Protagonisten
Sechzig Tonnen Stahl
Das Kasseler Staatstheater ist vielversprechend in die erste Spielzeit unter seinem neuen Intendanten Florian Lutz gestartet – mit einer spektakulären Raumbühne und ambitionierten Uraufführungen
Erschienen in: Theater der Zeit: Kleiner Mann, was nun? – Geschlechterbilder im Theater – Ein Jahresrückblick (12/2021)
Assoziationen: Akteure Staatstheater Kassel
Es ließe sich jetzt räsonieren über Reizüberflutungen, über Spektakel, über die Revolution des Theaterraums. Man kann aber auch erst einmal nur festhalten: Wow. Wow ist der erste Gedanke beim Erklimmen des „Pandaemoniums“, das Neu-Intendant Florian Lutz zum Auftakt seiner ersten Spielzeit am Kasseler Staatstheater ins Opernhaus hat bauen lassen. Ein Gerüst aus sechzig Tonnen Stahl, errichtet auf der Bühne und um die Bühne herum, das das Publikum drei Etagen hoch ganz nah ans Geschehen holt. Oder auch mitten hinein. Umrahmt von Bildschirmen und Leinwänden, auf denen live übertragen wird, was gerade in einem der vielen toten Winkel dieses, hui!, „Musiktheaterparlaments“ passiert.
Das erinnert nicht ohne Grund an die viel beachtete Raumbühne, mit der Lutz vor fünf Jahren in seine kurze und konflikthaft beendete Intendanz an der Oper Halle startete. Das Kasseler „Pandaemonium“ wurde wie die Hallenser „Heterotopia“ von dem preisgekrönten Bühnenbildner Sebastian Hannak geschaffen, den Lutz an neuer Wirkungsstätte nun sogar zum Hausszenografen ernannt hat. Was Hannak zu seinem Einstand am Staatstheater entworfen hat, fällt zwar etwas weniger radikal aus als in Halle, weil er auf ein Überbauen auch noch des Parketts diesmal verzichtet hat. Doch für den munteren Bruch mit Konventionen und Sehgewohnheiten reicht es allemal. Und zum Ansatz von Florian Lutz, das Publikum nicht einfach bloß zuschauen zu lassen, sondern es zum Teil der Inszenierung zu machen, steht eine solche Raumbühne in geradezu symbiotischem Verhältnis.
Hostessen (m/w/d) in himmelblauen Uniformen empfangen die Zuschauerinnen und Zuschauer schon im Foyer, als die Spielzeit mit Alban Bergs atonaler Oper „Wozzeck“, vom Intendanten selbst inszeniert, eröffnet wird. „Herzlich willkommen in unserem Demokratie-Testzentrum“, säuseln sie und laden die Gäste zu einer Online-Abstimmung über die drängendsten politischen Themen ein. Und ob man eigentlich schon Biofuel kenne, „den revitalisierenden Powerdrink mit allen Nährstoffen des täglichen Bedarfs“?
Lutz macht Wozzeck, den Getriebenen und Ausgebeuteten, den seine Dienstherren demütigen und den seine Frau betrügt, höchst gegenwärtig zum prekär beschäftigten Auslieferungsfahrer von Biofuel – einer dubiosen Getränkefirma, deren Chef als populistischer Politiker an einer dystopischen Zukunft der Totalüberwachung schraubt, unter dem Deckmantel von guter Gesundheit und Ernährung. Da werden die Akte der Oper zu „Real Life Challenges“, mit den Bühnenfiguren als Testpersonen des Unternehmens, und dazwischen stimmt das Publikum über Gesetzesvorhaben des Politikerunternehmers ab. Das mag nicht gerade übertrieben subtil sein. Aber so frech ist es, so gewitzt, so unterhaltsam auch, dass man irgendwo zwischen Faszination und ungläubigem Staunen stecken bleibt und nurmehr zu denken vermag: Wow.
Das Experiment kehrt zurück
Nicht weniger als 17 Jahre lang wurde das Staatstheater in der Documenta-Stadt von Thomas Bockelmann geleitet. Er konsolidierte das Dreispartenhaus, gewann Publikum zurück, das unter seinem streitbaren Vorgänger Christoph Nix verloren gegangen war, und schaffte das Kunststück, sowohl die Stadtgesellschaft als auch die staatlichen und kommunalen Theaterträger dauerhaft für sich einzunehmen. Verlässlich lieferte er ab, zugleich solide und auf künstlerisch beachtlichem Niveau. Echte Überraschungen aber wurden irgendwann rar. Unter seinem Nachfolger Florian Lutz scheint jetzt der Mut zum Experiment nach Nordhessen zurückzukehren. Der 42-Jährige hat ein junges, ambitioniertes Leitungsteam um sich geschart, dem er, wie es heißt, weitgehend freie Hand lässt. Es wird, so viel darf man nach den ersten Wochen begründet annehmen, das Kasseler Publikum fordern, mit neuen Ideen, neuen Wegen, einer neuen Ästhetik.
Für das Schauspiel verantwortlich ist Patricia Nickel-Dönicke, die, selber Jahrgang wie der Intendant, noch zu den Älteren im Team gehört. „Ich habe keine Angst vor alten weißen Männern“, sagt die Schauspieldirektorin und meint damit erst einmal: Autoren. Für die Saisoneröffnung im Schauspiel aber wählte sie bewusst das Werk einer Frau, inszeniert von einer Frau. Einer jungen Frau: Mina Salehpour, geboren 1985 in Teheran, zeigt eine auf gut anderthalb Stunden verdichtete Interpretation des neunzig Jahre alten Romans „Die gute Erde“ der amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Pearl S. Buck.
Streng choreografiert, nur gelegentlich etwas überästhetisiert erzählt Salehpour die Geschichte des Reisbauern Wang Lung, der seinen Landbesitz über alles stellt, der ohne Rücksicht gegen sich und seine Familie zum Großgrundbesitzer aufsteigt und der doch nicht verhindern kann, dass sein Lebenswerk mit ihm verschwinden wird. Starke, poetische Bilder findet sie für dieses ganz um die eigene Scholle kreisende Leben und Denken, für ein Dasein, das sich ganz der Natur ausliefert, mit ihren Dürren und Überschwemmungen.
Taue auf der leeren und dunklen Bühne werden aufgerollt zu Brunnen, ausgelegt zu den Furchen eines Ackers und wild wogend zu den Fluten des über die Ufer tretenden Flusses (Bühne Andrea Wagner). Die Schauspielerinnen und Schauspieler sind verbunden in einer Art Tanz mit den Elementen, uniform gekleidet, austauschbar. In dieser Welt zählt allein die Arbeit, nicht das Menschsein. Und Frauen wird nur dann ihr Recht zu leben gelassen, wenn sie als Arbeits- oder Sexsklavin taugen.
Patricia Nickel-Dönicke ist vom Theater in Oberhausen nach Kassel gekommen, und sie hat von dort nicht nur einige Ensemblemitglieder mitgebracht, sondern auch eine Produktion, die wegen der Corona-Pandemie nicht mehr wie geplant zur Uraufführung kommen konnte. Auch sie ist düster, auch sie ist sperrig, auch sie ist kein Selbstläufer, mit dem man sich bei einem neuen Publikum leicht lieb Kind macht: Lars-Ole Walburg, der sich schon in seiner Zeit als Intendant am Schauspiel Hannover intensiv mit dem Werk von Erich Maria Remarque auseinandergesetzt hat, hat eine Bühnenfassung von Remarques KZ-Roman „Der Funke Leben“ entwickelt.
Um ein fiktives nationalsozialistisches Konzentrationslager in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs geht es darin. Um Gefangene, die, weil nicht mehr arbeitsfähig, eigentlich dem Tod geweiht sind. Um sadistische SS-Leute. Und um das Herannahen der Alliierten, das die Verhältnisse umzukehren beginnt: Was beim Wachpersonal Unruhe auslöst, weckt bei den Lagerinsassen den Mut zum Widerstand und lässt sie an etwas denken, was jahrelang undenkbar war: an ein Leben nach dem KZ.
Sie rennen, sie stürzen. Sie drängen sich zusammen, ängstlich und wachsam. Sie tänzeln, kraftlos und irre, tasten sich vorwärts, rutschen aus, endlos. Während der tiefe morastige Boden ihre Kleidung und ihre Gesichter immer schmutziger färbt, fast bis zur Ununterscheidbarkeit. Walburgs Inszenierung stellt die Gefangenen, ihren Todeskampf und wiedererwachenden Überlebenswillen in den Vordergrund. Doch statt sich in einem vergeblichen Versuch des Nachspielens zu verrennen, bleibt er beim Originalton des Romans und lässt dazu eindringliche Bilder entstehen – für die Entmenschlichung und Entindividualisierung im Lager, aber auch für die Solidarität unter den Insassen. Darüber schwebt eine schwankende Spiegelfläche, die das Geschehen unsicher reflektiert (Bühne Andreas Strasser). Geschichte und Erinnerung, mahnt uns das, sind nie in Stein gemeißelt. Sondern immer umkämpft.
Beide Romanbearbeitungen sind disziplinierte Ensembleleistungen, eher Lehrstück als individuelle Charakterzeichnung. Den beteiligten Schauspielerinnen und Schauspielern, fünf sind es jeweils, gibt das wenig Möglichkeit zu glänzen. Wie groß das schauspielerische Potenzial ist, das in dem teils übernommenen, überwiegend aber neu besetzten Ensemble steckt, deutet eine dritte Uraufführung an. Auf der kleinen Bühne im Fridericianum nimmt sich Bert Zander der beiden wohl größten alten weißen Männer des deutschen Theaters an: des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe und seines „Faust“.
Den Titel strich der Regisseur dabei jedoch gleich wieder durch und ersetzte ihn durch „Gretchen“. „FAUST Gretchen“ also. Die „theatrale Videoinstallation“, wie Zander sein Projekt genannt hat, erzählt den klassischsten aller deutschen Klassiker neu, aus der Perspektive von Margarethe, dem minderjährigen Mädchen, das, von Faust bedrängt, verführt und geschwängert, zur Kindsmörderin wird. Die Verletzlichkeit und Stärke, die Power und Präsenz, mit der Emilia Reichenbach diese Margarethe spielt, sehr laut und sehr leise, zugleich Kind und selbstbewusste Frau, gerade noch singend mit zerbrechlicher Stimme, dann schon wieder tanzend mit erhobenem Haupt: Das ist schlicht bravourös.
Ganz allein steht sie auf der Bühne, mitten im Publikum, und spielt an gegen erdrückend große Videoleinwände in allen vier Himmelsrichtungen. Mehr als fünfzig Kasseler Bürgerinnen und Bürger haben – erster sichtbarer Ausdruck der vom neuen Leitungsteam proklamierten Öffnung des Theaters zur Stadtgesellschaft – vor der Kamera an der Produktion mitgewirkt, haben, als wäre man im Dokumentarfilm, die Geschichte von Faust und Gretchen in Bruchstücken zusammengetragen. Reichenbach sieht sich aber auch selbst, wie sie in gezeichneten Papierkostümen spöttisch die Lippen bewegt zum Ton der legendären „Faust“-Inszenierung mit Will Quadflieg und Gustaf Gründgens. Noch zwei so alte weiße Männer, denen ein wenig Ironisierung guttut.
Goethes „Faust“ als Beitrag zur „MeToo“-Debatte, das muss man sich erst einmal trauen. Das neue Kasseler Staatstheater aber kennt da keine Scheu. Haltungen sind dafür da, gezeigt zu werden. Und Botschaften dürfen gerne unmissverständlich ausfallen. Das ist erfrischend, durchaus. Nur manchmal wird es allzu pädagogisch. Damit man versteht, was es anrichtet, wenn der Mensch die Natur ausbeutet, kommt in „Die gute Erde“ ziemlich unvermittelt der amerikanische Naturschutzpionier Aldo Leopold zu Wort. Und am Ende von „Der Funke Leben“ ist auf bühnenhoch projizierten Texttafeln vom rechten Kampfbegriff des „Schuldkults“ zu lesen, und es wird erklärt: „Mit der Verdrängung der NS-Zeit werden nationalistische politische Ziele angestrebt.“ Das ist zwar unbestreitbar richtig. Aber, vorsichtig formuliert, auch ein wenig über-deutlich. //