3.4. Der Herzog als Anamorphotiker
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Die Methoden des Herzogs sind denjenigen Angelos in den ersten beiden Akten strikt entgegengesetzt. Wo Angelo peinlich auf die Übereinstimmung von Wort und Tat, von Gesetzestext und juristischem Handeln pocht, da arbeitet der Herzog mit Lüge, Fehlinformation und der Vorspiegelung falscher Tatsachen. Wo Angelo bis zur Begegnung mit Isabella eine Divergenz zwischen seinem Selbstbild und seinem öffentlichen Ruf als unbestechlicher, keuscher Moralist nicht einmal für möglich hält und darum auch keinen öffentlichen Auftritt scheut, da verbirgt und verkleidet der Herzog sich, um erst im fünften Akt seine Rückkehr in einer grandiosen absolutistischen Staatsinszenierung zu zelebrieren. Wo es bei Angelo um diskursives Verhandeln geht, um juristische und moralische Debatten, da arbeitet der Herzog aus dem Verborgenen heraus mit Augentäuschungen, die nicht auf argumentatives Überreden zielen, sondern mit der affektiven Überzeugungs- und Überwältigungskraft des Sichtbaren kalkulieren, das sprachlos macht und keine weiteren Argumente verlangt. Auf diese Weise überlistet Vincentio auch seinen Stellvertreter gleich zweifach, einmal indem er ihm nicht Isabella, sondern die von Angelo einst sitzengelassene Mariana zum nächtlichen Stelldichein schickt, und dann als er ihm nicht Claudios abgeschlagenen Kopf zusenden lässt, sondern den des frisch verstorbenen Piraten Rogazino. (Der Stellvertreter hatte sich, inzwischen ganz »Aas« geworden, dazu entschieden, den Verurteilten trotz...