Kritisieren
von Ilja Mirsky
Erschienen in: Lektionen 8: Neue Dramatik (10/2025)
Mitte Juni 2024 erreicht ein Schreiben von Wolfram Lotz ausgewählte Freund:innen und Kolleg:innen. Eingeleitet wird sein Essay mit folgenden Worten:
Ein paar Mal nur habe ich Tiere auf der Bühne eines Theaters gesehen. Es war meinem Körper aber jedes Mal deutlich, dass mit ihrem Auftreten etwas Wesentliches geschah.1
Der Dramatiker, Lyriker und Erzähler erklärt, dass sich seine Erlebnisse in diesen Momenten weder durch rationales Denken noch durch die gängige Literatur zu Authentizität und Präsenz erfassen ließen. Die darin aufscheinende neue Ästhetik blieb ihm verschlossen. Er schreibt: „[d]ass meine Augen, lang bevor ich es deuten konnte, für Momente die Möglichkeit zu einem Theater sahen, das mir nicht mehr auf grundsätzliche Weise monologisch erschien, sondern tatsächlich dialogisch.“2 Diese seit September 2024 auf Nachtkritik einsehbare und durchaus sehr persönliche Einschätzung, die Lotz auf wenigen Seiten ausführt, greift auf eine körperliche Erfahrung des Im-Theater-Sitzens zurück. Seine Gedanken können als systematische Kritik an einer bestimmten formellen Ausgestaltung des Theatermachens beschrieben werden, wobei „Kritik“ als die dem ursprünglichen Sinne des lateinischen Wortes „criticus“ zugrunde liegende Bedeutung von „trennen, sich auseinandersetzen oder entscheiden“ etymologisch hergeleitet werden kann: „Criticus“ ist die „latinisierte Fassung des griechischen Worts ‚κριτικός‘ (kritikós), das seinerseits vom Verb ‚κρίνω‘ (krinō)“ abstammt.3...