das Bequeme und Reibungslose zu haben. Der gemeine Mensch präferiere kitschige Petunienbilder, wohingegen sie den „Tierkadaver mit Ameisen in einer Glasvitrine“, also den „veranschaulichten Lebenskreislauf“, wählen würde. Hierin kommt, wie eine der stets wechselnden Aufschriften auf der weißen Leinwand im Hintergrund dokumentiert, ihr „gegenentwurf“ zum Ausdruck. Statt nach verlogener Deko strebt sie nach dem Wahren und Unverstellten in der Kunst.
Dann folgt einer der vielen Cuts in diesem via Stream zu verfolgenden Abend. In der von Dominic Friedel und Annemarie Brüntjen entwickelten Inszenierung reiht sich eine thematische Szene an die nächste. Es verwundert daher auch kaum, dass die Aufführung ziemlich unvermittelt von makrokosmischen Fragen über die Funktion des Ästhetischen zu einer plakativen Auseinandersetzung mit dem Sinn des Theaters übergeht. In der Nahaufnahme fragt uns Brüntjen direkt, ob wir es vermissen und was wir damit verbinden würden. Derweil wechselt sie die Perspektive, begibt sich in den Zuschauerraum mit Blick auf die erleuchtete, aber leere Bühne. Damit sich all die Tristesse der entseelten Bühnenhäuser noch intensiver vermittelt, zitiert sie zudem frei nach Büchner: „Das All ist in Wunden, und wir spüren tiefen … Schmerz“ und „unendliche Einsamkeit“.
Obgleich die Grandezza der uns fesselnden Schauspielerin kaum zu überbieten ist, schleppt sich die Darbietung zäh dahin. Die spärlichen Einfälle der Regie wirken nicht selten abgedroschen, so etwa das altbekannte, mehrfache Heraustreten der Darstellerin aus der Rolle oder das omnipräsente Spiegelmotiv als Sinnbild für die Identitätsverunsicherung ihrer Figur. Deutlich zum Ausdruck kommt in diesen einfallslosen Gesten vor allem eines, nämlich der gänzliche Erschöpfungszustand der gegenwärtigen Theaterszene im Lockdown. Die Kreativität liegt am Boden, Motivation und Kraft sind dahin.
Lediglich das Ende vermag uns noch einmal aufzurütteln und mitzureißen. Nachdem sich Brüntjen in abstrakte und farbenfrohe Gemälde von Mark Rothko nicht nur eindenkt, sondern unmittelbar in deren Projektionen auf der Bühne eintritt, greift sie zum Mikrofon. Sie beginnt zu Max Richters Bearbeitung von Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ zu singen. Lediglich noch von der Leinwand belichtet, werden wir der Interpretin nun als Schattenfigur gewahr. Bilder sollen nur noch im Kopf entstehen und werden motiviert durch eine wunderschöne, sich allmählich immer weiter aufbauende Tonarchitektur. Synchron dazu erscheinen auf weißen Flächen Textstücke wie „das licht kurz bevor es explodiert“ oder „wenn ich falle werde ich weinen … vor glück“. Der Schlussakkord stellt die Flucht nach vorn dar, die impulsive Rettung des Selbst durch und in die Kunst aus Sprache, Musik und Bewegung. Von solcherlei energiegeladenen Volten hätte man sich in dieser sprunghaften Inszenierung noch mehr gewünscht, die auf tragische Weise bedeutungsarm bleibt. //