Magazin
Polens jüngster Klassiker
Zum Tod von Tadeusz Rózÿewicz
von Martin Linzer
Erschienen in: Theater der Zeit: Mirco Kreibich: Brüchiger Zeitspieler (06/2014)
Assoziationen: Dossier: Polen
In den 70er und 80er Jahren sind wir Theaterleute häufig nach Polen gereist, vor allem zu den Festivals in Warschau und Wrocław/Breslau, um zu studieren, wie unsere polnischen Freunde auf dem Theater mit der Realität umgehen. Zu hören war, dass man dort anders verfahre, als unsere sozialistischen Schriftgelehrten es empfahlen. Wir waren geil auf Mrozek und Rózewicz – wobei für uns schon erstaunlich war, wie selbstverständlich der nach Paris emigrierte Mrozek in seiner Heimat gefeiert wurde –, aber auch auf jüngere Autoren wie Iredynski oder Kajzar. Rózewicz aber war der polnischste von allen (die Landsleute nannten ihn ihren „jüngsten Klassiker“), und seine „Kartei“ in der Warschauer Inszenierung von 1973 (Regie Tadeusz Minc) mit dem großartigen Komiker Wojciech Siemion musste man einfach gesehen haben.
Wolfgang Kröplin, profunder Kenner des polnischen Theaters, beschreibt die Haltung der polnischen Autoren als „erfüllt von einer eigentümlichen, sehr produktiven Spannung zwischen wachem Nationalbewusstsein und selbstkritischer Haltung gegenüber der eigenen Befindlichkeit“. Rózewicz’ erstes, 1960 uraufgeführtes Stück „Die Kartei“ ist die Auseinandersetzung des „Helden“ mit seiner Vergangenheit, es ist kritische Rückschau auf ein Leben voll verpasster Möglichkeiten und falscher Entscheidungen. „Die Zeugen oder Unsere kleine Stabilisierung“ von 1962 kann auch gelesen werden als Parodie auf den real existierenden...