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Warum zivilgesellschaftliche Organisationen in Ungarn schwach sind, aber die einzige Möglichkeit demokratischen Handelns bieten. Eine Antwort auf den Aufruf „Stiftet Aufruhr!“
von - Human Platform – with 29 member organizations, Belletrist Association, Association of Independent Performing Artists, - Int. Association of Art Critics Section Hungary und Hungarian Theater Critics’ Association
Erschienen in: Theater der Zeit: Wölfin im Schafspelz – Die Schauspielerin Constanze Becker (05/2013)
Es ist richtig, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen der Kunstszene in Ungarn zwar aktiv und laut, aber recht schwach sind. Ihre Schwäche rührt daher, dass sie in den Medien unterrepräsentiert sind oder gänzlich fehlen. Es gelingt ihnen daher nur selten, ihre Ziele im Dialog mit der Politik durchzusetzen, wo sie überdies als Partner nicht gern gesehen sind. Das Ganze ist frustrierend. Vertreter von Ministerien und andere Entscheidungsträger halten es schlicht für nicht wichtig, einer Einladung zum Gespräch, wie der 2011 von dem unabhängigen Verband für darstellende Künste ausgesprochenen, zu folgen. Der Grund für die Schwäche der Verbände ist nicht zuletzt das schwierige Erbe der Vergangenheit: Die Mitglieder der freien Organisationen sind oft nicht weniger passiv und apathisch als die Gesellschaft insgesamt.
Nach den sozialen Umbrüchen der vergangenen Dekaden bildete sich in Ungarn weder eine demokratische Basis, geschweige denn eine Zivilgesellschaft heraus. Entsprechend spielten ihre Organisationen auch keine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Künste in einem neuen gesellschaftlichen Umfeld.
Nach den politischen Veränderungen um 1989 befanden sich die großen, etablierten Zivilorganisationen Ungarns in einer recht komfortablen Lage: Weder waren sie gezwungen, sich in dem neuen gesellschaftlichen Kontext neu zu erfinden, noch mussten sie sich modernisieren oder an andere Gegebenheiten anpassen. Einige von ihnen, wie die Hungarian Theatre Society, brachen auseinander oder verloren an Einfluss in ihrem jeweiligen Bereich. Da eine politische Kultur verbreitet war, die nicht erwarten ließ, dass sich auf der Basis nichtstaatlicher Organisationen eine repräsentative Demokratie gründen würde, wurde letztlich die persönliche Ausstrahlung des Einzelnen zum wichtigsten Instrument der Lobbyarbeit. Es ist symptomatisch, dass Organisationen wie die Budapest Theater Directors’ Association 2011 ihre Auflösung beschlossen, weil es erfolgsversprechender schien, sich privat für die eigenen Anliegen zu engagieren, als eine kollektive Interessenvertretung anzustreben. Wie einst in den Zeiten des alten Regimes setzen heute viele Künstlerinnen und Künstler wieder auf ihre Persönlichkeit, wenn es um persönliche oder institutionelle Ziele geht. Ein kollektives Engagement in zivilen Verbänden, Kooperation, die gemeinschaftliche Lösung von Problemen oder den Einsatz für gemeinsame Ziele gibt es nicht. Weiterhin mangelt es an Transparenz bei politischen Entscheidungen im Kultur- und Kunstsektor. Dies ist ebenso eine Folge des Niedergangs der politischen Kultur in der Zeit der liberalen und konservativen Regierungen wie die Tatsache, dass Künstlerinnen und Künstler heute meinen, dass politische Verhandlungen am besten mit individuellen Mitteln zu führen seien. Diejenigen Instrumente jedoch, die per Gesetz die rechtliche Grundlage für eine repräsentative Vertretung und Entscheidungsfindung darstellen, wurden und werden immer wieder je nach politischer Interessenlage revidiert.
Ein weiteres Problem ist die „Verdopplung“ der Organisationen. In fast allen künstlerischen Disziplinen wurden in den vergangenen Jahren neue Verbände gegründet – auf rein politischer Basis. Dies bedeutet, dass ihre Mitglieder (Einzelpersonen oder Institutionen) vor allem politische Interessen und Ansichten teilen. Heute gibt es daher praktisch in allen Bereichen mindestens zwei große Zusammenschlüsse, die der Einfachheit halber als „liberal“ bzw. „konservativ“ bezeichnet werden. Das heißt, mit der Entstehung der neuen konservativen Organisationen werden die in diesem Sektor bereits bestehenden Vereinigungen zu linken oder liberalen „umetikettiert“. Dabei fragt die Mitglieder niemand, ob sie einer derartigen Zuordnung zustimmen. Da der Einfluss einer Lobby immer von ihrer (angeblichen) politischen Orientierung abhängt, haben einige der „liberalen“ Gruppen kaum Einfluss auf die ihren Sektor betreffenden Beschlüsse. Auch haben sie natürlich kaum gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen.
Wir sind jedoch überzeugt, dass allein die Organisationen der Zivilgesellschaft politische Kontrolle ausüben können und gewährleisten, dass Politik und Künste interagieren. Es gibt im heutigen Ungarn allerdings für viele Zivilorganisationen keine Gewähr, dass sie diese Aufgabe auch erfüllen können. Denn:
1. Zivilorganisationen haben weder ein staatlich garantiertes Recht auf Teilhabe an Entscheidungsprozessen in künstlerischen Bereichen, noch sind sie gleichberechtigt in den entsprechenden Gremien, Ausschüssen, Kommissionen des Kulturministeriums, des ungarischen Kulturfonds und der Kommunen vertreten. Ihre Vorschläge für die Vergabe nationaler Preise bleiben unberücksichtigt. Es ist symptomatisch, dass von den fünf Mitgliedern des im Auftrag des Kulturministers fungierenden Theaterkuratoriums vier dem gleichen konservativen Verband angehören und nur einer die andere, sogenannte „liberale“ Vereinigung vertritt. Häufig werden die von freien Verbänden vorgeschlagenen Delegierten, wie zuletzt im Fall der Association of Independent Performing Artists oder der Hungarian Theater Critics’ Association, abgelehnt.
Die Legitimität dieser Gremien und Ausschüsse ist oft höchst zweifelhaft. Das Gleiche gilt für die von ihnen getroffenen Entscheidungen. Freie Verbände haben kaum Chancen auf Gleichberechtigung.
Entsprechend basieren auch die im Kultursektor verabschiedeten Gesetze nur auf einer formalen bzw. nichtexistenten Zusammenarbeit mit zivilen Organisationen. Das kürzlich modifizierte Theatergesetz wurde ohne jegliche Verständigung mit den betroffenen Berufsgruppen innerhalb von drei Monaten durchgepeitscht. Die Belletrist Association verzichtet 2013 darauf, einen Vorschlag für die Vergabe des nationalen Literaturpreises zu machen.
2. Zivile Organisationen sind auch in den Medien zunehmend seltener vertreten. Zu den öffentlichen Medien haben viele als liberal oder links geltende Verbände keinen Zugang. Insofern entspricht die Art und Weise, wie sie in diesen Medien dargestellt werden, auch nicht der Realität. Eine größere Öffentlichkeit, Kritik an der Politik und echte gesellschaftliche Debatten über Kultur sind jedoch ohne Medienpräsenz nicht möglich. Ein Beispiel: Laut einer aktuellen Studie sind bis auf eine Ausnahme die Regierungsparteien in den Abendnachrichten aller TV-Sender überrepräsentiert. In achtzig Prozent aller Fälle werden Berichte nur in Verbindung mit dem Kommentar eines Regierungsvertreters ausgestrahlt. Zu ähnlichen Ergebnissen kam die Untersuchung einer der tradiertesten und populärsten Nachrichtensendungen des Landes, ausgestrahlt in einem öffentlich-rechtlichen Radiosender.
Die zivilen Organisationen bemühen sich dennoch weiter um den Dialog mit Entscheidungsträgern und Politikern, auch wenn sie kein größeres Publikum erreichen und die Chance, dass sie die Politiker davon überzeugen können, dass eine erfolgreiche Politik sie braucht, gering ist. In den vergangenen zwanzig Jahren ist es nicht gelungen, eine starke Gemeinschaft mit starken Lobbyverbänden im Sektor der Kunst aufzubauen. Dies gilt es zu konstatieren – oder optimistisch und selbstbewusst als Arbeitsauftrag zu formulieren. Einige Organisationen haben bereits einen Anfang gemacht. Eine Alternative zu solch einem Handeln in einer Demokratie sehen wir nicht.
Association of Independent Performing Artists
Belletrist Association
Human Platform – with 29 member organizations
Hungarian Theater Critics’ Association
International Association of Art Critics Section Hungary
József Attila Circle Literary Association of Young Writers
tranzit.hu – a network of autonomous initiatives in contemporary art in at/cz/h/ro/sk
Übersetzung aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese.