1 Zum Begriff des zeitgenössischen Theaters
von Julia Kiesler
Erschienen in: Recherchen 149: Der performative Umgang mit dem Text – Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater (09/2019)
Vor dem Hintergrund der Performativität kultureller Prozesse untersucht die vorliegende Studie nicht in erster Linie Aufführungsprozesse, sondern Probenprozesse unter dem Aspekt der Texterarbeitung. Es werden performative Ansätze der Textarbeit herausgearbeitet sowie die damit im Zusammenhang stehenden Anforderungen, vor denen die Schauspielerinnen und Schauspieler im Zuge dieser Herangehensweisen standen. Um zu erläutern, was unter einem „performativen Umgang mit dem Text“ überhaupt zu verstehen ist, widmet sich das folgende Kapitel dem Begriff der „Performativität“. Im Zentrum stehen das Klären von Begrifflichkeiten und die Einordnung der Arbeit in die theater- und sprechwissenschaftliche Forschung. Nachdem zunächst der Begriff des „zeitgenössischen Theaters“ in Abgrenzung zum Begriff des „postdramatischen Theaters“ begründet wird, soll anschließend ein Verständnis des Begriffs „performativ“, wie er im Rahmen der hier vorliegenden Untersuchung Anwendung findet, etabliert werden.
Das zeitgenössische Theater zeichnet sich durch eine Vielzahl an Arbeitsweisen, Darstellungsformen und, damit verbunden, auch Sprechweisen aus. Die Grenzen zwischen Theater, Performance, Tanz, bildender Kunst, Musik und der Arbeit mit neuen Medien sind schon seit einiger Zeit fließend geworden. Nicht mehr der Text steht im Zentrum zeitgenössischer Inszenierungen, sondern theatrale Zeichen wie Licht, Raum, Bühnenbild, Körper, Bewegung, Stimme, Zeit und Musik treten als gleichberechtigte Elemente einer Inszenierung nebeneinander. Text tritt als gesprochene Sprache in besonderer...