Reflexionen unauflösbarer Widersprüchlichkeit: No-Theater
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Nō basiert, ähnlich der attischen Tragödie, auf vorgeschriebenen, reflexiv-argumentativen Texten. Art und Strukturen seines reflexiv-argumentativen Handelns und der ausgestellten Widersprüchlichkeit sind allerdings wesentlich anders.166 Die japanische Gesellschaft, der historische Kontext, in dem sich Nō entfaltete und wirkte, war rigide hierarchisiert und sozial streng antagonistisch gegliedert. Die Macht lag bei einer kleinen Gruppe hochadliger Clans, sehr autoritär herrschende Fürsten-Familien im Verbund mit anderen Adelsschichten. Tempel und Mönche der Shinto-Religion und des Buddhismus hatten weltanschaulich bedeutenden Einfluss, wohl bis zum 16. Jahrhundert auch durch ihre starke Wirtschaftskraft. Die große Masse der Bauern, deren Produktion die ökonomische Grundlage des Systems war, blieb politisch-sozial völlig machtlos. Der als nahezu gottgleich angesehene Kaiser stand soziokulturell an der Spitze dieser Pyramide, hatte oft aber nicht die entscheidende politische Macht. Die lag zu Zeiten der Nō-Blüte bei den Spitzen des Adels, den Shōgunen und den Samurai.
Diese gesellschaftliche Gliederung wurde bis weit nach der Blütezeit des Nō kaum angetastet. Allerdings gab es scharfe Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden aristokratischen Gruppen um regionale und zentrale Machtstellungen. Die Geschichte Japans vom 12. Jahrhundert bis zum Ende des 16. Jahrhunderts war bestimmt durch enorme Spannungen, Unruhen und Verwüstungen adliger Machtkämpfe. Das Tokugawa-Shōgunat beendete diese Situation zu Beginn des 17. Jahrhunderts,...