Quelle 22: Die Realität des niedrigsten Ranges
von Tadeusz Kantor
Erschienen in: Lektionen 7: Theater der Dinge – Puppen-, Figuren- und Objekttheater (10/2016)
SEIT EIN PAAR JAHREN GEHT DURCH DIE WELT DIE GROSSE WELLE DER KUNST „INFORMEL“.
Seit ihren Anfängen bin ich mit meiner Malerei dabei – die 50er, 60er Jahre. Die Entdeckung einer neuen, unbekannten Seite der Wirklichkeit, ihres elementaren Zustandes. Jener Zustand heißt:
die MATERIE,
die von keinen Gesetzen der Konstruktion regiert wird,
fließend, endlos,
den Begriff Form negierend,
FORMLOS; INFORMEL.
Sie offenbart sich in URGEWALTIGEN EXPLOSIONEN,
IN EINEM BIOLOGISCHEN VERFALL.
Den Einwirkungen der ZEIT ist sie unterworfen,
DER DESTRUKTION und
DEM ZUFALL.
DIE MATERIE,
die durch solche Aktivitäten
zum Vorschein kommt, wie:
ZUSAMMENPRESSEN, ZERREN, AUSBRENNEN, BEFLECKEN.
Die Materie,
in ihren verschiedenen Formen:
ALS KOT, ERDE, LEHM, SCHUTT, MODER, ASCHE.
Die Gegenstände an der Schwelle in den Zustand der Materie überzugehen – dies sind:
LUMPEN, LAPPEN, ALTES ZEUG, SCHARTEKEN, MORSCHE BÜCHER, MORSCHE HOLZBRETTER, ABFÄLLE, MÜLLHAUFEN.
Die emotionalen Zustände, die dem Zustand der Materie nah sind:
ERREGUNG, HIRNGESPINSTE, FIEBERHAFTE ERSCHEINUNGEN, HALLUZINATIONEN, KONVULSION, AGONIE,
WAHNSINN.
Der Sinn der Kunst „Informel“ wurde zu einer bewußten Erfüllung meiner tiefsten Wünsche
und zur Bestätigung einer ENTDECKUNG,
die ich zehn Jahre früher, 1944, in der Zeit meiner Jugend und in der Zeit völkermörderischen Krieges gemacht hatte, jener
Entdeckung, die ich mit einer manischen Hartnäckigkeit bis heute zurückfordere....