2 Kontingenz als Kennzeichen einer entstehenden Textfassung
von Julia Kiesler
Erschienen in: Recherchen 149: Der performative Umgang mit dem Text – Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater (09/2019)
2.1 Textauswahl, Textreihenfolge, Textzuschreibung
Das Textkorpus des Workshops von Laurent Chétouane bilden die 154 Sonette William Shakespeares. Im Unterschied zu den beiden anderen Produktionen gibt es hier keine vorab getroffene Auswahl der Texte durch den Regisseur oder gar eine Art „Textbuch“. Das Textmaterial für den Workshop generiert sich erst im Lauf der Probenarbeit aus Shakespeares 1609 erschienenem Sonettzyklus.
Die Studierenden erhalten am Ende des zweitägigen Vortreffens (vgl. S. 107 ff.) von Chétouane die Aufgabe, bis zum Probenbeginn jeweils fünf Sonette von Shakespeare auszuwählen und diese auswendig zu lernen. Auf welche deutsche oder französische Übersetzung sie zurückgreifen, wird nicht thematisiert und ist ihnen somit freigestellt. Hier tritt aus meiner Sicht ein Widerspruch hervor: Ging es in der Ankündigung des Workshops darum, die Sophokles-Tragödien speziell in der Übertragung und Sprache Hölderlins zu erforschen, soll es nun darum gehen, die Sprache Shakespeares zu erforschen. Die Originaltexte sind jedoch in englischer Sprache verfasst und liegen der Arbeit als Textmaterial nicht zugrunde. Es existieren zahlreiche Übersetzungen der Shakespeare-Sonette, die nicht nur unterschiedliche sprachliche Qualität besitzen, sondern durch ihre Bearbeitung jeweils verschiedene inhaltliche Zugänge zutage fördern. So wird denn hier die Auswahl der Übersetzungen eher dem Zufall überlassen bzw. erfolgt intuitiv und, zumindest auf Studierendenseite, durch...